Edzard Schaper - Ein biographischer Einblick

von Dr. Uwe Wolff

1. Kindheit und Schule (1908-1924)

Obwohl Schaper als elftes Kind in eine große Familie geboren wurde, entwickelt er schon in früher Kindheit das Gefühl, anders zu sein. Im Rückblick spricht er von einer „vegetativen Melancholie“. Diese Selbstdiagnose umschreibt eine wahrscheinlich genetisch bedingte depressive Grundstimmung des Charakters, die sich durch erhebliche Anpassungsstörungen in der Schule zu einer sozialen Phobie entwickelte. Zum Bild dieser psychischen Disposition gehört die Neigung zu Suchtverhalten (Schapers Nikotinsucht), zur freiwilligen sozialen Isolation (Schaper arbeitete immer fern der Familie) und ein widersprüchliches Verhalten, das sich einerseits in übertriebenem Ehrgeiz und andererseits in Vermeidungsverhalten äußerte. Wie bei anderen Schriftstellern – etwa Hermann Hesse oder Hanns Henny Jahnn – wurde jedoch die „vegetative Melancholie“ für Edzard Schaper zu einer energetischen Quelle für seine Kunst. Sie erklärt auch den Schreibdrang, der Schaper in Bann hielt und Ursache seiner enormen Produktivität ist.

In dem autobiographischen Roman „Die Insel Tütarsaar“ heißt es: „Er lernte viele Länder kennen, und allmählich merkte er, was seine Flucht verschuldet hatte. Es verhielt sich damit folgendermaßen: Er hatte von Kind an zu seiner Unrast und allem anderen ein Herz voller Glauben bekommen. Der Glaube natürlich wurde wie ein Stein abgewetzt von den Messern der Wirklichkeit; das konnte geschehen, denn es war ein Kinderglaube, und sehr weich. Und als der Mann mit diesem Kinderglauben das Haus von Glück und Einsamkeit gebaut hatte, war auch der Stein zu Ende, das Herz, von dem er bislang alles geschaffen hatte. – Ein Loch gähnte dort, wo es gewesen war, und der Sturm blies in sein Dasein. Dieser Sturm waren Bitternis und Trauer. Eine grundlose Bitternis, eine grundlose Trauer. Nicht grundlos, weil es keinen Grund hatte, sie zu haben, sondern grundlos, weil sie aus dem Abgrund kamen, den niemand bis in die tiefste Tiefe hinabschauen kann.“

Schapers Vater stammte aus Hannover, seine Mutter aus Ostfriesland. Der Vater war Offizier und wurde später Militärbeamter in der deutsch-polnischen Grenzstadt Ostrowo, wo sein elftes Kind am 30. September 1908 geboren wurde. Am 13. November 1908 wurde es auf die Namen Ernst Edzard Helmuth Schaper getauft. Der deutsche Anteil an der Gesamtbevölkerung betrug 14 %. So wuchs Schaper schon allein durch die polnischen Kinder bedingt, mit denen er auf der Straße spielte, zweisprachig auf. Dieser Prägung verdankt er wohl seine Sprachbegabung, die ihm das Erlernen fremder Sprachen wie des Estländischen, Finnischen, Schwedischen und Norwegischen, aus denen er auch später übersetzte, leicht machte. Zu den Prägungen der frühen Kindheit gehört neben der Vielzahl der Nationalitäten in Ostrowo auch die Vielzahl der Konfessionen und Religionen.

Die Familie wohnte in der Nähe des Bahnhofs. Das früheste Erinnerungsbild Schapers hält den regen Rangierbetrieb zwischen den 15-20 Gleispaaren fest. Von der anderen Seite erklingt die Stimme Lydias, der Tochter des Stellwerkers: „Wo steht es denn geschrieben, du sollst nur einen lieben...“

Der Kriegsausbruch 1914 und die Verhaftung des Vaters durch polnische Soldaten im Jahre 1919 sind Schlüsselerlebnisse in Schapers Kindheit. Auf dem Jahrmarkt erlebt er die Kriegsankündigung. In diesen Jahren wird er Zeuge von Erschießungen, Brandstiftungen, Überfällen. Er sieht auch die Folgen des Krieges durch seine Besuche in den Lazaretten. „Ich Esel hatte die Leidenschaft, alles das miterleben zu wollen, und es gelang mir auch, nicht gerade zum Heil meiner Seele, denn es stürmten Eindrücke auf mich ein, denen ein Sechsjähriger nicht gewachsen ist.“ 

Diese Tage der Flucht und Verfolgung prägen das Kind. Noch ist es Zuschauer der politischen Umwälzungen und blickt voller Panik in den Malstrom der Zeit. Später gerät Schaper selbst in diesen Sog. Sein Lebenswerk kreist um den Menschen in der Gefangenschaft und den Menschen auf der Flucht als große Gestalten, in denen sich das 20. Jahrhundert verdichtet. Flucht und Gefangenschaft sind für Schaper aber nicht nur historische Schicksale in Ost und West, sondern zugleich Symbole einer menschlichen Existenz, die vor sich selbst flieht und ihre Augen vor ihrer Bestimmung schließt. Der in sich selbst gefangene Mensch ist für ihn der Sünder, der vor dem Bild Gottes, nach dem er erschaffen ist, die Flucht ergreift.

Nach der Flucht des Vaters aus polnischer Gefangenschaft siedelt die Familie 1922 nach Hannover über. Hier im Kalenberger Land waren die Ahnen seit Jahrhunderten ansässig und betrieben eine Mühle. 1526 wanderten einige Familienmitglieder nach Estland aus und reemigrierten nach dem großen nordischen Krieg 1700-1721. Am 25. März 1923 wird Schaper in St.Martin im Stadtteil Linden konfirmiert.

Schapers Schulzeit war eine Katastrophe. „Völlig unverträglich mit Lehrern und Kameraden“ , urteilt er selbst. Schon die Einschulung in Ostrowo traumatisierte den Sechsjährigen. Wegen des Kriegsausbruchs wurde die Klasse nur von alten oder strafversetzten Lehrern („brutale Rohlinge“) unterrichtet. Jeden Freitag erhielt der kleine Edzard Prügel für seine schlechte Schrift. Ein Lichtblick in dieser Düsternis war für ihn die junge Hilfslehrerin Irene Himm, in die er sich sogleich verliebte.

In Hannover besucht Schaper das Humboldt-Gymnasium. Es kommt zu Konflikten mit einzelnen Lehrern und Gewaltakten. So stößt Schaper seinen Zeichenlehrer die Treppe hinab. Seine schlechten schulischen Leistungen in sämtlichen mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern werden durch ein Leben neben der Schule kompensiert. Mit 14 Jahren beschließt Schaper Musiker zu werden. Er schwänzt die Schule und besucht ein Konservatorium. Das zur Bezahlung der Stunden nötige Geld verdient er sich mit Nachhilfeunterricht und einem Hilfsdienst in einer Leihbibliothek. An den Abenden übt er Klavier mit gedämpften Tasten, nachts liest er Strindberg und andere Dichter psychologischer Ausnahmezustände. Der Schlaf wird auf ein Minimum reduziert. 

Die Eltern und Geschwister finden ebensowenig Zugang zu diesem Kind wie die Lehrer. Zu Hause wurde „ein Leben völlig neben oder ausserhalb der Familie gelebt“. Schaper verfügt über enorme Willenskräfte, aber er ist unfähig, eine geistige Führung anzunehmen. Dennoch hat er das Bedürfnis, wahrgenommen zu werden. Er fühlt sich als Genie und sucht die Anerkennung der Menschen, die er doch ablehnt. In diesem Zwiespalt verausgabt sich das hochbegabte Kind in einem Akt der Selbstbehauptung, der letztlich in einem Nervenzusammenbruch endet: Er hatte zwar die Zulassung zum Studium an der Musikhochschule Hannover erreicht, versagt aber auch hier gleich bei der ersten Prüfung, besteht eine Sonderprüfung in Musikgeschichte mit Auszeichnung, versucht wieder Fuß in seinem alten Gymnasium zu fassen und bricht nach drei Tagen zusammen. Wegen völliger Überarbeitung wird der 15jährige in ein Sanatorium eingewiesen. 

Seit diesem Kollaps hat Schaper nie wieder ein Instrument angerührt. So exzessiv, wie er sich in die Musik eingearbeitet hatte, stürzt sich Schaper nun in die Literatur. Noch im Sanatorium schreibt er seinen ersten Aufsatz über die „Musik der Geisteskranken“. Der Titel signalisiert nicht nur ein thematisches Interesse im Grenzbereich von Genie und Wahnsinn, sondern auch den Versuch der Bewältigung der eigenen Krise. Schaper hatte sich als Musiker selbst erfinden wollen. In der Krise aber fand nicht nur der Zusammenbruch dieses Selbstbildes statt, sondern der Autor wurde geboren. Später wird er das Außenseitertum und die Erfahrung der Einsamkeit zur Voraussetzung jeder Autorschaft erheben: „Jedem ernstmeinenden und ernst zu nehmendem Schriftsteller ist die Einsamkeit seiner geistigen Existenz auferlegt, sie ist unausweichliches Beiwerk.“

 

2. Wanderjahre (1925-1932)

Gerade 16 Jahre alt stürzt sich Schaper erst am Städtetheater Herford-Minden, dann am Stuttgarter Staatstheater in eine neue Aufgabe als Regieassistent. Er korrespondiert mit Ernst Barlach, besucht ihn in Güstrow, veröffentlicht 1927/28 mit 19 Jahren seine ersten beiden Romane und hat erste Erfolge, die in ihm Übermut und Panik zugleich auslösen. Hatte er nach dem Nervenzusammenbruch das Studium der Musik und das Klavierspiel aufgegeben, so war der erste literarische Erfolg für ihn eine Versuchung mit der Gefahr des Rückfalls in die Krise. Schaper wurde ergriffen von dem Plan, einen Händel-Roman zu schreiben. In den literarischen Salons wurde er als „Wunderkind“ bestaunt. Schaper aber fühlte sich zwischen gesteigerten Selbst- und Fremdansprüchen überfordert. Für kurze Zeit kultiviert er sein Dichtertum in exzentrischem Verhalten, dann spürt er, dass er wieder in die alten Muster zurückgefallen ist und ein erneuter Zusammenbruch droht und damit eine Wiederholung der Katastrophe aus seiner Schulzeit. Damals hielt er sich für ein Genie, jetzt suchten andere in ihm, was er nicht war. Schaper wird krank und zieht sich in eine Pension in den Schwarzwald zurück. 

Dann rettet er sich durch eine Flucht und eine Erdung seiner überspannten Nerven. 1929/30 lebt er auf Christiansö, neben Frederksö und Graesholmen der dritten Festungsinsel vor Bornholm, unter 121 Fischern, einem Marinearzt und einem Pastor. Sein Verleger Adolf Bonz sichert ihm mit einem Monatssalär von 150 Mark das Überleben. Von Christinsö aus reist Schaper nach Polen und nach England und vollendet auf dem ehemaligen Militärstützpunkt Christiansö den Händel-Roman, den er, obwohl Adolf Bonz & Co. das Manuskript schon gesetzt hat, von der Drucklegung zurückzieht. Schaper beschließt nun auch die Dichtung aufzugeben und sich radikal zu erden.

Er beginnt eine Gärtnerlehre, die er nach drei Monaten abbricht. Nicht aus Abenteuerlust, sondern purer Verzweiflung „in aussichtsloser Düsternis“ heuert er in Cuxhaven auf dem Fischtrawler F.C.Kogman an und befährt das Eismeer zwischen Island und Murmansk. Die ungewohnte harte Arbeit auf der rauhen See lässt ihn auch an die Grenzen der physischen Kräfte kommen. Wieder an Land schreibt er über seine Erfahrungen als Matrose. Sein erster Verlag Bonz & Co. verkauft die Rechte an den Münchner Langen-Müller Verlag. Das anfangs positive Verhältnis zu Langen-Müller ändert sich jedoch rasch. Schaper fällt in seine alten Verhaltensmuster zurück. Er hat Anpassungsstörungen und reagiert mit einer neuen Flucht aus allen Verbindlichkeiten. Wieder zieht es ihn in den menschenleeren Norden. Er beschließt an die wildzerklüftete Küste Nordnorwegens zu ziehen, deren kleine Fischerhäfen ihm vertraut sind. Auf dem Weg macht er Station in Berlin.

Hier begegnet er seiner späteren Frau Alice Pergelbaum , einer Deutschbaltin, die auf der Tallinner (Revaler) Elisen-Schule ihr Abitur abgelegt hat, und sich gerade auf der Rückreise von Nizza in ihre Heimat befindet. Er macht ihr noch am Tag des Kennenlernens einen Heiratsantrag. Sie reagiert mit den Worten: „Ja, mein Herr, so werben sie um mich!“

Mit Alice und einem kleinen Rhesusaffen zieht er in den Osten Tallinns (Kadriorg), heiratet im Mai 1932 und gründet eine Familie, aus der zwei Töchter, Christiane Elin und Katharina, hervorgehen. Schaper wohnt getrennt von der Familie in einem Lusthäuschen, das Paul Fleming einst bewohnt hatte. „Ich habe nie zuhaus ein Buch geschrieben, wo immer ich war. Ich habe niemals in der Nähe von Frau und Kindern ein Buch schreiben können.“

In den folgenden Jahren lebt er zurückgezogen westlich von Tallinn in Haapsalu und in Baltiski/Baltischport. Hier hat er einen kleinen Arbeitsraum gemietet und hier entstehen in rascher Folge seine Romane. Sein Hobby ist die Zucht von Wellensittichen. „Alles, was die Kindheitsheimat mir an unvergeßlichen Eindrücken mitgegeben hatte, habe ich im europäischen Nordosten wiedergefunden.“ Durch Katharina Kippenberg wird Schaper Autor des Insel-Verlages.

3. Eine Welt im Umbruch (1933-1947)

Schapers Leben bleibt bewegt. Er gerät zwischen die Mühlsteine der Diktaturen. 1936 wird er in Deutschland aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, später am 22. Dezember 1944 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt, weil man ihn für einen sowjetischen Spion hält. Nach der Annektion des Baltikums durch die Sowjetunion weigert sich Schaper, der Aufforderung „Heim ins Reich!“ (6. Oktober 1939) Folge zu leisten. In Estland arbeitet er als Korrespondent der „United Press“ (UPI). „Mit heiligem Leichtsinn viele merkwürdige Transaktionen gemacht, nicht ohne Unterstützung von Canaris, in schwierigen Fällen auf jeden Fall, ohne dass sein Apparat etwas dagegen tat. Etwas reichlich zwielichtige Zeit, um es mild auszudrücken.“ Zugleich arbeitet Schaper für die finnische Kontraspionage. 

Als in Estland eine Verhaftungwelle beginnt, bringt Schaper zuerst seine kleine Familie zu Freunden nach Helsinki in Sicherheit. Tausende von Esten werden in sowjetische Lager verschleppt. Auch Schapers Klause in Haapsalu wird entdeckt. 1940 verurteilen ihn die Sowjets zum Tode. Er flieht nach Helsinki. Hier lässt er sich als deutscher Auslandskorrespondent akreditieren und schreibt Artikel für die Berliner Börsenzeitung und die deutschsprachige Frontzeitung „Karelien-Kurier“. Mit der deutschen Division Engelbrecht zieht er als Kriegsberichterstatter an die Karelienfront. Dabei dringt er in den russischen Teil Kareliens vor und erhält Einblick in Stalins Projekt des Eismeerkanals und das System der sowjetischen Vernichtungslager, die jenseits der Grenze und auf den Solowki-Inseln im Weißen Meer errichtet werden. 

Durch freundschaftliche Verbindungen zu dem Mathematiker und Rektor der Universität Helsinki, Rolf Nevanlinna, der für den finnischen Geheimdienst tätig war und sich für die Aufstellung eines finnischen SS-Bataillons engagierte, und durch den „Marschall Finnlands“, Staatspräsident Marschall Carl Gustaf Mannerheim erhält er am 19. September 1944 die finnische Staatsbürgerschaft. Schaper blickt selbstkritisch auf diese Zeit zurück: „Aber das Balancieren auf dem Grat schien mir schon damals tödlich gefährlich, eine rein militärische Lösung gab es nicht unter jenen Verhältnissen. So kam es, dass ich mich 1943 einfach freiwillig zur Truppe meldete, - um im ‚Informationsamt der finn. Regierung’ zu landen.“ Im Februar 1944 gibt er seine Arbeit für die Berliner Börsenzeitung auf.

Als Schaper wegen des Einmarsches der Sowjetunion nach Finnland erneut fliehen muss und mit seiner Familie in einem kleinen Boot zu Verwandten nach Schweden übersetzt, wird er als zwielichte Gestalt mit äußerstem Misstrauen betrachtet, bald als Spion der Sowjets, bald als Agent Nazi-Deutschlands verdächtigt. Wie viele exilierte Balten ist auch Schaper den Häschern des NKWD ausgesetzt. Seinen Lebensunterhalt muss er sich als Waldarbeiter verdienen. Dieser Arbeit ist er letztlich so wenig gewachsen wie den Herausforderungen der Seefahrt in seiner Jugendzeit. So erfolgt wieder ein totaler Zusammenbruch. Schaper wird in ein Krankenhaus eingeliefert. In den Monaten der Rekonvaleszenz liest er immer wieder Paulus und erlebt eine Bekehrung. „Was Christ an und in mir ist, ist im Fegefeuer der Monate November 1944 – März 1945 entstanden.“ In diesem Purgatorium wird der Zusammenbruch zur Begegnung mit der Nichtigkeit seiner Existenz als heilsamer Schrecken und Durchbruch zur Erfahrung der Gnade: 

„Die Erfahrung des Nichts als Voraussetzung einer jeden möglichen Erlösung, ich habe es schon einmal gesagt, hat mich zum Christen gemacht. Ich war in die Kirche lutherischen Bekenntnisses hineingeboren; ich habe meinen Platz nach eigener Erfahrung in der Gemeinschaft der katholischen Kirche gesucht und gefunden. Die Konfession kann dem einzelnen, wo der Glaube ihn mit einemmal mit elementarer Gewalt zur Verwandlung seiner Wesenheit ruft, zu dem, was in der Sprache der Bibel die ‚Heiligung’ heißt, so etwas wie eine Arbeitshypothese mit dem Absoluten werden.“ Doch erst in der Schweiz wird dieser Weg der Heiligung mit der Konversion auch zu einem gemeinsamen Weg mit der Kirche. In diesem Sinne wird sich in der Schweiz auch Schapers spiritueller Weg vollenden.

Nach dem Krieg wohnt Schaper in Borås (bei Göteborg), arbeitet als Übersetzer und erhält am 1. Januar 1946 eine Anstellung als Sekretär der schwedischen Kriegsgefangenenfürsorge und Nachkriegshilfe Birger Forells („War prisoners’ aid of the young men’s christian association“).

 

4. In der Schweiz (1947-1984


Durch die Vermittlung von Rolf Nevanlinna, der nach dem Krieg in Zürich Mathematik lehrt, und Max Wehrli nehmen Schapers Jahre des Exils ein Ende. Am 17. Juni 1947 trifft Schaper auf dem Hauptbahnhof in Zürich ein. Am 17. September 1947 folgt die Familie nach. Knapp 37 Jahre seines Lebens hat Schaper in der Schweiz verbracht. In dieser Zeit schreibt er über 30 Bücher und zieht die Summe seines bewegten Lebens. Unter seinen in der Schweiz geschriebenen Romanen und Erzählungen verarbeiten viele die autobiographischen Erlebnisse während der Kriegszeit, so etwa „Stern an der Grenze“ (1947), „Hinter den Linien“ (1952), „Das Christkind aus den großen Wäldern“ (1954), „Das Wiedersehen“ (1954), „Der gekreuzigte Diakon“ (1957), „Der stille Major“ (1966), „Selbstgespräch vor einem Zeugen“ (1966), „Das Duell“ (1966), „Schattengericht“ (1967). Seine Flucht nach Schweden beschreibt Schaper in der Erzählung „Der große offenbare Weg“ (1956).

 

In der Schweiz entsteht auch Edzard Schapers berühmte "Legende vom vierten König" (1961), die sichheute einer so weiten Verbreitung erfreut, daß die meisten Leser sie für eine russische Volksdichtung halten und nicht wissen, daß sie einen Teil des gleichnamigen Romans (1961) bildet. Tatsächlich zieht diese die Summe von Schapers christlicher Anthropologie und Eschatologie.

Im Frühjahr 1960 wurde Edzard Schaper erster Ehrenburger von Münster/Wallis, am 23. Februar 1961 Ehrenburger von Brig, dessen Wahrzeichen, die Türme der Heiligen Drei Könige, ihn an seine Legende vom vierten König erinnerte. 1961 folgte die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Fribourg. Auf Beschluss des großen Rates des Kantons Wallis vom 13. November 1963 wurde Schaper das Burgerrecht verliehen. Damit kam Schaper in Besitz eines Schweizer Passes. In seiner Dankesrede blickt der 55 Jahre alte Autor auf ein bewegtes Leben zurück und lässt über ihm das Symbol des Kreuzes aufleuchten: „Hat mein Leben sich bisher immer zwischen Ost und West abgespielt, so ist der Waagerechten nun als sinnschwere Ergänzung die Lotrechte hinzugekommen; aus zwei solchen Balken besteht das Kreuz“. 

Auch als Christ war Edzard Schaper ein Grenzgänger: Getauft und konfirmiert als Lutheraner, weckte die Begegnung mit der Orthodoxen Kirche im Baltikum in ihm eine neue Wärme und Tiefe des Glaubens. In der Schweiz ließ er sich in Einsiedeln in die katholische Kirche aufnehmen. Sein Bekenntnis: „Als Katholik will ich nichts anderes sein als der letzte orthodoxe Lutheraner”.

 

Am 29. Januar 1984 stirbt Schaper in Bern und wird auf dem Friedhof von Glis beigesetzt.

Würdigung


Edzard Schaper gehört zu den großen Einzelgängern unter den Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Wie Ernst Hello, Georges Bernanos, Julien Green oder Reinhold Schneider war er ein christlicher Autor. Dies gilt nicht nur für die Themenwahl, sondern für das religiöse Selbstverständnis seiner Autorschaft und das Ringen um den Glauben in einem von nihilistischen Anfechtungen in Ost und West versuchten Jahrhundert. Edzard Schapers autobiographischer Roman „Die Insel Tütarsaar“ (1933), mit dem er sich als Autor findet, trug daher auch den Arbeitstitel „Der Glaube“: „Das Leben ist da, auf daß es uns genommen werde und wiedergegeben in Gnade. Bald möchte ich mich auf die Sohlen machen und zu aller Welt sagen: Ich lebte, und ich fiel in Versuchung, ich überantwortete mich der Gnade und bekam einen neuen Glauben geschenkt (...). Frag, frag, frag Wolken und Wind, keiner weiß es. Hinter den Lippen, zwei Klafter tief, liegt das ganze Geheimnis.“

Das Schreiben war für Schaper nicht nur ein Akt existentieller Selbstvergewisserung und Verortung in den zahlreichen Umbrüchen seines Lebens, sondern wie das Atmen eine pure Notwendigkeit. Wenn es die Zeitumstände zuließen, saß Schaper immer in seiner Dichterklause und gab sich dem strengen Exerzitium der Niederschrift eines neuen Romans oder einer Erzählung hin. Schaper schrieb wie im Rausch als ein Ergriffener. Seine Protagonisten sind wie er selbst Grenzgänger, Entwurzelte, Verfolgte in einem Jahrhundert der Katastrophen und der totalitären Systeme unter Hitler und Stalin. Durch seine Biographie wurde Schaper zu einem Verfolgten der Nazi-Diktatur und der Geheimdienste der Sowjetunion. Einige seiner Romane und Erzählungen zählen zu den herausragenden Martyrologen des 20. Jahrhunderts, wie der Lagerroman „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ und der dreibändige „Archipel GULAG“ Alexander Solschenizyns sowie das Werk Warlam Schalamows.

Schapers Romane zeichnen seine eigene Lebenslinie zwischen den osteuropäischen Grenzen Deutschlands, Polens, Russlands, des Baltikums, Skandinaviens und der Schweiz, die ihm am 17. Juni 1947 zur Heimat wurde. So spiegelt sein umfangreiches Werk die geistigen, religiösen, kirchlichen und politischen Umbrüche Europas.

In einem neu zusammenwachsenden Europa, das den Blick auch nach Osteuropa und die orthodoxe Tradition des christlichen Glaubens richtet, ist Schapers Werk nicht nur von historischem Interesse. Vielmehr lädt es zur Begegnung mit der Substanz des christlichen Glaubens im Spiegel der europäischen Geschichte und der besonderen Rolle der Schweiz, die nicht nur für Edzard Schaper Zufluchtsort und Heimat wurde.

 

Freund, es ist auch genug.
Im Fall Du mehr willst lesen,
so geh und werde selbst die Schrift
und selbst das Wesen.

Angelus Silesius
Cherubinischer Wandersmann

 

 

zitiert von Edzard Schaper
im Interview mit Lutz Besch.