Hans Urs von Balthasar (1947)

Nigg wurde weitgehend von katholischen Lesern rezipiert. In seiner Besprechung von "Große Heilige" wirft Hans Urs von Balthasar dem reformierten Pfarrer mit der ihm eigenen Entschiedenheit vor: "Nigg weiß nicht, was Kirche von innen gesehen ist."[1] Für den Schweizer Katholiken gibt es nur eine wahre Kirche, die römische Kirche mit ihrer "amtlichen Heiligkeit der Infallibilitas Petri."[2] Der Heilige könne zwar in einem lebendigen Spannungsverhältnis zu dieser Kirche stehen, doch bleibe seine Heiligkeit ein Amt innerhalb der Gemeinschaft der Kirche: "Die amtliche Kirche ist als Gnadenspenderin und Führerin dazu da, Heilige hervorzubringen, und sie fehlt, wenn sie ihre Ziele und Seelsorgemethoden nicht mehr hoch genug steckt, um Heilige zu produzieren."[3] Die römisch-katholische Kirche sei "der von Gott selber gespannte Rahmen, der ihnen den Dienst und das Opfer ermöglicht, aber auch - sakramental - das göttliche Leben vermittelt"[4]. Folgerichtig muss der Rezensent Nigg widersprechen. Als Schüler Rudolf Ottos habe Nigg "einen vorgefassten Begriff der Heiligkeit, der es ihm verunmöglicht, die ganze kirchliche Seite der Heiligen, die er beschreibt, zu sehen!"[5]

Das Entscheidende an Balthasars Einwurf ist das Unausgesprochene, aber doch Angedeutete. Nigg und Hans Urs von Balthasar arbeiteten gleichzeitig an einem neuen Bild der Heiligen. "Die Eidgenossenschaft bietet, verglichen mit den romanischen Ländern, keine günstige Voraussetzung für heilige Menschen"[6], hatte Nigg geschrieben. Wäre dies zutreffend, meint Hans Urs von Balthasar, dann sei die Lage beinahe hoffnungslos. Widerlegt würde Niggs Behauptung erst, „wenn wir dem Lande den Heiligen in Fleisch und Blut vorzeigen könnten, der mit einem Ruck alle stagnierenden Gewässer in frischen Fluss brächte. Gott schenke ihn uns!"[7] Mit diesem ungewöhnlichen Stoßgebet endet die Besprechung und teilt dabei in gewisser Weise Niggs gelegentliche Neigung zur Emphase. Aus heutiger Sicht liegt die Vermutung nahe, der damalige Studentenpfarrer von Basel hatte eine ganz bestimmte Schweizerin bereits im Blick. Hätte er nicht ehrlicherweise die weibliche Form wählen sollen: Gott schenke sie uns?

Über seine kritische Anfrage an Niggs Begriff des Heiligen hinaus würdigt Hans Urs von Balthasar "Große Heilige" grundsätzlich positiv. Ja, er nimmt den unerwarteten Erfolg des Buches zum Anlass einer Anfrage an die eigene Kirche: "Wie sehr ist im katholischen Volk im Lauf weniger Jahrzehnte der Kontakt, die innere Kenntnis seiner großen Heiligen dahingeschwunden. Die meisten, die ihm noch bis vor kurzem nahestanden, bedeuten ihm kaum noch Namen, geschweige denn ein lebendiges Bild. Das katholische Schrifttum in der Schweiz, das in den letzten Jahren so viel Flaches, Mittelmäßiges und Harmloses über die soziale Frage, über Ehe und Familie, über Vereinswesen und Psychologie herausgebracht hat, hat in unbegreiflicher Weise die Neuauflage der größten Werke unserer Heiligen und eine zeitentsprechende Darstellung ihres Wesens und Wirkens vernachlässigt."[8] Wendet man diese Kritik ins Positive, so enthält sie entscheidende Gründe für die breite Rezeption von "Große Heilige" bei den katholischen Lesern. Den Zusammenhang zwischen der Krisis einer moralisierenden Hagiographie und Niggs neuem Verständnis der Heiligen sieht Balthasar nicht, wie er überhaupt Niggs Ansatz nicht von dessen eigenen Voraussetzungen her würdigt.

 


[1] Hans Urs von Balthasar. Besprechung von "Große Heilige". In: Schweizer Rundschau 46. März 1947. S. 940-946. S. 945.

[2] Ibid., S. 941.

[3] Ibid., S. 941.

[4] Ibid., S. 944.

[5] Ibid., S. 943.

[6] Walter Nigg. Große Heilige. Artemis Verlag. Zürich 1946. S. 144.

[7] Hans Urs von Balthasar. Besprechung von "Große Heilige". S. 946.

[8] Ibid., S. 940.