Islam und Gesellschaft30.03.2022
Ausländische Einflüsse verlieren in muslimischen Gemeinschaften an Bedeutung
Transnationale Netzwerke wie die in Ägypten entstandene Muslimbruderschaft oder die von Saudi-Arabien finanzierte Islamische Weltliga haben bei der Entstehung und beim Aufbau einiger muslimischer Vereine und Moscheen eine wichtige Rolle gespielt. Verglichen mit anderen Ländern konnten sie aber in der Schweiz nur in geringem Umfang Fuss fassen und haben in den letzten Jahren an Bedeutung verloren. Dies zeigt eine neue Studie des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft (SZIG) auf.
Die Studie untersucht erstmals das Verhältnis zwischen transnationalen Beziehungen und lokalen Vernetzungen mit Schwerpunkt auf arabischsprachigen muslimischen Gemeinschaften in der Schweiz. Inzwischen – so das Fazit – übernehmen auf kantonaler Ebene organisierte Dachverbände wichtige Repräsentationsfunktionen gegenüber Politik, Medien, Kirchen und Gesellschaft.
Ausrichtung an Lebensrealität in der Schweiz
Die von Hansjörg Schmid, Noemi Trucco und Federico Biasca verfasste Arbeit analysiert zunächst exemplarisch die mediale und politische Diskussion, in der einem vermeintlichen Einfluss aus dem Ausland oft eine zentrale Rolle zugeschrieben wird. Sodann werden auf der Grundlage neuster Forschungen vier transnationale muslimische Netzwerke und ihr Einfluss im Westen dargestellt: Es sind dies die Muslimbruderschaft, Tablighi Jamaat, Al-Ahbash und Wahhabiyya. Hier kommt es vielfach zu Anpassungsprozessen aufgrund des veränderten Kontexts. Es folgen sieben Fallstudien zu wichtigen muslimischen Gemeinschaften unter anderem in Zürich, Basel, Bern, Delsberg, Lausanne und Genf.
Auf der Grundlage von Dokumenten sowie rund 40 Interviews und Expertenkonsultationen wird das Verhältnis zwischen Einflüssen von aussen und lokalen Vernetzungen analysiert. Ein Grossteil der ab den 1970er Jahren entstandenen Vereine ist inzwischen vielsprachig. Während manche stärker nach innen ausgerichtet sind, pflegen andere intensive Beziehungen zu Behörden, Schulen und Kirchen. So ist die grosse Moschee in Genf zwar stark von den Entwicklungen der saudischen Politik geprägt, bietet aber auch Raum für Frauengruppen und einen Religionsunterricht, der auf die Lebensrealität in der Schweiz ausgerichtet ist. Das Beispiel einer Moschee in Zürich wiederum zeigt, wie diese transparent mit der aus Beziehungen von Geschäftsleuten entstandenen Finanzierung durch die Vereinigten Arabischen Emirate umgeht.
Dynamik und Diversität
Die Studie macht deutlich, dass das Feld muslimischer Organisationen von einer grossen Dynamik geprägt ist. Muslimische Gemeinschaften haben sich weit über die transnationalen Netzwerke hinaus diversifiziert und Aktivitäten wie Bildungsangebote, Moscheeführungen und Seelsorge entwickelt. In die lokal verankerten Dynamiken und Strukturen fügen sich die transnationalen Netzwerke nur teilweise ein. Die Studie widerlegt somit das pauschale Bild eines von aussen gesteuerten Islams in der Schweiz und zeigt auf, dass transnationale Beziehungen einer sorgfältigen Analyse bedürfen, die zwischen persönlichen, ideologischen und institutionellen Dimensionen unterscheidet. Auch gesellschaftliche Debatten und die Religionspolitik der Kantone haben einen grossen Einfluss auf die muslimischen Gemeinschaften.
Zur Studie
Die Studie wurde vom Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) gefördert. Sie knüpft an Studien an, die das SZIG zu Imamen und muslimischen Gemeinschaften in der Schweiz erstellt hat. Das SZIG ist ein interfakultäres Institut der Theologischen, der Rechtswissenschaftlichen und der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg. Die Gründung des SZIG als schweizweites Kompetenzzentrum im Jahr 2015 ging auf einen mehrjährigen Diskussionsprozess auf Bundesebene zurück.
Link zur Studie: https://folia.unifr.ch/unifr/documents/313356
Bild: Genfer Moschee