Vertreter_innen von «Breaking the Silence», eine Organisation von Veteran_innen, die seit Beginn der Zweiten Intifada im israelischen Militär gedient haben, haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Öffentlichkeit mit der Realität des Alltags in den besetzten palästinensischen Gebieten zu konfrontieren. Was sie im Rahmen einer Veranstaltung an der Unifr berichtet haben, lässt sprachlos zurück.
Becca Strober trägt eine dunkle Hose, ein helles Baumwollhemd unter dem bordeauxroten Pullover, eine feine Schmuckkette. Sie ist freundlich, sympathisch. Während sie vorne am Redepult steht, wirkt sie eher wie eine Uni-Dozentin als jemand, die mehrere Jahre in der israelischen Armee gedient hat. Wenn sie über die Taten während ihrer Dienstzeit in besetzten Gebieten wie Hebron, eine Stadt 30 km südlich von Jerusalem, berichtet, sind die Zuhörenden im Vorlesungssaal erstaunt.
Von der Armee in die Bildung
«Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um die Sicherheit jüdischer Menschen zu gewährleisten», war Becca in ihrer Jugend überzeugt. Im Kontext einer zionistischen Bewegung aufgewachsen, wanderte sie im Alter von 18 Jahren nach Israel ein und diente daraufhin der Armee. Ihre Aufgabe: Andere für den Krieg vorzubereiten, ihnen den Umfang mit Waffen und das Schiessen beibringen. «Es ist von Prävention die Rede – ein positiv konnotiertes Wort. Prävention heisst, Attacken zu verhindern, bevor sie passieren, Menschenleben retten!» Die Realität ist allerdings, so stellte Becca später im Westjordanland fest, eine andere. «In den besetzten Gebieten geht es grundsätzlich darum, die palästinensische Zivilbevölkerung in ihrem Alltag zu kontrollieren», erklärt Becca. Die Massnahmen zur Kontrolle wurden mit der Zeit immer grossflächiger und aggressiver. «Wir wollen das Schweigen brechen und über die Gewalt reden, die wir diesen Menschen angetan haben und immer noch antun.» Dafür sammeln Becca und ihre Crew von der Organisation Breaking the Silence tausende von Testimonials, Momentaufnahmen, die man auf der Webseite der Organisation nachlesen kann. Früher Soldatin, heute Bildungsverantwortliche, sieht Becca die israelische Besatzung als grundlegendes, internationales Problem. Deshalb sei es wichtig, dass auch Universitätsstudierende einer Schweizer Universität erfahren, was vor sich geht.
«What the fuck am I doing here?»
«Auf den Strassen spielen die Kinder Besetzer und Besetzte, so normal sind die Durchsuchungen auf den Strassen geworden», sagt Becca und zeigt ein Foto. Sie erzählt, wie sich die Soldat_innen insbesondere junge Männer dafür rauspicken. «So geben wir ihnen das Gefühl, minderwertig zu sein. Wir wollen, dass sie verunsichert sind und sich geduckt halten.» Wie sollen sonst ein paar tausend israelische Verteidigungskräfte in einem Gebiet, in welchem 400’000 Israeli und zwei Millionen Palästinenser_innen leben, die keine Besatzung wollen, die Kontrolle behalten? «Um Präsenz zu zeigen, haben israelische Soldat_innen ein paar Strategien». Beispielsweise sogenannte flying checkpoints, vorübergehende und unangekündigte provisorisches Hindernisse, die von der israelischen Armee eingerichtet werden, um die Kontrolle der palästinensischen Bevölkerung über ihren Alltag zu untergraben. «Wir haben vom Commander häufig den Befehl erhalten, Autos anzuhalten und zu durchsuchen. Den Auftrag, etwas Bestimmtes zu finden gab es nicht.» Manchmal hiess es, man solle einfach alle Wagen herauswinken, die eine bestimmte Ziffer im Kennzeichen haben, z.B. eine 3. «Wir liessen auch Lastwagenfahrer glauben, dass wir nach Drogen suchen. Dabei ging es gar nicht um die Drogen, sondern potenziellen Drogendealern zu zeigen, dass wir aufmerksam sind.»
«Ich habe so oft gedacht ‘What the fuck am I doing here’?», sagt Ori Givati, Direktor für Advocacy von Breaking the Sicence. Auch er hatte erst die Vorstellung, sein Land und seine Leute vor grossen Gefahren schützen zu müssen und nicht, Zivilist_innen zu kontrollieren. «Die Commander haben sich nicht einmal die Mühe gegeben, die sinnlosen Missionen als relevant wirken zu lassen», regt sich Ori auf. In den meisten Fällen wüssten nicht einmal die Befehlshaber_innen, was sie da eigentlich tun. Wie auch? Gibt es denn eine richtige oder moralische Art und Weise der Okkupation? Becca bringt weitere konkrete Beispiele aus dem irren Alltag: «Hauptstrategien der Unterdrückung sind Verhaftungen, Hausdurchsuchungen und Einsätze bei Proteste.»
Verhaftung von Kindern als Terrorprävention
«Es gibt die special force units und die reguläre Infanterie», erklärt Becca. Verhaftet die Infanterie eine Person, wird sie zu den special force units gebracht. Was danach passiert, ist nicht mehr Angelegenheit der einfachen Soldat_innen. «Die meisten Verhaftungen sind sogenannte snack arrests», also Verhaftungen von allen möglichen unwichtigen und ungefährlichen Personen, darunter auch Kinder. Ein hinreichender Grund kann der Klau von Kugelschreibern sein. Auf dem Stützpunkt werden einige dieser Menschen geohrfeigt und erniedrigt, indem man Fotos von ihnen macht. Auf Terrorgruppen wird Druck geübt, indem man ihre Verwandten abführt. «Bei Massenverhaftungen holt man z.B. alle Männer aus ihren Häusern – mitten in der Nacht, während sie in Pyjamas schlafen.» Dann bringt man diese Männer weg, führt sie in Handschellen in irgendeine Schule und lässt sie dort warten. Grund für einen solchen Befehl kann sein, dass jemand Steine geworfen hat – aber es werden alle bestraft. «Es gibt zudem die mock oder fake arrests.» In diesem Fall inszeniert man Aktionen in Häusern, in welchen niemand wohnt, oder man holt mitten in der Nacht die Menschen aus ihren Wohnungen, nur um sie wieder reinzuschubsen. «So üben die Soldat_innen zu verhaften und die Bevölkerung, wie man verhaftet wird.»
Hausdurchsuchungen
Bei den Hausdurchsuchungen werden vier Arten unterschieden. 1) Das Konfiszieren von Waffen, Geld und andere Dinge, die suspekt erscheinen. 2) Das Konfiszieren von Häusern, weil sie sich wegen der Sicht als Kontrollpunkte eignen. 3) Das mapping. Bei dieser Prozedur betreten die Soldat_innen ein Haus, nehmen die Daten der Familie auf, bringen sie dann in einen Raum, wo zwei Soldaten sie bewachen, während die anderen das Haus durchsuchen, es vermessen und kartieren. Sie schreiben auf, was sich im Haus befindet, wie gross die Räume sind usw. Den Soldat_innen ist klar, dass diese ganzen Daten im Papierkorb landen. Sie wissen auch, dass niemand in irgendetwas Illegales verwickelt ist. Die ganzen Notizen werden nicht einmal mehr an den Kompaniechef weitergeleitet. «Die Leute sollen sich verfolgt fühlen, eingeschüchtert sein», sagt Becca. 4) die straw widows, sprich die vorübergehende Inbesitznahme von Häusern aus militärischen Gründen. Vorübergehend kann ein paar Stunden, Tage oder gar Jahre bedeuten.
Proteste
Demonstrationen im Besatzungsgebiet sind regelmässig und normal. Proteste bedeutet aber, dass die Leute das Haupt erheben. «Das gilt es zu verhindern», erklärt Becca. «Die Leute sollen auf den Strassen am Vorwärtskommen gehindert werden.» Auch hier sind Massenverhaftungen üblich. Der Commander kann beispielsweise befehlen, zwölf junge Menschen zu verhaften, die irgendwie mit den Protesten in Verbindung gebracht werden könnten. «Einmal wurde ein Soldat ins Gesicht geschlagen. Es ging im gut, aber der Commander liess daraufhin den Bruder des Angreifers verhaften. Er war praktisch noch ein Kind.»
Doppelte Schikane
Die Schikane kommt aber nicht nur von den Soldat_innen. Auch einige israelische Siedler_innen zeigen sich aggressiv. Wenn sie die Palästinenser_innen mit Steinen bewerfen, sie sonst wie physisch attackieren, ihre Scheiben einschlagen, einbrechen und ihre Bäume zerstören, passiert einfach nichts. «Unsere Aufgabe ist nicht, sie auch zu beschützen», behauptet Becca nüchtern. «Die Palästinenser_innen in ihren privaten Räumen anzugreifen, bewirkt, dass sie sich verziehen.»
50 Jahre sind nicht mehr «temporär»
«Ich stehe heute hier, weil das alles keinen Sinn ergibt. Es gibt keine moralische Art der Kontrolle. Ohne Gewalt lässt sich niemand kontrollieren, der nicht kontrolliert werden möchte», stellt Becca fest. «Die ganze Situation ist nicht gerecht. Es geht aber nicht darum, eine Lösung dafür zu finden, sondern Unrecht zu reparieren. Und darüber zu reden gehört dazu.» Nicht alle sind darüber glücklich, das Veteran_innen wie sie oder Ori das Schweigen brechen. Vor allem zwischen 2015 und 2017 wurde «Breaking the Silence» zum Angriffsziel. «Wir wurden als Lügner_innen, anti-israel und antisemitisch bezeichnet. Manche konnten aufgrund von Morddrohungen nicht mehr ohne Sicherheitsleute unterwegs sein. Sie bekamen Anrufe mit Aussagen wie ‘Wir kennen den Namen deiner Tochter. Wir kennen den Namen deines Hundes …’», berichtet Becca. Und Ori ergänzt: «Wir leben immer noch nicht in einer demokratischen Gesellschaft». Beide stellen klar, dass sie nicht per se gegen das Militär sind, sondern gegen die Besatzungspolicy.
Wie weiter?
«Viele junge israelische Menschen wissen nicht einmal, dass es sich um eine Besatzung handelt», meint Becca. Ihr sei bewusst, dass es absurd klinge. Das sei aber nun mal das Resultat einer gut geölten Maschinerie in Medien und Bildung. Breaking the Silence informiert deshalb nicht nur im Ausland, sondern führt vor allem in Israel selber zahlreiche Informationsanlässe. Becca und Ori haben am Ende ihres Berichts noch eine Bitte an die Anwesenden: «Ihr habt eine Stimme! Sie wird gehört!» Okkupation sei ein internationales Thema. Auch Studierende an Schweizer Unis können Druck ausüben, um diesen Irrsinn zu beenden, indem sie Projekte wie Breaking the Silence finanziell fördern. «Niemand ist neutral, auch nicht ein Land wie die Schweiz. Wer nichts sagt, unterstützt das Unrecht.»
Breaking the Silence wurde von Diplomassistentin und Doktorandin Dominique Lysser am Departement für Zeitgeschichte eingeladen. Ermöglicht wurde dieser Anlass durch die enge Zusammenarbeit mit dem Forum für Menschenrechte in Israel und Palästina. Das ist ein Zusammenschluss von zwölf Nichtregierungsorganisationen, die sich für einen menschenrechtsbasierten Ansatz im Nahostkonflikt einsetzen.
- Webseite von Breaking The Silence
- Webseite des Departements für Zeitgeschichte
- Webseite von Dominique Lysser
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