Der Vigener-Preis ist für Gina Nenniger eine Anerkennung ihrer Forschungsarbeit im Bereich Autismus-Spektrum-Störung. Im Interview erklärt die junge Forscherin, welche Herausforderungen und Potenziale Kinder mit Autismus im sozialen Umfeld erleben.
Wie war es für Sie, als Sie erfahren haben, dass Sie den Vigener-Preis bekommen?
Ich habe mich sehr gefreut und geehrt gefühlt. Es ist sehr schön, mit etwas Abstand zur Dissertationsverteidigung und zur Veröffentlichung der Dissertationsschrift, eine solche Wertschätzung der geleisteten Arbeit zu erhalten.
Was werden Sie mit dem Preisgeld machen?
Das habe ich mir ehrlich gesagt noch nicht überlegt. Mir wird aber bestimmt noch etwas Tolles einfallen.
Was hat Sie persönlich dazu bewegt, das Thema «Peereinfluss und Autismus-Spektrum-Störung» zu erforschen? Gab es ein bestimmtes Ereignis oder eine persönliche Erfahrung, die Sie dazu inspiriert hat?
Nach dem Masterstudium in Schulischer Heilpädagogik an der Universität Freiburg konnte ich durch meine Tätigkeit als Schulische Heilpädagogin erste Erfahrungen im Umgang mit Schüler_innen mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) sammeln. Zu diesem Zeitpunkt war es für mich jedoch noch nicht absehbar, dass ich in diesem Bereich forschen werde. Erst als ich die Diplomassistenzstelle an der Universität Freiburg erhalten habe und in diesem Rahmen unter anderem an dem von Prof. Dr. Christoph Müller geleiteten Forschungsprojekt «KomPeers» mitarbeiten durfte, hat sich dieses Thema für mich herauskristallisiert. Nun begleitet mich das Thema «Peereinfluss und ASS» schon seit vielen Jahren und das Interesse daran hat sich bei mir stetig intensiviert.
Wer gehört alles zum Autismus-Spektrum? Zählt Hochbegabung auch dazu?
Der Begriff Spektrum soll zum Ausdruck bringen, dass die ASS sehr viele verschiedene Erscheinungsformen haben kann. Alle Personen mit einer ASS zeigen entsprechend diagnostischer Kriterien Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation und der sozialen Interaktion sowie eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten. Die sprachlichen oder intellektuellen Kompetenzen von Personen mit ASS können jedoch sehr unterschiedlich ausgeprägt sein. Es wird davon ausgegangen, dass zwischen rund 30 bis 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit ASS auch eine intellektuelle Beeinträchtigung aufweisen, wobei die Häufigkeit je nach Studien sehr unterschiedlich ausfallen. Dementsprechend gibt es auch Personen mit ASS, die über durchschnittliche bis überdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten verfügen. Grundsätzlich sind Hochbegabung und ASS zwei verschiedene Dinge. Wird die Intelligenz als Indikator für Hochbegabung angesehen, gibt es aber durchaus Personen mit ASS, die hochbegabt sind. Der Anteil an Personen mit ASS mit einer intellektuellen Hochbegabung ist jedoch, wie in der Gesamtbevölkerung auch, sehr gering. Im Rahmen meines Dissertationsprojektes lag der Fokus auf Kinder und Jugendlichen mit ASS und einer intellektuellen Beeinträchtigung, die in der Forschung oft eine unterrepräsentierte Personengruppe darstellen.
Welche Herausforderungen erleben Kinder mit Autismus im Schulalltag im Kontakt mit Gleichaltrigen? Gibt es Unterschiede in der Art und Weise, wie sie Freundschaften erleben oder pflegen?
Im schulischen Alltag erleben Kinder und Jugendliche mit ASS vielfältige soziale Herausforderungen. So zeigen sie beispielsweise häufig Schwierigkeiten, Kontakt zu Gleichaltrigen aufzubauen oder aufrecht zu erhalten. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass es ihnen oft schwerfällt, zu erkennen oder zu verstehen, was andere Menschen denken oder fühlen. Obwohl Kinder und Jugendliche mit ASS oft Mühe haben, Freundschaften einzugehen und zu pflegen, ist der Wunsch nach Freundschaften und sozialen Beziehungen aber häufig vorhanden. Daher ist es wichtig, Kinder und Jugendliche mit ASS entsprechend ihrer Bedürfnisse und Interessen dabei zu unterstützen, Freundschaften zu knüpfen und soziale Kontakte zu pflegen.
Haben Sie Beispiele, wie positive oder negative Peer-Erfahrungen das Verhalten oder Wohlbefinden von Kindern im Autismus-Spektrum beeinflussen können?
In einer Interview-Studie, die ich im Rahmen meines Dissertationsprojektes durchgeführt habe, gaben Fachpersonen Auskunft über ihre Beobachtungen im Schulalltag. Die Fachpersonenberichte deuten darauf hin, dass verschiedene Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen mit ASS und tiefen Alltagskompetenzen im schulischen Kontext durch die Peers beeinflusst werden. Es wurde beispielsweise berichtet, dass Schüler_innen mit ASS das Spiel- oder Malverhalten von den Peers nachmachen oder auch vorgesagte Wörter oder Sätze von den Peers nachsprechen. Diese Beispiele können als positive Peer-Erfahrungen gedeutet werden, weil dadurch die eigenen Kompetenzen ggf. erhöht bzw. erweitert werden können. Generell können Peereinflussprozesse jedoch sowohl positiv als auch negativ sein. Es kommt immer darauf an, welche Verhaltensweisen im Fokus stehen und ob ein Verhalten durch die Peers ggf. verstärkt oder abgeschwächt wird.
Glauben Sie, dass Schulen heute genug tun, um die Bedürfnisse von Kindern mit Autismus im sozialen Bereich zu berücksichtigen? Was könnte verbessert werden?
Ich denke, dass es im Hinblick auf die Sensibilisierung im Umgang mit Schüler_innen mit ASS im Schulkontext in den letzten Jahren Fortschritte gab. In meiner Wahrnehmung gibt es viele Schulen und Lehrpersonen, die in Zusammenarbeit mit Fachpersonen und Fachstellen einen grossen Effort leisten, um Schüler_innen mit ASS im schulischen Kontext bestmöglich zu unterstützen. Gleichzeitig scheint es aber zwischen Schulen und zwischen Lehrpersonen grosse Unterschiede zu geben, was zum einen mit dem Wissensstand über die ASS sowie mögliche Unterstützungsmöglichkeiten und zum anderen auch mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen zu tun haben kann. Die Unterstützung von Schüler_innen mit ASS scheint dabei noch häufig auf das Individuum selbst fokussiert zu sein (z. B. auf die individuelle soziale Kompetenzerhöhung von Schüler_innen mit ASS), was auch sehr wichtig ist. Die Ergebnisse meiner Untersuchungen legen nahe, dass es zudem sinnvoll sein kann, auch kontextuelle Faktoren, insbesondere die Peers, vermehrt in den Fokus zu rücken. Dabei kann die Lehrperson eine wichtige Rolle einnehmen, indem sie im Schulalltag, z. B. durch strukturierte Settings und gezielte Gruppeneinteilung die nötigen Voraussetzungen schafft, damit Schüler_innen mit ASS von sozialen Lernprozessen unter den Peers profitieren können. Dafür brauchen sie im natürlichen Peerkontext unter Umständen eine Art soziale Übersetzungsleistung von der Lehrperson oder von den Peers, um soziale Prozesse zwischen den Peers oder soziale Hinweise verstehen zu können (z. B. verbalisieren, was Peers in einer bestimmten Situation möglicherweise denken oder fühlen).
Welche Arten von Interventionen könnten auf Basis Ihrer Forschung im schulischen Umfeld entwickelt werden, um Kinder mit Autismus besser zu unterstützen?
Auf der individuellen Ebene gibt es bereits einzelne erfolgsversprechende Interventionen, die darauf abzielen, dass Kinder und Jugendliche mit ASS lernen, Peerinteraktionen und Peerdruck besser zu verstehen, und z. B. zwischen positiven und negativen Peerinteraktionen zu unterscheiden. Häufig fällt es Schüler_innen jedoch schwer, solche Kompetenzen auch im natürlichen Schulkontext anzuwenden. Wie bei der vorangegangenen Frage kurz angedeutet, sollten daher zusätzlich Interventionen entwickelt werden, um Schüler_innen mit ASS in ihrem natürlichen Schulkontext zu unterstützen. Ich persönlich fände es sehr spannend, eine Intervention zu entwickeln, die darauf abzielt, Lehrpersonen und ggf. auch Peers auszubilden, um Schüler_innen im natürlichen Schulkontext durch soziale Übersetzungsleistungen (z. B. auf sozial kompetentes Verhalten von Peers aufmerksam machen oder soziale Hinweise verbalisieren und erklären) zu unterstützen, damit sie möglichst von sozialen Lernprozessen profitieren können.
Welche weiteren Fragen haben sich aus Ihrer Forschung ergeben? Gibt es Aspekte des Peereinflusses auf autistisches Verhalten, die Sie in Zukunft noch weiter erforschen möchten?
Je länger ich in diesem Bereich geforscht habe, desto mehr konnte ich meine Expertise darin erweitern, desto mehr Fragen haben sich mir aber auch wieder neu eröffnet. In meinem Dissertationsprojekt habe ich Peereinfluss auf autistisches Verhalten in Sonderschulsettings untersucht. Diese Ergebnisse lassen sich nicht direkt auf Peereinflussprozesse in integrativen Settings übertragen. Für die Zukunft wäre es daher sehr spannend, auch Peereinflussprozesse auf autistisches Verhalten in integrativen Klassen zu untersuchen, da sich in diesem Setting die kontextuellen Merkmale, wie die Klassengrösse, die Kompetenzen der Peers, oder auch die Anwesenheit von Fachpersonen vom Sonderschulsetting unterscheiden.
Was würden Sie Eltern und Lehrpersonen raten, um das Miteinander von Kindern mit und ohne Autismus zu fördern?
Meine Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass kontextuelle Merkmale, spezifisch das Verhalten der Peers, die autistischen Verhaltensweisen von Schüler_innen mit ASS beeinflussen können. Dies scheint insbesondere bei Mädchen mit ASS der Fall zu sein. Daher ist es wichtig, nicht nur individuelle sondern auch kontextuelle Merkmale bei der Förderung und Unterstützung von Schüler:innen in ihrem natürlichen Umfeld zu berücksichtigen. Konkret können Lehrpersonen z. B. gut strukturierte Gruppenarbeiten mit gezielter Gruppeneinteilung und klaren Aufgaben planen, die es Schüler_innen mit ASS erleichtern, gemeinsam mit und von ihren Peers zu lernen. Eltern können im Rahmen ihrer Möglichkeiten ihre Kinder ermutigen, soziale Kontakte zu knüpfen und einen Rahmen für soziale Interaktionsmöglichkeiten schaffen. Dabei kann es hilfreich sein, die speziellen Interessen der Kinder und Jugendlichen mit ASS zu berücksichtigen oder gezielt auf spezifische Kontakte bzw. ergiebige Einzelkontakte zu fokussieren. Allgemein kann es unterstützend wirken, regelmässig Situationen zu schaffen, die es Schüler_innen mit ASS trotz ihrer sozialen Herausforderungen ermöglichen, an sozialen Lernprozessen teilzunehmen, um ggf. von ihren Peers profitieren zu können.
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