Panorama Gesellschaft Schweiz 202017.08.2020
Migration: Grosse Vielfalt, ungleiche Integrationsverläufe
Bei den Zugewanderten in die Schweiz bestehen beträchtliche Unterschiede hinsichtlich Bildungshintergrund, beruflicher Situation, Alter, Migrationsstatus und Herkunftsländer. Überdies zeigt sich, dass die Integration in den Arbeitsmarkt rasch erfolgt, aber nicht vollständig gelingt und die Haushalte mit Migrationshintergrund ein niedrigeres Einkommen und Vermögen haben. Ein grosser Teil der Zugewanderten verlässt zudem die Schweiz wieder. Dies geht aus der ersten Ausgabe der Publikationsreihe Panorama Gesellschaft Schweiz hervor, die vom Bundesamt fu?r Statistik (BFS) sowie den Universitäten Neuchâtel und Freiburg herausgegeben wird.
In der vorliegenden Publikation untersuchen Fachleute aus dem universitären Bereich und der öffentlichen Statistik ausgewählte Aspekte des Themas Migration, Integration und Partizipation. Präsentiert werden zu einem grossen Teil – aber nicht ausschliesslich – Forschungen u?ber die arbeitsmarktgetriebene Zuwanderung aus EU/EFTA-Ländern.
Über ein Drittel der Bevölkerung hat einen Bezug zur Migration
Das BFS unterscheidet drei Kategorien von Migrantinnen und Migranten und ihren Nachkommen, wie Florence Bartosik in Kapitel 1 darstellt. Die Bevölkerung mit ausländischer Staatsbu?rgerschaft umfasst rund 2,1 Mio. Personen (25% der Gesamtbevölkerung), die im Ausland geborene Bevölkerung rund 2,6 Mio. Personen (30%) und die Bevölkerung ab 15 Jahren mit Migrationshintergrund rund 2,7 Mio. Personen (38%). Mit dem vom BFS entwickelten Indikatorensystem wird die Integration der Bevölkerung mit Migrationshintergrund gemessen. Ein Resultat unter vielen ist, dass die Zugewanderten den höchsten Anteil an Personen mit einem Bildungsabschluss auf Tertiärstufe aufweisen.
Unterschiede verringern sich, werden aber nicht vollständig abgebaut
Um die Migrationsverläufe zu untersuchen, sind Längsschnittanalysen unerlässlich. Dies zeigt Philippe Wanner in Kapitel 2. Dabei wird deutlich, dass sich die Integration in die schweizerische Gesellschaft in Bezug auf den Arbeitsmarkt, die Sprache und die soziale Teilhabe mit fortschreitender Aufenthaltsdauer verbessert. Die Unterschiede im durchschnittlichen Erwerbseinkommen zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrund verringern sich vor allem in den ersten Aufenthaltsjahren deutlich (um ca. 10–15 Prozentpunkte). Allerdings verliert dieser Trend insbesondere bei Männern und nach einer Aufenthaltsdauer von 5 Jahren erheblich an Kraft. Zudem bestehen je nach Herkunft und soziodemografischen Merkmalen grosse Differenzen.
Dieser Befund wird in Kapitel 3 von Sandro Favre, Reto Föllmi und Josef Zweimu?ller bestätigt. So erhöht sich die im Jahr der Zuwanderung deutlich niedrigere Erwerbstätigenquote bei Migrantinnen und Migranten mit zunehmender Aufenthaltsdauer: Während ihre Erwerbsbeteiligung im Jahr der Einwanderung erheblich unter derjenigen der in der Schweiz geborenen Personen liegt, verringern sich diese Unterschiede im Laufe des Aufenthalts, ohne jedoch vollständig zu verschwinden (nach 5 Jahren von 16 Prozentpunkten auf 4 Prozentpunkte bei den Männern, von 37 auf 13 Prozentpunkte bei den Frauen). Ein Drittel der Zugewanderten verlässt die Schweiz im ersten Jahr wieder, während die Hälfte länger als drei Jahre bleibt.
Niedrigeres Einkommen und Vermögen der Haushalte mit Migrationshintergrund
In Kapitel 4 vergleichen Laura Ravazzini, Christoph Halbmeier und Christian Suter Einkommen und Vermögen von Haushalten mit und ohne Migrationshintergrund in der Schweiz und in Deutschland: Haushalte mit Migrationshintergrund weisen in beiden Ländern ein niedrigeres verfu?gbares Äquivalenzeinkommen und ein tieferes Vermögen auf. Ein wichtiger Faktor ist, dass Haushalte mit Migrationshintergrund im Allgemeinen grösser sind und somit Einkommen und Vermögen mit mehr Personen teilen als Haushalte ohne Migrationshintergrund. Haushalte mit Migrationshintergrund weisen auch eine niedrigere Wohneigentumsquote auf. Dabei verfu?gen sie in der Schweiz im Vergleich zu Deutschland seltener u?ber Wohneigentum.
Beiträge an Sozialversicherungen u?bersteigen die Bezu?ge
Der Beitrag der Migrationsbevölkerung zum Schweizer System der sozialen Sicherheit variiert je nach Teilbereich (z.B. AHV, ALV, Sozialhilfe). Diverse Studien zeigen jedoch, dass Zugewanderte unter dem Strich mehr beitragen, als sie an Leistungen beziehen, und dass ihre Steuerbeiträge einen positiven Einfluss auf das Bruttoinlandprodukt haben, wie Monica Budowski, Eveline Odermatt und Sebastian Schief in Kapitel 5 darlegen. Die länderu?bergreifende Übertragbarkeit von Sozialleistungen ist bei der Ru?ckwanderung teilweise ein Problem. Hier spielen Sozialversicherungsabkommen eine wichtige Rolle. Zudem ist es fu?r Migrantinnen und Migranten zum Teil schwierig, sich im komplexen Sozialsystem zurechtzufinden.
Erhebliche kantonale Unterschiede bei der Binnenwanderung und beim Zugang zum Bu?rgerrecht
Der Binnenwanderung widmet sich Jonathan Zufferey in Kapitel 6. Seine Untersuchungen zeigen, dass jedes Jahr rund 9% der Bevölkerung der Schweiz ihren Wohnsitz wechseln und dass eine Person in ihrem Leben durchschnittlich 7,5-mal umzieht. Die Umzu?ge finden jedoch hauptsächlich innerhalb der Gemeinden statt. Binnenwanderungen u?ber mehr als 100 Kilometer machen lediglich 2% der Fälle aus. Sehr selten sind Wanderungen u?ber die Sprachgrenzen hinweg. In Kantonen mit grossen Agglomerationen gibt es vergleichsweise weniger Wegzu?ge. Junge Personen und Personen mit Migrationshintergrund wechseln ihren Wohnort besonders häufig.
In Kapitel 7 beleuchten Marion Aeberli und Gianni D’Amato, wie sich der Zugang zum Bu?rgerrecht kantonal unterscheidet und welche Faktoren die administrative Praxis der Integrationspolitik beeinflussen: Je liberaler ein Kanton auf politischer Ebene ausgerichtet ist, desto wahrscheinlicher ist eine inklusivere Praxis. In Kantonen mit hoher Diversität und hohem Urbanisierungsgrad ist die Bevölkerung liberaler und gegenu?ber kultureller Vielfalt positiver eingestellt als in anderen Kantonen. Der Einbezug von individuellen Faktoren zeigt, dass die Einstellung zu Diversität mit den Lebensbedingungen, der Migrationserfahrung und der politischen Haltung zusammenhängt.