Paläontologie03.06.2024
Künstliche Intelligenz schliesst die Lücken im Fossilienarchiv
Aufgrund des lückenhaften Fossilarchivs haben Paläontolog_innen Schwierigkeiten, ein genaues Bild vom Ausmass der früheren Biodiversität zu zeichnen und zu verstehen, wie sie sich im Laufe der Zeit verändert hat. Eine Studie unter der Leitung von Rebecca Cooper und Daniele Silvestro von der Universität Freiburg zeigt, wie künstliche Intelligenz (KI) ihnen diese Aufgabe erleichtern kann.
Wissenschaftler_innen schätzen, dass es derzeit mehr als acht Millionen Tier- und Pflanzenarten gibt. Um diese unglaubliche Vielfalt zu verstehen, ist es unerlässlich, die Prozesse welche die globale Biodiversität im Laufe der Zeit beeinflusst haben – einschliesslich Massenaussterben – , so genau wie möglich nachzuvollziehen. Zu diesem Zweck bedienen sich Paläontolog_innen des Fossilienbeleges, der leider nur einen kleinen, oft lückenhaften Ausschnitt der Arten darstellen, die jemals auf unserem Planeten gelebt haben. Tatsächlich fossilisiert nur ein winziger Bruchteil der Pflanzen und Tiere, zwischen 0,01 und 0,1 % der Organismen.
Die KI als Retterin in der Not
Die Doktorandin Rebecca Cooper, Mitglied des Swiss Institute of Bioinformatics (SIB) und Hauptautorin der Studie, sowie Assistenz-Professor Daniele Silvestro, Leiter der Gruppe für Computational Evolutionary Palaeobiology am SIB, haben in Zusammenarbeit mit Dr. Joseph Flannery-Sutherland von der Universität Birmingham gezeigt, dass es trotz verstreuter Fossildaten möglich ist, diese Vielfalt im Laufe der Zeit zu bewerten – dank der Leistungsfähigkeit der künstlichen Intelligenz. Die Studie, die am 17.05.2024 in Nature Communications veröffentlicht wurde, stellt eine neue Software namens DeepDive vor, die in der Lage ist, die Entwicklung des Artenreichtums im Laufe der Zeit zu rekonstruieren.
«Am Ende des Perms, vor mehr als 251 Millionen Jahren, führte eine massive vulkanische Aktivität zum schlimmsten bekannten Massenaussterben», erklärt Rebecca Cooper. «Mithilfe von DeepDive konnten wir schwere Verluste an Vielfalt bei Meerestieren feststellen und entdeckten, dass es Millionen von Jahren dauerte, bis sich die Vielfalt wieder erholte.»
Revolution bei den Paläontologen
Das neue Programm erzeugt Hunderttausende synthetischer Datensätze, die das Fossilarchiv nachbilden. Aus diesen lernt ein KI-Modell, wie die Anzahl und der Ort der Fossilien uns über das tatsächliche Ausmass der verborgenen Biodiversität informieren können. «Seit über 50 Jahren kämpfen Paläontolog_innen mit herkömmlichen statistischen Techniken, um die Unsicherheiten und Beschränkungen des Fossilarchivs zu überwinden», stellt Joseph Flannery-Sutherland fest. «Jetzt bietet die künstliche Intelligenz ein mächtiges Mittel zur Lösung vieler dieser Probleme und ermöglicht es uns, zu verstehen, wie sich die Biodiversität im Laufe der geologischen Zeit verändert hat. DeepDive eröffnet wirklich aufregende Möglichkeiten!»
Erste Ergebnisse sprechen für sich
Die Autor_innen nutzten ihre Software auch, um das Fossilarchiv von Elefanten und ihren ausgestorbenen Verwandten wie Mammut und Mastodon zu analysieren. Das Ergebnis: Mithilfe von DeepDive konnten sie herausfinden, dass bis vor kurzem noch mehr als 35 Arten existierten, bevor viele von ihnen rasch ausstarben. «Unsere Studie zeigt, dass diese Biodiversität, die sich über Millionen von Jahren entwickelt, sehr plötzlich ausgelöscht werden kann, wie Hunderte von Aussterbeereignissen in den letzten Jahrhunderten gezeigt haben», sagt Daniele Silvestro, «was uns dazu zwingt, die unersetzliche Natur der heutigen Biodiversität zu schätzen.»
In einer Zeit, in der die KI die meisten neuen Technologien – und zunehmend auch unser Leben – durchdringt, werden die Risiken des Missbrauchs und die Gefahren dieser laufend mächtiger werdenden Modelle immer wieder diskutiert. Die Studie zeigt jedoch, dass viele wissenschaftliche Fortschritte aus der KI resultieren können. «Es ist unbestreitbar, dass uns dieser Ansatz geholfen hat, die Natur und die Geheimnisse der Evolution des Lebens auf unserem Planeten besser zu verstehen», schliesst Rebecca Cooper.
Originalveröffentlichung und Software
DeepDive: estimating global biodiversity patterns through time using deep learning, Nature communications, 17.05.2024
Das DeepDive-Programm ist frei, kostenlos und kann hier eingesehen werden: https://github.com/DeepDive-project
***
Über das SIB
Das SIB (Swiss Institute of Bioinformatics) ist eine international anerkannte Non-Profit-Organisation, die sich der Wissenschaft von biologischen und biomedizinischen Daten widmet. Seine Wissenschaftler_innen begeistern sich für die Schaffung von Wissen und die Lösung komplexer Fragen in vielen Bereichen, von der Biodiversität über die Evolution bis hin zur Medizin. Sie stellen wichtige Datenbanken und Softwareplattformen sowie bioinformatische Fachkenntnisse und Dienstleistungen für akademische, klinische und industrielle Gruppen bereit. Das SIB vereint die Schweizer Bioinformatik-Gemeinschaft, die aus rund 900 Wissenschaftler_innen besteht, und fördert die Zusammenarbeit und den Wissensaustausch. Das Institut trägt dazu bei, die Schweiz an der Spitze der Innovation zu halten, indem es die Fortschritte in der biologischen Forschung fördert und die Gesundheit verbessert.