Biologie21.03.2023
Lernen ohne Gehirn ist möglich
Tiere brauchen kein Gehirn, um lernfähig zu sein – so belegt es eine eben erschienene Studie von Professor Simon Sprecher der Universität Freiburg. Mit seinem Team hat der Biologe der Seeanemone beigebracht, ihr Verhalten aufgrund von Erfahrungen aus der Vergangenheit anzupassen.
Die Fähigkeit, etwas zu lernen, ein Gedächtnis zu haben, assoziieren wir spontan mit dem Vorhandensein eines Gehirns. Tatsächlich weiss die Wissenschaft viel darüber, welche Gehirnregion bei uns Menschen, bei Mäusen oder auch bei Insekten wofür zuständig ist. Nur: Nicht alle Tiere haben ein Gehirn. Nesseltiere wie Anemonen, Quallen und Korallen verfügen bloss über ein einfaches Nervennetz. «Oft wird deshalb ein wenig naiv angenommen, dass diese Tiere nur ein reflexartiges Verhalten erreichen können», sagt Professor Simon Sprecher vom Departement für Biologie der Universität Freiburg. In einer in der Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS) veröffentlichten Studie haben er und sein Team nun aber aufgezeigt, dass dem nicht so ist. Sie konnten beweisen, dass die Seeanemone Nematostella vectensis eine einfache Form eines Gedächtnisses hat und zu assoziativem Lernen fähig ist.
Klassische Konditionierung
Dazu haben die Forschenden an den Tieren Tests mit Stimuli aus Licht und elektrischem Strom durchgeführt. Mal erfuhren die Seeanemonen Licht und Strom gleichzeitig, so dass eine Assoziation entstand, mal zeitversetzt, sodass kein Zusammenhang zwischen den beiden Reizen erkennbar war. Und tatsächlich reagierten die Tiere auf das Training. Mit der Zeit zogen die Anemonen, bei denen die beiden Impulse gleichzeitig eingesetzt worden waren, ihren Körper allein schon beim Einsatz des Lichtimpulses zusammen. Sie hatten gelernt, dass das Auftreten von Licht mit einem elektrischen Stimulus einhergeht – klassische Konditionierung nach Pawlowscher Art. Die Tiere haben es also geschafft, eine Verbindung zwischen zwei Elementen in ihrem Gedächtnis zu speichern und ihr Verhalten entsprechend anzupassen. «Das ist genau das, was man unter assoziativem Lernen versteht. Es beweist, dass auch Tiere ohne Gehirn mit ihren Nervensystemen zu komplexem Verhalten fähig sind», erklärt Sprecher.
«Damit verfügen wir über den Rahmen, um tiefer zu forschen», so der Professor weiter. Nachdem nun klar ist, dass auch Tiere ohne Gehirn lernfähig sind, stellt sich die Frage: Wie machen sie das? «Es ist sehr wenig bekannt darüber, wie der Lernprozess bei Tieren mit scheinbar einfachem Nervennetz organisiert ist. Wir gehen davon aus, dass sich auch bei ihnen gewisse Synapsen verstärken.» Gibt es doch so etwas wie ein Zentrum in dem Nervennetz? Gibt es Regionen, die hauptsächlich für die Organisation des Lernprozesses verantwortlich sind? Oder ist alles gleichmässig auf den gesamten Körper verteilt? Wie kommunizieren die Botenstoffe miteinander? Das sind einige der Fragen, die sich aufgrund der Forschungsergebnisse aufdrängen – und die Simon Sprecher und sein Team nun beschäftigen werden.
Seit wann gibt es lernfähige Tiere?
Gleichzeitig werfen die Erkenntnisse die Frage auf, wie und wann das Lernen während der Evolution entstanden ist. «Die ersten Vorfahren aller Tiere, die ein Gehirn haben, lebten vor rund 560 Millionen Jahren. Solche mit einem Nervennetz gab es schon 100 bis 150 Millionen Jahre früher», sagt Sprecher. Gibt es also schon länger lernfähige Tiere als bisher angenommen? «Das ist ein durchaus interessanter Gedanke, dem es nachzugehen gilt.»