28.08.2012
Heikler Grat: Sozialleben zwischen Schule und Facebook
Ist die Schule aus, gibt es für die meisten Jugendlichen nur noch ein Ziel: Facebook & Co. In ihrer Doktorarbeit beschreibt Claire Balleys, Soziologin an der Universität Freiburg, wie sich die Jugendlichen heute ihren Freundeskreis aufbauen. Facebook ist darin nicht nur ein Ort des Austausches und der Freiheit, sondern ebenso eine Quelle der sozialen Kontrolle und der Einschränkungen.
In einer Schulklasse bricht Streit aus. Die heftige Diskussion beginnt zwischen zwei Freunden, am Ende aber mischt die ganze Klasse mit. Die Lehrperson ist perplex, sie hat den Konflikt weder kommen sehen, noch kennt sie die Hintergründe, die zum Eklat führten. Kein Wunder: Angefangen hat die Geschichte natürlich auf Facebook. Nicht selten schwappt eine in der virtuellen Welt geführte Polemik früher oder später in die „andere“ Welt der Jugendlichen über – ins Klassenzimmer. „Liebes- und Freundschaftsbeziehungen bilden den Kern der gesellschaftlichen Aktivitäten von Jugendlichen und das Fundament für deren Identitätsbildung, erklärt Claire Balleys, Diplomassistentin am französischsprachigen Bereich Gesellschafts-, Kultur- und Religionswissenschaften der Universität Freiburg. Diese sozialen Hierarchien sind zwar keineswegs neu, haben aber durch das Web 2.0 und dessen soziale Netzwerke eine Dimension erreicht, die es zu studieren gilt, wenn man die Gruppendynamik der Jugendlichen verstehen will. Kein einfaches Unterfangen, da die aus den (virtuellen) Freundschaftsbeziehungen resultierenden Hierarchien einer streng kodierten Sprache gehorchen.“
Meine Schwester, mein Bruder
Das Auflisten und Klassieren von Liebes- und Freundschaftsbeziehungen auf Facebook, dem heute von den Jugendlichen am häufigsten verwendeten sozialen Netzwerk, verleiht den Jungen die gewünschte Individualität – bestimmt vor allem für die Community an virtuellen Freunden. Diese in gewisser Weise öffentlich gemachten Beziehungen unterliegen aber strengen Regeln und werden von der Gemeinschaft laufend evaluiert und kontrolliert. Die Soziologin Claire Balleys betont, dass jegliche Intervention auf Facebook einer Positionierung innerhalb einer Gruppe gleichkommt und zu neuen Freund- und Feindschaften führen kann. Ein Umstand, der noch verstärkt wird durch die Tatsache, dass der Unterschied zwischen „wahren“ und „falschen“ Facebook-Freunden äusserst wichtig ist für die Jugendlichen: Jedes Statement, das als übertrieben und jeder Akt, der als unwahr aufgefasst werden kann, wird sofort sanktioniert mit beissenden Kommentaren. „Es geht dabei um eine kollektive Definition von Freundschaft und Liebe. Der Freundeskreis ist gewissermassen das Publikum und hat die Aufgabe, Freundschafts- und Liebesbeziehungen gutzuheissen oder abzulehnen“, so Balleys. Zusätzlich verstärkt wird der hierarchische Charakter eines Freundeskreises auf Facebook durch die Möglichkeit, die Freunde in einer virtuellen Familie zu versammeln und ihnen Rollen innerhalb dieser Familie zu verteilen.
Ich liebe, also bin ich
Die auf Facebook und in anderen sozialen Netzwerken herrschende hierarchische Interpretation von Freundschaft kann leicht zu einem gegenseitigen Überbieten führen, das sich darin äussert, dass die Jugendlichen sich immer wieder gegenseitig die „echte“ Freundschaft beweisen. „Sie ist mein Engel, mein zweites Ich; ein Geschenk, das Gott mir gegeben hat. Ich liebe sie mehr als alles andere. Diese Liebe ist UNSERE Liebe“, schreibt beispielsweise die 14-jährige Nour über ihre Freundin Charlène. Zwischen Facebook und Klassenzimmer sind die Jugendlichen einem täglichen Dilemma ausgesetzt: Auf der einen Seite ist das hemmungslose Offenlegen ihrer Gefühle, auf der anderen gilt es, eine Privatsphäre zu wahren und die von der Community aufgestellten Grenzen nicht zu überschreiten.
Im Rahmen ihrer Forschungsarbeit bietet Claire Balleys nun Weiterbildungsmodule an, die zu einem besseren Verständnis der in den Social Media verwendeten Regeln und Gepflogenheiten der Jugendlichen führen. „Es genügt nicht, den Jugendlichen technische Instruktionen zu erteilen bezüglich des angemessenen Verhaltens im Internet“, so Balleys. „Teenager haben einen völlig anderen Umgang mit Facebook als Erwachsene und erst wenn wir die Logik der Jugendlichen verstehen, können wir ihnen sinnvolle Regeln erklären.“
Unter dem Titel „Les adolescents sur les réseaux sociaux“ findet am 29. Januar 2013 ein vom Zentrum für Weiterbildung der Universität Freiburg organisierter Anlass statt
Informationen zur Weiterbildung: http://admin.unifr.ch/uniform/faces/pages/index.xhtml?id=7195
Zusammenfassung der Studie: http://lettres.unifr.ch/fr/sciences-sociales/sciences-des-societes-des-cultures-et-des-religions/collaborateurs-esp/balleys.html
Kontakt: Claire Balleys, Diplomassistentin am Bereich Gesellschafts-, Kultur- und Religionswissenschaften, claire.balleys@unifr.ch, 078 742 29 93