Forschungsprojekte: Abstracts 

  • Bücher und Identitäten — Literarische Reproduktionskulturen der Vormoderne

    Ein Projekt des Schweizerischen Nationalfonds

    Laufzeit: 2015–2018

    Die Materialitätsforschung der letzten Jahrzehnte hat den Blick auf die Bedeutung des Buches als Objekt gelenkt. Das Forschungsprojekt schliesst hier an, setzt aber einen neuen Akzent durch die Erweiterung der Perspektive auf die Gesamtheit des historisch-situativ gefassten Reproduktionsprozesses, in dessen Zentrum das vormoderne Buch als greifbarer Bündelungs- und Brechungspunkt steht.

     

    Bei der (Re-)Produktion eines Textes im Buchkörper verdichten sich historisch konkrete Gegebenheiten und Interessen, kulturelle Vorstellungen und literarische Diskurse, die den Produzenten räumlich-zeitlich begrenzt umgeben und beeinflussen; sie werden im Vorgang der Text- und Buchwerdung aufgenommen, gebrochen und transformiert. In diesem Prozess spielt die Identität des Produzenten eine zentrale Rolle: Einerseits prägt sie die spezifische Gestaltung des Buches, andererseits kann er sie durch verschiedene Modi der Inszenierung, Markierung oder Kaschierung von Autorschaft gezielt konstruieren.

     

    In seiner so geschaffenen, situativ bedingten und zugleich historisch einmaligen materiellen Gestalt wirkt der Text bei seiner Aufnahme durch die jeweiligen historischen Rezipienten auf seine Umgebung zurück, indem er an deren je eigener Lebenswirklichkeit partizipiert. Das Buch schafft Anschlussstellen für die Identitätsprofilierung der Rezipienten, die es vor einem bestimmten Erwartungshorizont benutzen. Die Wirkung auf die Rezipienten kann, muss aber nicht der Intention des Produzenten entsprechen. Rezeptionsvorgänge, die alternatives Sinnpotential freisetzen, können in neue, anders akzentuierte Reproduktionsprozesse münden.

     

    So erlaubt die prozesshafte Perspektive hinsichtlich der Rezeption eines so gestalteten Textes die Differenzierung zweier Aspekte, die den Reproduktionsvorgang auf unterschiedliche Weise prägen. Einerseits beeinflussen die vom Autor erwartete und intendierte Rezeption seines Werks, sein Wissen oder seine Annahmen über die Erwartungshorizonte möglicher Rezipienten, bereits im Schaffensprozess die Faktur des Buches; andererseits wirkt das Buch im Sinne des klassischen Rezeptionsbegriffs in seiner so geschaffenen, situativ bedingten und zugleich historisch einmaligen materiellen Gestalt bei seiner Aufnahme durch die jeweiligen historischen Rezipienten wiederum auf seine Umgebung zurück.

     

    Die so gefassten literarischen Reproduktionskulturen werden im Projekt anhand von Fallbeispielen über eine breite historische Zeitspanne vom 14. bis zum frühen 17. Jahrhundert analysiert. In allen Fällen sind zugleich editorische Neuerschliessungen geplant, die stets vom ganzen Buch, seiner Entstehung und seinem Gebrauch, nicht vom Einzeltext ausgehen. Die Verbindung von historisch gestuften Mikroerschliessungen einzelner (Re-)Produktionsprozesse mit der diachronen Makroperspektive des Projektrahmens verspricht neben dem historisch-philologischen auch systematischen Erkenntnisgewinn zur historisch-situativen Dynamik vormoderner Text- und Buchproduktion.

    Fallstudien
    • Die Hs. Freiburg, UB, Hs. 473 als Zugang zur Funktion annalistischer Aufzeichnungen für die Ausbildung eines historischen Welt- und Selbstverständnisses (1. Hälfte 14. Jh.) 
      Bearbeiter: Eckart Conrad Lutz 
      Diese Studie erweist einen kleinformatigen Codex, der eine Judendisputation und eine Chronik enthält, als konzeptuelle Einheit, deren jahrelanger arbeitsteiliger Entstehungsprozess (acht Hände) das anhaltende Interesse an der kollektiven Identität (wohl einer Deutschordenskommende) voraussetzt und diese zugleich im Akt des Lesens und Fortschreibens bestätigt und fördert.  
    • Schriften, Bücher und die Strassburger Gottesfreunde’. Mit einer Neuedition des Briefbuchs’ des Johanniterkommende Zum Grünen Wörth’ (spätes 14. Jh.)
      Bearbeiter: Stephan Lauper 
      In dieser Studie geht es um ein Kettenbuch (das ‚Briefbuch’ der Johanniterkommende ‚Zum Grünen Wörth’ in Strassburg), das in einzigartiger Weise inhaltlich (Texte), archivierend (Briefe, Verzeichnisse) und material (Reliquiencharakter von Stifter-Autographen) die Institution repräsentiert und die spirituelle Identität ihrer Angehörigen verkörpert.  
    • Der Passionstraktat des Nikolaus Schulmeister. Edition des Autographs und Untersuchungen zu Strategien der Vermittlung geistlicher Bildung (Ende 14. bis Mitte 15. Jh.)
      Bearbeiterin: Béatrice Gremminger
      Das Buch, das im Zentrum dieser Studie steht, ist auf Text- und Materialebene so eingerichtet, dass es eine doppelte mediale Funktion für die Identitätsbildung seiner intendierten Rezipientin erfüllt: Es stellt nicht nur durch seine Texte geistliche Inhalte bereit, sondern vergegenwärtigt durch seine spezifische Materialität (Autograph, Interpunktion, Text-Bild-Kombination) auch den Produzenten selbst, der sich dem Buch implizit als Begleiter der Rezipientin einschreibt.  
    • Produktion und Rezeption: Der Heidelberger ‚Eneas‘ cpg 403, die beiden ‚Willehalm‘-Handschriften cpg 323 und Stuttgart HB XIII 2 und die ‚Elsässische Werkstatt von 1418‘ (1. Hälfte 15. Jh.)Drei Handschriften aus der ‚Elsässischen Werkstatt von 1418‘, von denen zwei durch denselben Schreiber, Hans Coler, und zwei durch denselben Stoff, Rudolfs von Ems ‚Willehalm‘, miteinander verbunden sind, sollen – vor dem Hintergrund der Stofftradition – verglichen werden, um so Lösungsansätze für Fragen ermöglichen, die sich im Zusammenhang mit Werkanspruch, Produktionsbedingungen und möglichen Rezeptionsformen stellen.
      Bearbeiterin: Bettina Peterli (nicht durch den SNF finanziert) 
    • Autographa. Buchproduktionsprozesse und Inszenierungen von Autorschaft (15. Jh.)
      Bearbeiterin: Nicole Eichenberger
      Die Frage nach unterschiedlichen Formen der Inszenierung von Autorschaft steht im Zentrum dieser Studie. Anhand von fünf historisch greifbaren Personen, die auf ganz unterschiedliche Weise an Text- und Buchproduktionsprozessen beteiligt waren, wird die Bedeutung dieser Inszenierungen sowohl für die Identität der Produzenten als auch für die Rezeptionsprozesse, die durch die jeweiligen Bücher angestossen werden sollen, analysiert.  
    • Reformation und Romanpoetik. Druckausgaben frühneuzeitlicher deutschsprachiger Prosaromane als Ort (re-)produktiver Verschränkung von Glauben und Ästhetik (16. Jh.)
      Bearbeiterin: Christine Putzo (Université de Lausanne)
      Diese Studie gilt reproduktiven Prozessen der Verschränkung von Glauben und Ästhetik in ausgewählten Exemplaren frühneuzeitlicher Prosaromane, die als greifbare Zeugen der Komposition, Drucklegung und Rezeption eines Textes in seiner jeweils historisch-situativ gebundenen Signifikanz gefasst werden. 

     

    Forschergruppe

    Nicole Eichenberger, Doktorassistentin / Habilitandin

    Béatrice Gremminger, Wissenschaftliche Mitarbeiterin / Doktorandin

    Stephan Lauper, Doktorand

    Eckart Conrad Lutz, o. Prof.

    Bettina Peterli, Diplomassistentin / Doktorandin

    Christine Putzo, MER (Université de Lausanne)

     

    Aktivitäten

    Internationaler Workshop ‚Text – Buch – Kontext’

    Freiburg, 21./22. September 2015

    Beteiligte Institutionen: Universitäten Freiburg, Lausanne, Bochum, Wien

    Programm

     

    Internationales Colloquium ‚Bücher und Identitäten. Literarische Reproduktionskulturen der Vormoderne’

    Freiburg, 14.–17. September 2016 

    Programm

     

    Publikationen 

    Gremminger, Béatrice, Lesen im Passionstraktat des Nikolaus Schulmeister. Text, Bilder und Einrichtung des Engelberger Autographs von 1396, in: Lesevorgänge (s.u.), Zürich 2010, S. 459–482.

     

    Lutz, Eckart Conrad, Martina Backes u. Stefan Matter (Hg.), Lesevorgänge. Prozesse des Erkennens in mittelalterlichen Texten, Bildern und Handschriften. Freiburger Colloquium 2007 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 11), Zürich 2010.

    –, Arbeiten an der Identität. Zur Medialität der cura monialium im Kompendium des Rektors eines reformierten Chorfrauenstifts. Mit Edition und Abbildung einer Windesheimer ,Forma investiendi sanctimonialium' und ihrer Notationen (Scrinium Friburgense 27), Berlin / New York 2010. 

    –, Susanne Köbele u. Klaus Ridder (Hg.), Finden – gestalten – vermitteln. Schreibprozesse und ihre Brechungen in der mittelalterlichen Überlieferung. Freiburger Colloquium 2010 (Wolfram-Studien 22), Berlin 2012. 

    –, Schreiben, Bildung und Gespräch. Mediale Absichten bei Baudri de Bourgueil, Gervasius von Tilbury und Ulrich von Liechtenstein (Scrinum Friburgense 31), Berlin / Boston 2013. 

    –, Geschichte verstehen. Wie mittelalterliche Annalisten informieren und was das mit diagrammatischem Denken zu tun hat. Zu Rodulf Glaber, der ‚Oberrheinischen’ und der ‚Limburger Chronik’, in: Diagramm und Text. Diagrammatische Strukturen und die Dynamisierung von Wissen und Erfahrung, hg. v. Eckart Conrad Lutz, Vera Jerjen u. Christine Putzo, Wiesbaden 2014, S. 241–286.

     

    Putzo, Christine, Wilhelm Ziely (‚Olwier und Artus’, ‚Valentin und Orsus’, 1521) und das Fiktionsproblem des frühneuhochdeutschen Prosaromans, in: Oxford German Studies 40 (2011), S. 125–152. 

    –, Laubers Vorlagen. Vermutungen zur Beschaffenheit ihres Textes – Beobachtungen zu ihrer Verwaltung im Kontext der Produktion. Am Beispiel der Überlieferungen von ‚Flore und Blanscheflur’ und ‚Parzival’, in: Christoph Fasbender u.a. (Hg.), Aus der Werkstatt Diebold Laubers, Berlin/Boston 2012, S. 165–196. 

    –, Ziely, Wilhelm, in: Wilhelm Kühlmann u.a. (Hg.), Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon, Bd. 6, [erscheint] Berlin/Boston 2015. 

     

    Internationale Kooperationen

    DFG-Projekt ‚Klassiker im Kontext: Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Klassikerverdeutschungen in medialen Übertragungsprozessen (bis um 1600)’ an der Universität Bochum; Leitung: Bernd Bastert und Manfred Eikelmann.

    http://staff.germanistik.rub.de/klassiker-im-kontext 

     

    FWF-Projekt ‚Die Bibliothek als Text. Bestand und Bestandsgeschichte der Stiftsbibliothek Kremsmünster’ an der Universität Wien; Leitung: Stephan Müller

    http://germanistik.univie.ac.at/institut/projekte/die-bibliothek-als-text 

     

    SFB 933 ‚Materiale Textkulturen’, Teilprojekt B06 ‚Materiale Präsenz des Geschriebenen und ikonographische Rezeptionspraxis in der mittelalterlichen Lehrdichtung. Text-Bild-Edition und Kommentar zum Welschen Gast des Thomasin von Zerklaere’ an der Universität Heidelberg; Leitung: Peter Schmidt  

    http://www.thomasin.materiale-textkulturen.de 

     

    COST Action IS1301 ‚New Communities of Interpretation: Contexts, Strategies and Process of Religious Transformation in Late Medieval and Early Modern Europe’, Arbeitskreis II ‚Strategies of Transformation: Translating, Reading, Writing, Collecting and Performing’ 

    http://www.cost.eu/COST_Actions/isch/Actions/IS1301 

     

    Projekt ‚Rulman Merswin and His Age: The Literary Spirituality of the Rhineland in the Late Middle Ages′
    Stephen Mossman (University of Manchester)

    http://www.manchester.ac.uk/research/stephen.mossman/research 

     

    Projekt ‚Figurer la science de l’âme à Leipzig, 1470–1480’
    Annemieke Verboon, post-doctorante, CRH Centre de recherches historiques/EHESS, Paris

    http://crh.ehess.fr/index.php?4177

     

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  • Texte und Bilder — Bildung und Gespräch

    Diagrammatische Strukturen und die Dynamisierung von Wissen und Erfahrung

     

    Teilprojekt B.2 an der Universität Freiburg Schweiz im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunkts (NFS) der Zürcher Mediävistik 
    Medienwandel · Medienwechsel · Medienwissen 
    Historische Perspektiven Phase 2 
    (2009-2013)

    Konstituierung, Vermittlung und Aneignung eines für Laien bestimmten Bildungswissens gelehrter Provenienz (Welt, Geschichte, Gesellschaft) lassen sich an mittelalterlichen Höfen und in höfisch geprägten Milieus in vielfältigen Formen beobachten. Der Transfer ist nur möglich, wo es gelingt, die Adressaten zu erreichen: in ihrer Zusammensetzung heterogene und nur im Kern stabile Gruppen, selten der Schrift, nur zum Teil des Lateinischen kundig. Autoren gehen daher immer wieder von der Erwartung aus, dass ihre lateinischen Texte der mündlichen Vermittlung bedürfen – durch sie selbst, einen Überbringer oder einen gelehrten Angehörigen des Hofes. Für volkssprachige Texte nimmt man ohnehin Rezeptionsbedingungen an, unter denen Vortrag und Gespräch – idealiter – ineinander übergehen. Die Gespräche sind natürlich verloren, doch die Erwartung der Erschliessung und Ergänzung ist an den Texten selbst abzulesen, selbst da, wo explizite Aussagen fehlen. Wo es aber gelingt, die Voraussetzungen und Bedingungen zu beobachten, unter denen der Text selbst sich 'entbehrlich' macht, indem er Erkenntnisse ermöglicht, Einsichten erlaubt, die jenseits der Textur (und ihrer materiellen Darstellung) liegen, also unmittelbar an das Sinngefüge, auf das der Text zielt, heranführen, da treten Aspekte (oder Momente) von Medialität in Erscheinung. Das Interesse des Teilprojekts gilt also Texten, die gelehrtes Wissen, Denken und Urteilen in der Absicht präsentieren, sie in mentaler und habitueller höfischer Bildung aufgehen zu lassen. Es gilt genau jenen Eigenschaften dieser Texte (und ihrer Ausstattung in den Überlieferungsträgern), die erkennen lassen, dass und vor allem wie die Zurichtung der Texte auf das Gelingen ihres Aufgehens im Vollzug der Erkenntnis oder Einsicht zielt, gilt also Effekten der Spannung und Bewegung, intendierter Lebendigkeit und Dynamik, eben den Bedingungen der Möglichkeit medialer Prozesse. Die Beobachtungen können insbesondere da ansetzen, wo ein epistemologischer Anspruch explizit gemacht wird und/oder Diagramme auf ihn verweisen. Verbunden sind epistemologische Darlegungen und Gebrauch des Diagramms etwa im philosophischen Lehrdialog Wilhelms von Conches für Gottfried von Anjou, seinem Dragmaticon philosophiae, aber auch in der volkssprachigen höfischen Lehrdichtung Thomasins von Zerclaere, dem Welschen Gast mit seinem facettenreichen Bildprogramm, oder in der Historiographie (früh und noch im klösterlichen Kontext) bei Rodulf Glaber. Entsprechende Erkenntnisprozesse werden aber auch bei Baudri de Bourgueil und Gervasius von Tilbury über die Einarbeitung diagrammnaher Modelle vorbereitet. Die genannten Texte werden neben anderen in das Projekt einbezogen, die geplanten Dissertationen konzentrieren sich auf Thomasin bzw. auf die volksprachige Historiographie.

      

    Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

    Eckart Conrad Lutz , Projektleiter

    Christine Putzo, Habilitandin

    Vera Jerjen, Doktorandin

    Bettina Hauser, Unterassistentin

    Stephan Lauper, Unterassistent