Gynäkologie – Warum unser Gesundheitssystem divers denken muss

Gynäkologie – Warum unser Gesundheitssystem divers denken muss

Gynäkologische Praxen sind meist nur auf Frauen ausgerichtet – doch auch trans Männer und nicht-binäre Menschen brauchen diese medizinische Versorgung. Nina Schuler zeigt in ihrer Forschung, wie unser Gesundheitssystem diese Menschen oft ausschliesst und welche einfachen Massnahmen helfen könnten, das zu ändern. Für ihre Masterarbeit hat Schuler am Dies Academicus den Genderpreis erhalten.

Was hat Sie dazu motiviert, dieses Thema für Ihre Masterarbeit zu wählen? Gab es einen persönlichen oder gesellschaftlichen Anstoss?
Für mich war von Anfang an klar, dass ich mich einem Thema widmen möchte, welches mich nicht nur intellektuell fordert, sondern auch emotional berührt. Ein Thema, dass mir am Herzen liegt und mit dem ich auch etwas in der Gesellschaft auslösen kann. Geschlechterbasierte Diskriminierung ist leider immer noch Alltag in der Medizin. Umso extremer ist dies sichtbar, wenn Personen nicht den gesellschaftlichen Normen von Frau und Mann entsprechen. Trans Personen werden in der Gynäkologie noch immer stigmatisiert und oft übersehen – sei es durch einen Mangel an spezialisierten Fachärzt_innen oder durch die fehlende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihren spezifischen Bedürfnissen. Mit meiner Forschung möchte ich dazu beitragen, dieses Tabu zu brechen, Sichtbarkeit zu schaffen und langfristig eine sensiblere, inklusivere Versorgung zu fördern.

Sie sprechen in Ihrer Arbeit über das binäre und cis-normative System im Gesundheitswesen. Was ist das?
Unser Gesundheitssystem in der Schweiz ist darauf ausgelegt, Menschen als entweder männlich oder weiblich einzuordnen. Das zeigt sich besonders in der Gynäkologie, die ausschliesslich für Frauen gedacht ist. Nicht-binäre Personen oder trans Männer müssen sich diesem System anpassen, um eine Behandlung zu bekommen. Oft bedeutet das, dass sie sich rechtfertigen müssen, damit die Krankenkasse beispielsweise die Kosten übernimmt. In dem aktuellen binären Versicherungssystem existieren nämlich noch immer keine Vorlagen, die es erlauben, eine gynäkologische Behandlung bei einem Mann abzurechnen.

Der Begriff cis-normativ bedeutet, dass es als selbstverständlich angesehen wird, dass alle Menschen sich mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde (also cisgeschlechtlich sind). Ein Beispiel für cis-normative Strukturen sind Formulare, die nur die Optionen «männlich» und«weiblich» anbieten, oder die Annahme, dass alle Frauen einen Uterus haben und alle Männer nicht. Personen, die nicht diesen gesellschaftlichen Vorstellungen von Mann und Frau entsprechen, werden systematisch ausgeschlossen und benachteiligt.

Wie sieht die Diskriminierung von trans Menschen bei der gynäkologischen Versorgung konkret aus? Haben Sie ein paar Beispiele?
Die Diskriminierung von trans Personen findet auf unterschiedlichsten Ebenen statt und betrifft zahlreiche Bereiche der medizinischen Versorgung. Sie beginnt schon vor der eigentlichen Konsultation. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein trans Mann (also eine Person, welche bei Geburt das weibliche Geschlecht zugeordnet bekommen hat, sich aber als Mann identifiziert und von der Gesellschaft auch so gelesen wird). Sie haben weibliche Genitalien, nehmen jedoch männliche Hormone. Braucht es also noch gynäkologische Vorsorgeuntersuchungen? Auf der pink gestalteten Homepage der FRAUEN-Klinik gibt es nur Infos zu Vorsorgeuntersuchungen bei cis Frauen. Am Telefon müssen Sie sich erklären und rechtfertigen, wieso Sie als Mann einen Termin in der FRAUEN-Klinik wollen. Zusammen mit vier schwangeren Frauen sitzen Sie dann im ebenfalls rosa gestalteten Wartezimmer. An den Wänden hängen Poster von Weiblichkeit und Kinderwunsch. Die Urinprobe geben Sie auf dem Frauen-WC ab, bevor sie mit FRAU Müller aufgerufen werden und ins Konsultationszimmer gebracht werden. Der Arzt hat scheinbar noch nie mit einer trans Person gearbeitet und fragt Sie deshalb in einer übergriffigen Art und Weise über Ihren «exotischen» Zustand aus. Sie fühlen sich bei dieser Befragung nackter als kurz darauf auf dem Gynäkologiestuhl. Während der Untersuchung plagen Sie enorme Schmerzen und negative Gefühle, auf die nicht eingegangen werden. Mit einem mulmigen Gefühl gehen Sie aus der Praxis, Sie wissen nicht, ob Ihre Versicherung die Untersuchung zahlt, da Sie dort als Mann angemeldet sind.

Welche Rolle spielt die Ausbildung von medizinischem Fachpersonal in der Verbesserung der Versorgung von trans Menschen? Gibt es bereits positive Ansätze?
In diesem Bereich ist noch sehr viel zu tun. Ein fundiertes Fachwissen ist eine wichtige Grundlage für jede Behandlung. Oft ist es gar nicht so einfach, an dieses Fachwissen zu gelangen, da der Fokus in der Forschung aber auch in der Aus- und Weiterbildung von Ärzt_innen anders gesetzt wird. Umso wichtiger ist es also, dass man selbst Initiative und ein gewisses Engagement zeigt, sich fehlendes Wissen anzueignen. Dafür gibt es erfreulicherweise auch schon viele gute Angebote. An der Unifr hatten wir beispielsweise mehrmals Kurse zu diesem Thema und es wurden trans Personen für Gespräche eingeladen. Ausserdem gibt es zahlreiche Events und Kurse, die von diversen Organisationen und Vereine wie TGNS Schweiz durchgeführt werden. Ich glaube, es lohnt sich, mutig zu sein und seinen Horizont zu erweitern sowie mit den Menschen in Kontakt zu treten.

Inwiefern hat die Arbeit an diesem Thema Ihre eigene Perspektive auf Geschlechtsidentität und medizinische Versorgung verändert?
Ich glaube ich sehe die Welt nun mehr in Spektren und nicht mehr in Kategorien. Als Ärztin ist man sich daran gewöhnt, alles in gesund oder krank einzuteilen, in normal oder abnormal. Davon probiere ich mich immer mehr zu distanzieren. Und ich habe gemerkt, dass diese Denkweise auch sehr viele Vorteile für cis Menschen bringt. Es spielt weniger Wertung mit und die Leute fühlen sich mehr gesehen und angenommen.

Sie haben im Rahmen des Dies Academicus 2024 den Genderpreis erhalten. Welche Pläne haben Sie für die Verwendung des Preisgeldes?
Aktuell schreibe ich gerade meine Doktorarbeit in der Medizin, zum gleichen Thema. Das Preisgeld kann ich dort gut gebrauchen. Es wird also direkt wieder in neue Forschung investiert, die gegen geschlechtsbedingte Diskriminierung im Gesundheitswesen vorgehen soll.

Zum Schluss: Welche praktischen Empfehlungen könnten gynäkologische Praxen sofort umsetzen, um trans/nicht-binäre Menschen besser zu unterstützen?
Als erstes sollte einfach ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass trans Personen zum Klientel der Gynäkologie gehören und nicht ausgeschlossen werden dürfen. Dafür lohnt es sich, seine eigenen Vorstellungen von Mann und Frau zu reflektieren. Welche – vielleicht auch unbewusste – Vorurteile hat man in diesem Bereich und wo fehlt es noch an Wissen? Kleine Veränderungen können schon viel bewirken, sei es geschlechtsneutrale Toiletten oder Infobroschüren, die sich nicht ausschliesslich an cis hetero Frauen mit Kinderwunsch richten. Eine inklusivere Auswahl an Pronomen bei Anmeldeformularen oder eine geschlechtsneutralere Gestaltung der Praxis oder Homepage kann ebenfalls helfen. Besonders wichtig finde ich dabei immer, dass man nicht vor dem Thema zurückschreckt. Trans Personen sind keine exotischen Wesen, welche auf eine Spezialbehandlung angewiesen sind und in Watte gepackt werden müssen. Was sie wirklich brauchen, das findet man am einfachsten heraus, wenn man mit diesen Menschen direkt in Kontakt tritt, sei es an einem Event, einer Fortbildung oder im Privatem. Natürlich immer in einem respektvollen und wohlwollendem Rahmen.

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Author

Lovis Noah Cassaris ist Germanist_in, Philosoph_in und Autor_in, seit 2018 zudem Redaktor_in und Social-Media-Expert_in im Team Unicom. Lovis bezeichnet sich selbst als Textarchitekt_in und verfasst in der Freizeit Romane und Kurzgeschichten.

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