08.06.2015
Herausforderungen der sprachlichen Gleichstellung in der Bundesverwaltung
Warum sind Deutschsprachige in zahlreichen Ämtern und Kaderpositionen der Bundesverwaltung übervertreten? Und: Welche Massnahmen hat der Bund ergriffen, um dies zu ändern? Die erste wissenschaftliche Analyse der Personalrekrutierung in der Bundesverwaltung zeigt Gründe für sprachliche Ungleichheit und Lösungswege auf.
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Die angemessene Vertretung der Sprachgemeinschaften und die Förderung der Mehrsprachigkeit in der schweizerischen Bundesverwaltung sind von hohem staatspolitischem Interesse. Ihre Mitarbeitenden sollen sich mit den Einwohnerinnen und Einwohnern aller Sprachregionen verständigen können und für ihre unterschiedlichen Bedürfnisse sensibilisiert sein. So sieht es das Konzept der repräsentativen Verwaltung vor.
"Mehrsprachigkeit" ist in vielerlei Hinsicht ein zentrales Thema auf der politischen Agenda, als Beispiel sei auf die derzeit besonders virulente Diskussion um die Mehrsprachigkeit an der Volksschule verwiesen. Seit Jahrzehnten sorgen aber auch die angemessene Vertretung der Sprachgemeinschaften und die Förderung der Mehrsprachigkeit in der Bundesverwaltung für Schlagzeilen, insbesondere in den Medien der französisch- und italienischsprachigen Schweiz.
Das Gewicht der deutschsprachigen Mehrheit
Die Sprachenverordnung von 2010 beinhaltet Sollwerte für die Vertretung der vier nationalen Sprachgemeinschaften in der Bundesverwaltung. Entsprechende Mehrsprachigkeitsweisungen existieren bereits seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Trotz dieser Massnahmen sieht die Realität in der Bundesverwaltung anders aus: In den meisten Verwaltungseinheiten überwiegen die Deutschsprachigen. Vor allem im höheren Kader geben sie den Ton an.
Das vorliegende Buch zeigt:
• Unabhängig von der Departementszugehörigkeit ist in der Mehrheit der nachgeordneten Verwaltungseinheiten (d.h. Bundesämter und weitere Verwaltungsabteilungen) eine Übervertretung der Deutschsprachigen festzustellen. Diese Übervertretung steigt mit der Lohnklasse.
• Die Dezentralisierung der Verwaltungseinheiten in die französisch- und italienischsprachige Schweiz trägt zu einer ausgeglicheneren sprachlichen Zusammensetzung der Belegschaft bei. Im höheren Kader (insbesondere ab Lohnklasse 30) haben die Deutschsprachigen jedoch Vorteile.
• Die Rekrutierungsverantwortlichen bewegen sich in einem Spannungsfeld zwischen Ideal und Praxis: Trotz nicht diskriminierender Ausschreibung ist das sprachliche Wunschprofil der Rekrutierungsverantwortlichen von der Erfahrung einer primär deutsch- und sekundär französischsprachig funktionierenden Verwaltung geprägt. Die Dossierpräsentation von deutschsprachigen Bewerbenden wird tendenziell bevorzugt. Ebenfalls vorteilhaft für Deutschsprachige: Französisch- oder italienischsprachige Bewerberinnen und Bewerber sind in Bewerbungsgesprächen häufiger mit Deutsch konfrontiert als deutschsprachige Bewerberinnen und Bewerber mit Französisch oder Italienisch.
• Italofone leisten den grössten sprachlichen Beitrag, damit eine mehrsprachige Verwaltung gewährleistet ist, indem sie in der Regel in deutscher oder französischer Sprache kommunizieren.
Die Untersuchung macht folgende Verbesserungsvorschläge:
• Die Vorstellungsgespräche sollten so organisiert sein, dass möglichst vergleichbare Bedingungen für die Kandidierenden unterschiedlicher Erstsprache herrschen.
• Die sprachlichen Sollwerte sollten derart ausgestaltet werden, dass sie tatsächlich umsetzbar sind und ernst genommen werden. Das hiesse, dass sie den sprachregionalen Standorten und Einzugsgebieten, der Grösse und, falls möglich, auch den Aufgabenbereichen der Verwaltungseinheiten angepasst werden müssten.
• Um die Gleichstellung des Italienischen zu gewährleisten, müssten deutlich mehr Anstrengungen unternommen werden, Italienischsprachige in Verwaltungseinheiten ausserhalb des Tessins anzustellen und um die Italienischkompetenzen der übrigen Bundesangestellten zu erhöhen.
"Mehrsprachigkeit verwalten?" ist die erste umfassende wissenschaftliche Darstellung über die Vertretung der Sprachgemeinschaften und zur Förderung der Mehrsprachigkeit in der Bundesverwaltung. Sie fokussiert besonders auf die Analyse des Personalrekrutierungsprozesses. Dieser ist ein Schlüsselmoment bei der Umsetzung einer angemessenen Vertretung der Sprachgemeinschaften in der Bundesverwaltung. Methodisch stützt sich die Studie auf umfangreiches statistisches Material, auf die Resultate einer Umfrage innerhalb der Bundesverwaltung sowie auf eine ethnografische Forschung anlässlich von konkreten Stellenbesetzungen beim Bund (inkl. systematische Auswertungen von Bewerbungsdossiers und Interviews mit Vorgesetzten und Personalverantwortlichen des Bundes).
Das Wissenschaftliche Kompetenzzentrum für Mehrsprachigkeit (KFM) ist am Institut für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg und der Pädagogischen Hochschule Freiburg angesiedelt. http://www.zentrum-mehrsprachigkeit.ch/kfm/
Das Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) ist ein Forschungszentrum der Universität Zürich und der Fachhochschule Nordwestschweiz mit Sitz in Aarau. www.zdaarau.ch
Literatur:
Renata Coray, Emilienne Kobelt, Roman Zwicky, Daniel Kübler, Alexandre Duchêne (2015): Mehrsprachigkeit verwalten? Spannungsfeld Personalrekrutierung beim Bund. Zürich: Seismo, ISBN: 978-3-03777-160-0. Buchbestellung: www.seismoverlag.ch/
Für Rückfragen:
Dr. Renata Coray, Projektleiterin Kompetenzzentrum für Mehrsprachigkeit, Universität Freiburg - PH Freiburg, 026 305 61 79 (Di, Mi, Fr), 044 380 18 68 (Mo, Do); renata.coray@unifr.ch
Prof. Dr. Daniel Kübler, Direktionsvorsitzender ZDA, 078 815 67 60 (jeweils ab 17:00 Uhr erreichbar); daniel.kuebler@zda.uzh.ch