19.08.2005

Mehrsprachigkeit im Fokus


Vom 8. bis 10. September 2005 treffen sich in Freiburg Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus allen Ländern, um sich über ein Thema auszutauschen, das in einer zusehends globalisierten Welt immense Bedeutung hat: die Mehrsprachigkeit. Claudine Brohy, Ko-Organisatorin des L3-Kongresses und Lektorin am Lern- und Forschungszentrum LeFoZeF, über Klientel und Inhalte des internationalen Treffens in Freiburg, Chancen und Herausforderungen des Multilinguismus.

Frau Brohy, Sie sind perfekt bilingue, publizieren aber nicht nur auf Deutsch und Französisch, sondern auch auf Englisch. Ist ein Trilinguismus dieser Art für Forschende heutzutage ein Muss? Was „perfekt bilingue" bedeutet, lassen wir mal so im Raum stehen. Es stimmt, dass das Englische sich zum modernen Latein gemausert hat. Die Forderung nach Dreisprachigkeit - Muttersprache, Partnersprache oder Nachbarsprache plus internationale Sprache, sprich Englisch - ist nicht neu, neu ist der immer schnellere Informationsfluss dank oder wegen der Globalisierung und der Informationstechnologien. Aber es zeichnen sich ganz unterschiedliche Muster der Mehrsprachigkeit ab, z. B. produktive Kompetenzen (Sprechen und Schreiben) in zwei oder drei Sprachen, und rezeptive Kompetenzen (Hörverstehen und Lesen) in weiteren Sprachen. Viele Forschende publizieren in bestimmten Sprachen, lesen aber wissenschaftliche Publikationen in bedeutend mehr Sprachen. Die deutsch/französische Bilingualität empfinde ich dabei als echte Schlüsselzweisprachigkeit: Der Zugang zum Englischen als germanische Sprache mit bedeutendem romanischem Einfluss ist erleichtert, und die zahlreichen Sprachen der grossen germanischen und romanischen Sprachfamilien sind vielleicht nicht ein Geschenk, aber sie sind auf jeden Fall zugänglicher. Messina und Malmö rücken näher! Dann bleibt zu hoffen, dass Forschende, die sich mit der interdisziplinären Domäne der Mehrsprachigkeit befassen, diese auch (er)leben. Forschende aus ca. 40 Ländern werden sich Anfang September über die Mehrsprachigkeit austauschen. Gibt es unter den anwesenden Ländern solche, deren Situation mit derjenigen in der Schweiz vergleichbar ist? Am L3-Kongress wird die gesellschaftliche und institutionelle Mehrsprachigkeit angesprochen, die nebst der individuellen eine wichtige Rolle spielt. Jedes mehrsprachige Land regelt seine Sprachenpolitik im Rahmen seiner politischen Kultur und seines politischen Systems, die sprachliche Gouvernanz ist Teil der allgemeinen Gouvernanz. So kann man Lösungen anderer Länder schlecht importieren, aber man kann sehr wohl austauschen und gemeinsam nach Lösungen suchen. Belgien, Finnland, Kamerun, Italien, Kanada, Luxemburg, Schweden, Singapur, Spanien sind mehrsprachige Länder, die am Kongress zugegen sein werden und die eine offizielle Mehrsprachigkeit als Prinzip haben. Dabei gibt es solche, die sich stärker an der Sprachenfreiheit und solche, die sich am Territorialprinzip orientieren, einige haben viele und sehr explizite Sprachgesetze und Verfügungen, andere kommen mit wenigen aus. Auch dies widerspiegelt jeweils ein System. Gewisse Länder verfügen zwar nicht über eine voll ausgebaute amtliche Mehrsprachigkeit, gewähren aber regional Minderheitenrechte, z. B. auf Schulebene. Schliesslich betreiben auch offiziell einsprachige Länder Sprachpolitik im Rahmen der Schulsprachenpolitik, dazu gehören Fragen wie das Angebot an Zweit- und Fremdsprachen und deren obligatorischer oder fakultativer Status. Auch gibt es in allen Ländern eine migrationsbedingte Mehrsprachigkeit. Diese nicht-territorialiserten Sprachen geniessen je nach Land eine unterschiedliche Anerkennung (Erhalt und Ausbau der Herkunftssprachen in der Schule, begrenzter Gebrauch von Migrationssprachen wie z. B. für die Fahrprüfung). Die Schweiz wird immer als das mehrsprachige Land par excellence bezeichnet. Seien wir ehrlich: In Tat und Wahrheit verfügt ein Grossteil der Einwohner lediglich über Basiskenntnisse in der anderen Sprache. Was läuft schief? Wenn man die Schweiz als mehrsprachiges Land par excellence sieht, hat man eine nord-westliche Brille an. Viele Länder im Orient und in Afrika sind weit mehrsprachiger - Indien, Indonesien, Südafrika, demokratische Republik Kongo etc. Verglichen mit europäischen Ländern steht die Schweiz wohl nicht so schlecht da, es mangelt jedoch an international vergleichbaren Daten. Aber man kann gewiss noch vieles verbessern, kantonale und eidgenössische Schulreformen (drei Sprachen für alle, zwei Fremdsprachen an der Primarschule, integrierte Sprachendidaktik, Immersion, Austausch, Begegnung mit Sprachen) zielen darauf hin, den Sprachenunterricht für alle zu verbessern, ohne wissenschaftliche Abstriche. Der L3-Kongress stellt den Erwerb einer Drittsprache in den Vordergrund. Was ist anders beim Erlernen einer dritten Sprache im Vergleich mit einer Zweitsprache? Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass man um Erfahrungen reicher ist, die man fürs neue Lernen einsetzen kann. Im Unterschied zur Muttersprache hat man beim Erlernen einer Zweitsprache Strategien mobilisiert, die man nun für das Erlernen der Drittsprache und weiterer Sprachen einsetzen kann. Erworbenes Wissen und Fertigkeiten können also transferiert werden. Dazu braucht es eine entsprechende Didaktik, die man Mehrsprachigkeitsdidaktik oder Tertiärsprachendidaktik nennt, und die z. B. im Bereich des Wortschatzes oder der kognitiven Strategien zum Zuge kommt. Was empfehlen Sie Bildungshungrigen, die ihre Sprachkenntnisse verbessern möchten? Man muss zuerst einmal den Lerntyp ausfindig zu machen, sich fragen, wie lerne ich am besten und am liebsten? Dann soll man unterschiedliche Möglichkeiten ausschöpfen, die vorhanden sind: lernen in authentischen Situationen, Vorlesungen in der andern Sprache besuchen, ein Austauschsemester planen, offen sein gegenüber anderen, die Tagesschau in einer anderen Sprache verfolgen, sich Filme mit Untertiteln und nicht in synchronisierter Version ansehen, Kompetenzen in verwandten Sprachen aktivieren, Erfolgserlebnisse schaffen, nette Repräsentanten der Zielsprache kennen lernen etc. Ein positives Bild der Sprache und der Sprechenden hilft allemal und motiviert insbesondere dazu, sich auf eine neue Sprache und Kultur einzulassen. Wichtig ist es aber sicher auch, realistische Erwartungen zu haben. Inwiefern hilft das Lern- und Forschungszentrum LeFoZeF Studierenden, dass sie rasch und mit vernünftigem Zeitaufwand eine Zweit- bzw. Drittsprache erlernen können? Die Zweisprachigkeit der Universität Freiburg hat es mit sich gebracht, dass hier schon früh Sprachinstitute geschaffen und in einem Zentrum vereinigt wurden. Das LeFoZeF bietet eine ganze Reihe von Möglichkeiten an. Es gibt studien- und fachbezogene sowie allgemeine Sprachkurse für vier Sprachen (Französisch, Deutsch, Italienisch und Englisch). Die Arbeit in der Mediathek des Zentrums unterstützt und ergänzt die Sprachkurse. In der Mediathek kann man die vier Zentrumssprachen, aber auch rund 30 weitere Sprachen autonom lernen und vertiefen. UNI Tandem bietet die Möglichkeit des autonomen Sprachenlernens zu zweit. Schliesslich kann man auch zu Hause am Computer vom virtuellen Klassenzimmer oder von blended learning profitieren. Was nicht allen bekannt ist: Das LeFoZeF steht nicht nur Studierenden, sondern der ganzen Universitätsgemeinschaft zur Verfügung. Der Kongress im Herbst findet in Freiburg und Biel statt, was sind Gemeinsamkeiten, was Differenzen dieser beiden zweisprachigen Städte? Der wichtigste Unterschied ist sehr wahrscheinlich das Erscheinungsbild und der Grad der Offizialität der Zweisprachigkeit. Die Zweisprachigkeit Biels ist viel offensichtlicher (Beschriftungen am Bahnhof, Strassennamen, Schilder, Plakate, Gebrauch beider Sprachen im öffentlichen Raum), auch haben die politischen Gremien die Zweisprachigkeit der Stadt viel früher und stärker als Label vermarktet. Dabei ist die Zweisprachigkeit Biels erst etwa 200 Jahre alt, während diejenige Freiburgs seit ihren Ursprüngen Mitte des 12. Jahrhunderts bilingual oder eher multilingual ist. In Freiburg wird seit 30 Jahren ein Forschungszentrum für die Mehrsprachigkeit gefordert, in Biel gibt es seit bald zehn Jahren das Forum für die Zweisprachigkeit. Schliesslich zeigen die Sprachverhältnisse in Biel immer in die gleiche Richtung: Frankophone Personen in Biel bilden eine Minderheit, wie auch auf der Bezirks-, Kantons- und Bundesebene, wohingegen Frankophone in Freiburg in der Mehrheit sind auf kommunaler, Bezirks- und kantonaler Ebene, aber eben eine Minderheit auf Bundesebene. Informationen zum Kongress unter http://www.irdp.ch/l3 Informationen zum LeFoZeF unter http://commonweb.unifr.ch/cerle/pub/cerleweb/