Warum greifen manche Menschen in stressigen Situationen zu Essen, während andere cool bleiben? Eine neue Studie untersucht, wie Emotionen, Essanfälle und das Arbeitsgedächtnis zusammenhängen. Doktorandin Cindy Heinzmann vom Departement für Psychologie erklärt, worum es geht.
In Ihrer Studie untersuchen Sie den Zusammenhang zwischen Essanfällen, Emotionen und dem Arbeitsgedächtnis. Wie hängen diese Faktoren zusammen, und welche Fragestellungen möchten Sie damit beantworten?
Studien zeigen einen kausalen Zusammenhang zwischen Emotionsregulation (ER) und Essanfällen bei Binge Eating Störung. Es bleibt jedoch unklar, welche Mechanismen für diesen Zusammenhang verantwortlich sind. Aus Laborstudien ist bekannt, dass unser Arbeitsgedächtnis dabei eine zentrale Rolle spielt, indem die Auslastung des Arbeitsgedächtnisses die Fähigkeit, sich in herausfordernden Situationen selbst zu regulieren, beeinflusst. Weiter zeigen diese Untersuchungen, dass eine funktionale (adaptive) Emotionsregulation die Arbeitsgedächtniskapazität erhöht, während maladaptive Emotionsregulationsstrategien diese reduziert. In unserer von Schweizerischen Nationalfonds geförderten Studie untersuchen wir diese Zusammenhänge im Alltag und im Labor bei erwachsenen Personen (18-69 Jahre), die unter einer Binge-Eating-Störung leiden.
Sie rekrutieren Proband_innen mit einer Binge-Eating-Störung (BES). Wie wird BES in der Forschung genau definiert, und welche Kriterien sind dafür ausschlaggebend?
Das Kernmerkmal einer BES stellen objektive Essanfälle dar, wobei betroffene Personen innerhalb von ca. zwei Stunden eine erheblich grössere Nahrungsmenge zu sich nehmen als die meisten Menschen in einem vergleichbaren Zeitraum, unter vergleichbaren Bedingungen. Da die Definition einer «erheblich grössere Nahrungsmenge» Spielraum für subjektive Interpretation lässt, ist der erlebte Kontrollverlust während Essanfällen entscheidend. Das Erleben von Kontrollverlust kommt zudem meist zusammen mit schnellerem Essen, Essen ohne Hunger oder bis zu einem unangenehmen Völlegefühl vor. Nach den Essanfällen treten häufig Scham-, Ekel-, und Schuldgefühle, sowie Deprimiertheit auf, was zu einem Teufelskreis aus negativen Gefühlen und weiteren Essanfällen führt. Im Unterschied zur Bulimia Nervosa fehlen bei BES regelmässige kompensatorische Massnahmen wie Erbrechen oder exzessives Sporttreiben.
Wie leicht oder schwer kann eine Person selbst einschätzen, ob sie von BES betroffen ist oder ob es sich lediglich um gelegentliches Überessen handelt?
Ganz einfach ist diese Einschätzung nicht und im Zweifelsfall sollte dazu eine Fachperson in Klinischer Psychologie hinzugezogen werden. Am besten können wir «Überessen» von einem Essanfall unterscheiden, indem wir uns die Frage stellen, ob wir innerhalb eines bestimmten Zeitraums objektiv oder nur gemäss unserer Einschätzung (subjektiv) viel essen (Mengenkriterium). Weiter ist die Antwort auf die Frage entscheidend, ob wir dabei das Gefühl erleben, dass es nicht nur schwierig ist, weniger zu essen oder das Essen zu unterbrechen, sondern dass wir nicht in der Lage sind, mit dem Essen aufzuhören, bis wir uns unangenehm voll fühlen (Kriterium des Kontrollverlusts). Handelt es sich um einen Essanfall, so werden beide Fragen mit «Ja» beantwortet (objektiv grosse Mengen Essen, kombiniert mit dem Erleben von Kontrollverlust). Hingegen handelt es sich um Überessen, wenn zwar mehr gegessen wird als üblich oder Andere essen würden, aber ohne, dass dabei Kontrollverlust erlebt wird.
In Ihrer Studie induzieren Sie gezielt schlechte Laune. Wie genau wird das durchgeführt, und warum ist dieser Aspekt für Ihre Untersuchung von Bedeutung?
Die Forschung und unter anderem auch Arbeiten aus unserer Arbeitsgruppe zeigen, dass weniger schlechte Laune, aber das Erleben negativer Gefühle wie Stress, Frustration, Ärger, Traurigkeit, Verzweiflung, Langeweile oder Leere, wichtige Vorläufer für Essanfälle darstellen. Um den Einfluss dieser Gefühle und des Umgangs damit auf Essanfälle besser zu verstehen, induzieren wir im Labor negative Stimmung durch Bilder und Videos. In dieser Stimmung werden Proband_innen trainiert, verschiedene Strategien zur Emotionsregulation anzuwenden. Wir interessieren uns dafür, wie sich diese Strategien auf die Befindlichkeit und die BES auswirken.
Auf sozialen Medien gibt es einen Trend, bei dem Personen mit BES ihre täglichen Essensmengen dokumentieren und zeigen. Wie bewerten Sie diesen Ansatz – sehen Sie darin Potenzial, Risiken oder beides?
Bei Social-Media-Trends wie «What I eat in a day» oder «What I eat on a binge day» ist es wichtig, zwischen unterschiedlichen Intentionen der Creators zu unterscheiden. Nutzt ein Creator das Format, um funktionale Strategien wie Selbstfürsorge (z. B. unterstützende Selbstinstruktion) nach einem Essanfall zu fördern, um die negativen Gefühle besser aushalten zu können, kann das positive Effekte haben. In der Psychotherapie bei BES wird die Selbstbeobachtung der täglichen Nahrungsaufnahme in Kombination mit dem Protokollieren von situativen Bedingungen, Gedanken, körperlichen Zuständen und Gefühlen angewendet. Auf diese Weise hilft das Dokumentieren der Nahrungsaufnahme herauszufinden, was Essanfälle auslöst und aufrechterhält. Das blosse Dokumentieren der Essensmengen ist nicht nützlich, und den Fokus auf kompensatorisches Verhalten wie z.B. Erbrechen etc. zu legen, ist schädlich. Allgemein ist beim Konsum sozialer Medien zu beachten, dass wir selten so gut lernen, wie am Modell und dass wir die Modelle auf sozialen Medien genauso kritisch betrachten und aussuchen sollten wie im echten Leben …
Sie suchen weiterhin nach Proband’innen für Ihre Studie. Wie herausfordernd ist es, passende Personen zu finden? Und wie viele Menschen sind Ihrer Einschätzung nach insgesamt von BES betroffen?
Die BES ist die am weitesten verbreitete Essstörung mit einer Lebenszeitprävalenz (= es wird ermittelt, wie viele Personen irgendwann in ihrem Leben schon einmal an BES gelitten haben, Anmerkung der Redaktion) von 1,9 bis 4%. Zudem kommt sie bei Personen mit bei Geburt zugewiesenem weiblichen und männlichen Geschlecht beinahe gleich häufig vor, was die BES auf den ersten Blick zu einer leicht zugänglichen Zielgruppe für die Forschung machen könnte.
Für experimentelle Studien im Labor und Behandlungsstudien gilt allgemein, so auch für die BES, dass die Rekrutierung immer schwieriger verläuft als angenommen. Dies kann daran liegen, dass betroffene Personen selbst nicht erkennen, dass sie unter einer BES leiden, da das Störungsbild in der Allgemeinbevölkerung noch nicht ausreichend bekannt ist. Weitere Gründe beinhalten die Scham betroffener Personen, über ihr Problem zu sprechen und sich für eine Studie zum Thema anzumelden. Dies gilt vor allem fürs Überessen, was durch den gesellschaftlichen Druck, sich vermeintlich perfekt kontrollieren können zu müssen, verstärkt wird.
Unsere Forschungsgruppe arbeitet seit Jahren genau an der Überwindung dieser Schwierigkeiten und hat zum Ziel, das Verständnis und das gesellschaftliche Bewusstsein für die Behandelbarkeit von Essstörungen zu verbessern. In der aktuellen Untersuchung können wir dank der Unterstützung des SNF die finanzielle Vergütung betroffener Personen bei der Klärung unserer Forschungsfragen ermöglichen. */**
Betroffene Personen mit BES, die Behandlung suchen, informieren sich gerne über unsere Webpage (PTPS) über das Vorgehen. Neu bieten wir nebst der Behandlung in Präsenz ein begleitetes Onlineprogramm zur Behandlung der BES an unserer Praxisstelle an.
*Psychologiestudierende erhalten Versuchspersonenstunden für Ihre Teilnahme an den Untersuchungen.
** Alle weiteren Teilnehmenden können für ihre Teilnahme an beiden Teilstudien mit einem Betrag von insgesamt CHF 430CHF für ihren Aufwand entgolten werden.
________- Wollen Sie selbst an der Studie einnehmen? Besuchen Sie die Projekt-Website für weitere Informationen!
- Mehr zum Projekt auf der SNF-Website
- Psychotherapeutische Praxisstelle