Familien mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen werden in einem Lockdown hart auf die Probe gestellt. Professorin Andrea Samson geht mit ihrem Team in einer internationalen Studie der Frage nach, welche Auswirkungen die COVID-19-Pandemie auf betroffene Kinder und Eltern hat. Die Ergebnisse sollen unter anderem Anhaltspunkte bieten, worauf in zukünftigen Krisensituationen geachtet werden muss. Deshalb interessiert sich auch die Politik dafür.
Andrea Samson, in Ihrer aktuellen Studie steht die Frage im Vordergrund, wie Familien mit Kindern mit Behinderungen und Entwicklungsstörungen mit den Folgen der COVID-19-Pandemie zurechtkommen. Was erhoffen Sie sich davon?
Im chEERS Lab erforschen wir sozioemotionale Prozesse bei Personen mit verschiedenen Entwicklungsstörungen und geistigen Behinderungen. Wir wissen, dass Familien mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen im Alltag mit vielen Dingen zu kämpfen haben. Als es zum Lockdown kam, fragten wir uns: Wie ergeht es nun wohl jenen Familien, die eines oder gar mehrere Kinder mit besonderen Bedürfnissen haben und auf besonders viel Hilfe, Begleitung und Unterstützung angewiesen sind? Wie ist das, wenn plötzlich jegliche Unterstützung wegfällt und sogar Institutionen schliessen? Welches sind die Ängste und Sorgen der Eltern, welches diejenigen der Betroffenen? Mit welchen Strategien versuchen sie mit möglichen negativen Emotionen umzugehen? Es ist wichtig, diese Fragen zu beantworten, auch, um bei einer möglichen zukünftigen Krisensituation vorbereitet zu sein.
Ist ein Lockdown für Kinder mit speziellen Bedürfnissen besonders schwierig?
Das gilt es nun zu untersuchen. Es dürfte auf verschiedene Faktoren ankommen, etwa auf die Art der Beeinträchtigung, die Art der Unterstützung, darauf, wie stark die Familie abfedern kann, was plötzlich an Unterstützung wegfällt, etc. Für die Kinder selbst kann es tatsächlich sogar in beide Richtungen gehen. Ich habe mich mit einigen Familien unterhalten, deren alltäglichen Herausforderungen sich nun extrem gewandelt haben. Konnte man sich vor der Krise auf Unterstützung von anderen und womöglich sogar von mehreren Personen verlassen, ist es besonders einschneidend, wenn diese Hilfe von einem Tag auf den anderen wegfällt. Gleichzeitig kann eine mögliche reduzierte berufliche Belastung der Eltern zusammen mit anderen im Lockdown wegfallenden Stressfaktoren, zum Beispiel durch die Schule, für ein Kind selbst sogar entlastend sein. Mit unserer Studie möchten wir uns intensiver mit solchen Unterschieden beschäftigen und herausfinden, welche Hintergründe sie haben.
Eine der Hauptfolgen eines Lockdowns ist, dass soziale Kontakte stark reduziert werden. Kann das für Kinder mit besonderen Bedürfnissen problematisch sein?
Absolut, das ist ja auch für Kinder, die keine besonderen Bedürfnisse haben, schwierig. Allerdings kommt es möglicherweise auch hier auf die Art der Beeinträchtigung an. Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen zum Beispiel haben eher Mühe mit der sozialen Kommunikation. Für sie ist es womöglich sogar entlastend, nicht viele Leute zu sehen. Bei Kindern mit dem Williams-Beuren-Syndrom – einer seltenen genetischen Störung, die unter anderem mit sich bringt, dass die Kinder und Erwachsenen ein sehr ausgeprägtes Bedürfnis nach sozialen Kontakten haben – mag es ganz anders sein. Möglicherweise leiden sie stärker unter dem eingeschränkten Sozialkontakt. Wir möchten nicht nur zwischen verschiedenen Syndromen unterscheiden, sondern auch verstehen, wie der Lockdown oder andere Massnahmen sich auf Kinder mit und ohne besondere Bedürfnisse auswirken. Deshalb befragen wir in der Studie die Eltern auch zu Geschwisterkindern ohne besondere Bedürfnisse.
Denken Sie, dass der Lockdown Spätfolgen nach sich ziehen könnte?
Das ist nicht auszuschliessen. Wir wissen derzeit wenig darüber, selbst für Kinder ohne Beeinträchtigung. Was bedeutet es, zwei Monate in einer solchen Extremsituation zu leben? Unsere bisher gesammelten Daten zeigen, dass bestimmte Ängste am Anfang sehr gross waren, während andere Belastungen eher mit der Zeit zunahmen. Auch wenn viele Eltern natürlich versucht haben ihre Kinder möglichst wenig zu belasten, haben diese vieles auf irgendeine Art mitbekommen. Wir werden in unserer Studie versuchen, auch mögliche Spätfolgen zu untersuchen. Es ist ein Folgefragebogen geplant, der die Frage beantworten wird: Wie geht es der Familie ein halbes Jahr oder ein Jahr später?
Tatsächlich geht es in Ihrer Studie nicht bloss um die Kinder, sondern um die ganze Familie. Wo liegen für Eltern von Kindern mit besonderen Bedürfnissen die grössten Herausforderungen bei einem Lockdown?
Da wären zunächst einmal die Betreuungsstrukturen, die wegfallen. Oder Spezialisten, die sich nicht mehr in gleichem Masse um die Bedürfnisse des Kindes kümmern können. Das kann für die Eltern eine enorme zusätzliche Belastung bedeuten. Auch das ist eine zentrale Frage unserer Studie: Was fiel in den letzten Wochen alles weg? Was fehlte den Eltern am meisten? Darüber hinaus gibt es noch andere Faktoren, die wir uns anschauen, zum Beispiel finanzielle Sorgen.
Ihre Studie ist weltweit angelegt, der Fragebogen ist derzeit in elf Sprachen verfügbar, unter anderem auf Chinesisch. Wie kam es dazu?
Initiiert hat die Studie das chEERS Lab. Gemeinsam mit vor allem englischsprachigen Kollegen wollten wir zunächst die Situation von Personen mit bestimmten Syndromen verstehen. Es wurde aber schnell klar, dass es wichtig ist, die Situation von Familien mit besonderen Bedürfnissen unabhängig von Diagnosen zu verstehen. Durch den Vergleich verschiedener Massnahmen in verschiedenen Ländern werden wir bessere Aussagen machen können, was Familien besonders belastet hat und mit welchen Massnahmen Familien besser zurechtgekommen sind. Mittlerweile haben wir etliche Forschungspartner auf der ganzen Welt, die uns helfen, in ihren Ländern Familien zu erreichen.
Wie viele ausgefüllte Fragebogen erhoffen Sie sich?
Weltweit konnten wir bis jetzt über 2000 Familien für unsere Studie gewinnen, wir haben mit bestimmten Sprachen aber erst vor Kurzem angefangen, das heisst, diese Zahl wird steigen. Wichtig ist, dass wir in der Schweiz repräsentative Stichproben für Familien mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen erhalten.
Wieso?
Weil sich in der Schweiz immer mehr Vereinigungen und Institutionen für unsere Daten interessieren. Sie alle müssen allmählich ihre Rückschlüsse ziehen und sich Fragen stellen wie: War das, was wir anbieten konnten, genug? Sollte es wieder einmal eine vergleichbare Krise geben oder eine zweite Corona-Welle: Wie würden wir reagieren? Was sind wichtige Stressfaktoren für Familien? Wo hätten wir Kinder und Eltern besser auffangen können? Wir hoffen, dass wir möglichst viele Entscheidungsträger über unsere Ergebnisse informieren können. Wie auch in Grossbritannien interessieren sich in der Schweiz politische Instanzen für unsere Ergebnisse. Das Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung freut sich über die kommenden Studienergebnisse dazu, wie es den betroffenen Familien ergangen ist. So können wir mit dem, was wir machen, wirklich etwas bewirken. Auch wenn in der Schweiz auf den ersten Blick das Gröbste vorbei zu sein scheint, wir werden mindestens noch bis Ende Juni weitere Daten sammeln. Unser Fragebogen erkundigt sich nach der Situation der Familien vor der Pandemie, am Anfang des Lockdowns und heute. Deshalb können uns Familien in der Schweiz auch jetzt noch wertvolle Informationen liefern.
- Andrea Samson hat eine SNF-Förderungsprofessur am Heilpädagogischen Institut der Universität Freiburg und ist ausserordentliche Professorin an der Fakultät für Psychologie an der FernUni Schweiz. Sie leitet zudem das chEERS Lab (Swiss Emotion Experience, Regulation and Support). In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit Emotionen und deren Regulation bei Menschen mit und ohne Entwicklungsstörungen.
- Die Umfrage richtet sich an Eltern oder Betreuungspersonen von Kindern mit besonderen Bedürfnissen. Sie ist anonym und dauert rund 30 Minuten. In der Schweiz kann der Fragebogen mindestens noch bis Ende Juni ausgefüllt werden. Der Link: www.specialneedscovid.org
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