Zwischen Regulierung und Meinungsfreiheit: Wie Plattformen die Demokratie herausfordern

Zwischen Regulierung und Meinungsfreiheit: Wie Plattformen die Demokratie herausfordern

Online-Plattformen wie X, TikTok oder YouTube beeinflussen zunehmend die öffentliche Debatte – und damit auch die Demokratie. Doch wie weit darf Regulierung gehen, ohne die Meinungsfreiheit zu gefährden? Unsere Expert_innen Anna Jobin und Manuel Puppis sprechen über die Herausforderungen der Plattform-Ökonomie, algorithmische Macht und mögliche Alternativen.

Vermehrt wird darüber diskutiert, welche Gefahren Online-Plattformen wie X, TikTok oder YouTube für die Demokratie mit sich bringen. Ob und wie sie reguliert werden sollen ist aber hoch umstritten. Warum löst das Thema so heftige Reaktionen aus (siehe Shitstorm bei Nationalrätin Meret Schneider)?
Puppis: Wie viel Regulierung wünschbar und nötig ist, ist in der Politik immer umstritten. Wenn es um das Thema Kommunikation geht, gilt das umso mehr. Denn die Regulierung von Medien und Plattformen berührt unmittelbar Fragen von Meinungsäusserungs- und Medienfreiheit, weshalb besondere Vorsicht geboten ist. Kommt hinzu: Das Internet ist ein globales Netzwerk, womit auch unterschiedliche Rechtsauffassungen aufeinanderprallen. In Europa ist die Rechtslage klar: Einschränkungen der Meinungsäusserungsfreiheit sind erlaubt, wenn dies der Wahrung berechtigter öffentlicher Interessen dient. Auf dieser Grundlage können Nationalstaaten Inhalte wie Hassrede, grausame Gesamtdarstellungen oder extreme Pornographie für illegal erklären. Und daran müssen sich auch Plattformen halten, doch sind sie der Aufgabe meistens nicht gewachsen. Noch schwieriger ist es bei legalen, aber potenziell schädlichen Inhalten, wie beispielsweise Desinformation. Dort setzen Plattformen in Eigenregie Regeln auf und löschen Inhalte oder sperren Nutzerkonten. Beschwerden gegen Entscheidungen sind kaum möglich. Da stellt sich schon die Frage, ob US-amerikanische oder chinesische Plattformen darüber entscheiden sollen, was in der Schweiz gesagt werden darf und was nicht.

Jetzt geht es aber nicht nur um Inhalte. Algorithmen entscheiden zunehmend darüber, welche Informationen Nutzer_innen sehen. Gibt es Strategien, wie Nutzer_innen sich dagegen wehren können?
Puppis: In der Tat ist es ein Problem, dass Plattformen mit ihren Algorithmen darüber entscheiden, welche Inhalte von welchen Anbieter_innen welchen Nutzer_innen angezeigt werden und welche nicht. Damit nehmen Plattformen ähnlich wie Medienkonzernen Einfluss auf die Meinungsbildung.

Jobin: Im Zeitalter des digitalen Informationsüberflusses geht es nicht ohne Sortierung und Priorisierung von Inhalten. Nutzende beeinflussen dies zum Teil aktiv, indem sie der Plattform signalisieren, welche Inhalte sie bevorzugen, aber auch passiv durch ihr Klick- und Konsumverhalten. Die sogenannte Digitale Selbstverteidigung gibt Einzelnen zwar hilfreiche Tipps, wie man weniger getrackt wird. Letztlich aber optimieren diese algorithmischen Systeme aber für Plattformprofite, oder sonstige Ziele ihrer Besitzer_innen, und nicht nach demokratischen oder publizistischen Prinzipien.

Puppis: Deshalb wäre es auch nötig, dass wir über nicht-kommerzielle Alternativen zu den bestehenden Plattformen nachdenken, die nach den Regeln der Schweizer Demokratie funktionieren. Denn kommerzielle Plattformen haben keinerlei Anreize, andere als ihre eigenen unternehmerischen Interessen zu verfolgen. Hinzu kommt, dass diese Konzerne über grosse Marktmacht verfügen, die sie auch missbrauchen können.

Oft wird betont, dass auch Medien- und Digitalkompetenz der Bevölkerung eine Rolle spielt. Welche konkreten Massnahmen wären hier sinnvoll? Reicht es aus, wenn Nutzer_innen «medienkompetenter» werden, oder braucht es strukturelle Veränderungen?
Jobin: Medien- und Digitalkompetenzen sind essenziell. Sie reichen jedoch allein nicht aus, die grundlegenden Probleme zu lösen, da die Gestaltungsmacht fast unilateral bei ein paar wenigen Plattformen liegt. Neben der Förderung individueller Fähigkeiten zum kritischen und reflektierten Umgang mit digitalen Medien sind deshalb auch strukturelle Veränderungen notwendig. Dazu braucht es Regulierung, beispielsweise als Gegengewicht zu monopolistischen Dynamiken, zum Schutz vor exzessiver Datensammlung sowie zur Schaffung unabhängiger Infrastrukturen. Nur so können Bürgerinnen und Bürger in einer digitalen Welt auch wirklich mündig handeln.

Ist es nicht illusorisch, wenn die Schweiz Plattformen zu regulieren versucht? Werden die Schweiz und Europa dadurch nicht eher vom Rest der Welt abgehängt?
Jobin: Die Schweiz steht nicht allein in ihrem Bestreben, Plattformen zu regulieren. Die Europäische Union hat mit dem Digital Services Act (DSA) und dem Digital Markets Act (DMA) bereits umfassende Regelwerke geschaffen. Nationale Regulierung ist daher nicht illusorisch, sondern ein notwendiger Schritt, um den monopolistischen Einfluss grosser Plattformen zu begrenzen und Innovation zu fördern. Internationale Koordination bleibt dabei wünschenswert, aber auch auf nationaler Ebene gibt es Handlungsspielraum.

Ist Regulieren nicht hochpolitisch? Können wir den Regulierungsprozess demokratisieren, ausgewogen gestalten? Wie soll das gehen?
Puppis: Aus der Forschung wissen wir: Nicht zu regulieren ist genauso politisch wie zu regulieren. Die entscheidende Frage lautet: Wer profitiert vom Verzicht auf Regulierung oder von der Einführung bestimmter Regulierung? Geht es um die Wahrung des öffentlichen Interesses oder um die Bedienung der Spezialinteressen weniger Akteure? Und natürlich verfügen nicht alle Akteure über gleich viel Einfluss in der Politik. Plattformen sind deutlich mächtiger als NGOs. Den Medien kommt deshalb eine wichtige Rolle zu, diese Prozesse zu beleuchten.

Viele Forschende und Hochschulen nutzen soziale Medien, um ihre Forschungsergebnisse zu kommunizieren. Angesichts der aktuellen Entwicklungen bei Meta und X: Welche Herausforderungen sehen Sie für die Wissenschaftskommunikation auf diesen Plattformen? Sollten Hochschulen alternative Kanäle fördern? Haben Sie Favoriten (Mastodon, Bluesky etc.)?
Jobin: Bisherige Tendenzen verstärken sich zunehmend. Hochschulen und wissenschaftliche Institutionen allgemein zeigen schon seit einigen Jahren Leadership, indem sie in wissenschaftliche Kommunikationsinfrastruktur investieren wie Repositories, Scholar-led Publishing, Open Source Plattformen. Die Association of Internet Research AoIR beispielsweise hat für ihre Mitglieder eine Mastodon-Instanz geschaffen, was ich sehr schätze.

Puppis: Das Umfeld auf X erlebe ich mittlerweile als toxisch. Gehaltvolle Diskussionen kommen keine mehr zustande; Beiträge haben nur noch eine geringe Visibilität. Unterdessen bin ich vor allem auf Bluesky aktiv, weil dort eine kritische Masse an interessanten Menschen aus Wissenschaft, Politik und Medien erreicht wurde. Mit Blick auf die Probleme von Plattformen verfolgt aber Mastodon mit seinem föderierten Netzwerk den demokratiepolitisch richtigen Ansatz.

Unsere Expert_innen

Anna Jobin ist Oberassistentin am interfakultären Institut Human-IST. Sie forscht zu den gesellschaftlichen und ethischen Aspekten von Künstlicher Intelligenz. Manuel Puppis ist Professor für Medienstrukturen und Governance am Departement für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung DCM. In seiner Forschung interessiert er sich für Medienpolitik und die Digitalisierung von Öffentlichkeit in vergleichender Perspektive. Anna Jobin ist Präsidentin, Manuel Puppis Vizepräsident der Eidgenössischen Medienkommission (EMEK), die den Bundesrat berät.

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Author

Lovis Noah Cassaris ist Wissenschaftler’in (Dr. in Deutscher Sprachwissenschaft), Schriftsteller’in und nach einem CAS am MAZ auch als freie’r Wissenschaftsjournalist’in tätig. Seit 2018 arbeitet Lovis in der Redaktion von Unicom Kommunikation & Medien der Universität Freiburg.

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