19.10.2011

Fliegen sehen nur noch blau


Eine Sinneszelle - ein Signal. Damit diese grundlegende Ordnung gewährleistet wird, müssen Zellen darauf achten, jeweils nur einen Rezeptor herzustellen. Einen bisher unbekannten Mechanismus dafür fanden Forscher der Universität Freiburg und der New York University bei Fruchtfliegenaugen. Die Erkenntnisse könnten weit über die Hirnforschung hinaus von Nutzen sein.



Betrachten wir ein Bild, prasselt eine grosse Zahl von Sinneseindrücken auf unser Hirn ein. Damit dabei kein Durcheinander entsteht, darf jede Sinneszelle nur ein einzelnes Signal wahrnehmen und weiterleiten. Diese Spezialisierung der Zellen darf im Verlaufe des Lebens auch nicht plötzlich geändert werden. Simon Sprecher, Professor am Departement für Biologie an der Universität Freiburg, hat bei den Augen der Fruchtfliege (Drosophila melanogaster) einen unerwarteten Mechanismus entdeckt, der erklärt, wie diese Spezialisierung aufrecht erhalten wird. Die Entdeckung, die er zusammen mit Kollegen der New York University in der renommierten Fachzeitschrift Nature veröffentlichte, könnte sowohl die Hirnforschung, als auch die Krebsforschung inspirieren.

Wenn sich Zellen teilen und der Körper wächst, müssen sich auch die Sehzellen entscheiden, welche Farbe sie bis zu ihrem Tode wahrnehmen werden. Bis jetzt ging man davon aus, dass das Schicksal einer Zelle immer von so genannten Schaltergenen festgelegt wird. Sprecher und seine Kollegen widerlegten nun dieses Dogma. In den grünen Sehzellen der Fruchtfliege sind es nicht die Schaltergene, sondern der Lichtrezeptor selbst, der die Erhaltung der Spezialisierung sicherstellt - eine überraschende Zusatzfunktion für den Rezeptor. Der Lichtrezeptor für grünes Licht (Rhodopsin 6) unterdrückt dabei das Gen für den Lichtrezeptor für blaues Licht (Rhodopsin 5). Lichtrezeptoren sind Proteine in den Sehzellen, die beim Einfall von Licht ein Signal auslösen, das schliesslich in elektrischer Form ans Hirn weitergeleitet wird.

Ohne Grün sehn Fliegen blau

Den Mechanismus entdeckte das Forscherteam an Mutanten der Fruchtfliege, die keinen grünen Lichtrezeptor herstellen konnten. Da dadurch das Gen für den blauen Lichtrezeptor nicht mehr unterdrückt war, wurde der blaue Lichtrezeptor hergestellt und die eigentlich grün sehenden Zellen sahen auf einmal blau. Obwohl diese Fruchtfliegen-Mutanten durch den Wechsel eigentlich durcheinander geraten müssten, finden sie sich ohne Probleme zurecht. Sprecher präzisiert: "Im Labor merkt man den Mutanten nichts an. Ob sie auch in freier Wildbahn vorkommen und ob sie dort einen Nachteil haben, wissen wir nicht."

Hirnforscher müssen nun damit rechnen, dass auch bei anderen Sinneszellen ähnliche Mechanismen eine Rolle spielen. Zum Beispiel müssen die Geruchszellen der Nasenschleimhaut jeweils einen einzigen Geruchsrezeptor aus hunderten auswählen. Es ist bis heute ein Rätsel, wie so eine Vielfalt an Möglichkeiten mit wenigen Schaltergenen eingeschränkt werden kann. Der neue Mechanismus könnte darauf eine Antwort liefern. Neben Sinneszellen haben auch Hirnzellen Rezeptoren, die Signale empfangen und weiterleiten. Folglich könnten auch im Gehirn Rezeptoren die Spezialisierung aufrechterhalten.

Auch bei Krebs ist die Spezialisierung der Zellen aus den Fugen geraten. Die normalen Zellen zum Beispiel der Haut verändern ihre Bestimmung auf eigene Faust und fangen an, sich unkontrolliert zu vermehren. "Selbst bei Krebszellen könnte es sein, dass ein Endprodukt einer Zellspezialisierung einen Fehler hat und dadurch die Zelle ihre Spezialisierung verliert", spekuliert Sprecher.

Link zur Originalpublikation:
Feedback from rhodopsin controls rhodopsin exclusion in Drosophila photoreceptors: http://www.nature.com/nature/journal/vaop/ncurrent/full/nature10451.html

Kontakt: Simon Sprecher, Professor am Departement für Biologie der Universität Freiburg, 026 300 89 01, simon.sprecher@unifr.ch