Reinhold Schneider
Heilige und ihr Verhältnis zur Macht
oder: Die offene Frage, ob Geschichtsschreibung überhaupt möglich ist ...
Das Verhältnis zur Macht ist das brennende Problem der christlich-geschichtlichen Existenz. Es ist keine Frage, dass der Christ Macht verwalten soll im Sinne eines ihm überantworteten Anteils an der Königsmacht Christi. Aber wie soll es geschehen? Und wenn der christliche Verwalter der Macht sich von Augenblick zu Augenblick verantworten soll vor seinem Herrn, so wird er auch von Augenblick zu Augenblick auf Schranken stoßen, die seine Macht begrenzen. Auch jenseits dieser Schranken breitet sich Macht, vielleicht sogar scheinbar gewaltigere; aber sie ist ihm verwehrt. Diese andere widerchristliche Macht drängt gegen ihn an, droht ihn und alles, was ihm anvertraut ist, zu verschlingen. Wie soll er bestehen? Mit welchen Mitteln? Aus welcher Kraft? Die Mittel, die jenseits der Schranke erdacht, geformt wurde, sind ihm nicht erlaubt.
Eine systematische Darstellung kann hier nicht versucht werden; vielleicht ist sie ebenso wenig möglich wie eine systematische Antwort. Es bleibt nur die personale Entscheidung. Hier geht es um Gestalten christlicher Herrschaft; indem wir sie zu erfassen suchen, erkennen wir, dass sie alle am Herzen verwundet sind; sie haben einen Auftrag empfangen, dessen Vollzug in Gefahr ist, unmöglich zu scheinen; je tiefer das Gespräch dringt, das der christliche Herrschen mit sich selber führt, je empfindlicher sein Gewissen wird: um so fragwürdiger wird alles. Forderungen kreuzen sich. Alle Macht ist von Gott; aber gewaltige Bruchstücke sind dem Teufel anheimgefallen. Vielleicht dringt der geschärfte Blick des Mächtigen durch die Spiegelungen, die diese Sprengstücke umblenden. Damit ist nicht alles gewonnen. Denn auch innerhalb der christlichen Sphäre widersprechen sich Notwendigkeiten, fordert das Gebot des Königs im Zwang der Stunde Opfer an Gütern und Werten, deren Behauptung erlaubt, sogar aufgetragen ist. Im Bereich rechtmäßigen Eigentums erscheinen unversehens unheimliche Grenzlinien wie über Nacht die Flecken der Krankheit auf einem vertrauten Gesicht. Was nun? Es bleibt nur das Opfer. Aber in welchem Sinne ist es gemeint? Soll es das Opfer sein der nicht erlaubten Tat? Ist es Gebot, Gott um Gottes willen zu lassen? Wenn aber die Macht herausbricht aus dem Königtum Christi. was gilt sie noch dann? Wenn ihre Verwaltung die Seele kostet: ist sie dann nicht überzahlt? Und es kann ja nicht allein um die Seele des Einen gehn, der sich opfert. Das Dunkel, das in ihn strömt, greift über. Der Umkreis krankt. Der ganze Machtbereich ist überschattet.
Vielleicht ist schon etwas gewonnen, wenn wir diese Fragen wirklich sehen, uns ihnen stellen. Wir können sie nur andeuten als einen wesentlich-unveränderlichen Gehalt christlicher Geschichte. In ausreichendem Maße erforschen können wir das Leiden der Vergangenheit an dem Drama zwischen Macht und Gewissen nicht. Es ist eine offene Frage, ob Geschichtsschreibung überhaupt möglich ist. Menschen, Völker, Zeiten, Mächte sagen sich nicht aus; sie bezeugen sich in Fragmenten, in chiffrierter oder verstellter Schrift. Wir haben wohl Worte, aber die Schwingung, die sie trug, verweht unaufhaltsam. Wir ergründen verweste Herzen nicht. Ist es schon Zufall, dass Dokumente erhalten wurden, so ist der Zufall weit größer, dass sie überhaupt entstanden sind. Die Absicht, die sie hervorbrachte, traf auch die Auswahl zwischen Bekennen und Verschwigen, Wahrheit und Lüge. Und wie können wir erwarten, dass Chronisten und Berichterstatter den Vorgängen gewachsen waren, die sie überlieferten! Was wir von der Macht erfahren haben, das erfahren wir nun vor der Wahrheit. Der Boden bricht ein. Wir wagen nicht, weiter zu gehen. Wir haben Daten, Zahlen, Ereignisse. Aber welche Vermessenheit ist es, von Menschen und Völkern zu sagen, was sie waren und was sie gewollt haben!
Darum wollen die vorausgegangenen Schilderungen nur Bilder sein, in denen die Macht auf wechselnden Stufen der Bewertung steht. Das Bild umschließt die Wahrheit, die sich in Formen nicht fassen lässt; es ist Zeichen des innersten Kampfes, der durch die Geschichte fortbrennt, und zu dessen Richter wir nicht berufen sind. Bilder bestreiten, ergänzen einander; in ihrem Zusammenwirken ist mehr Wahrheit als in der Summe. Wir müssen Gestalten und Zeiten bestehen lassen in ihrem Eigenrecht, an ihrem Ort, dessen eigentliche Bedeutung allein dem Richter der Geschichte offenbar ist am Ende der Zeit. Und es ist eben das Große der Geschichte, dass in ihr Unvereinbares nebeneinander steht, dass in ihr die Aufträge einander widersprechen. Die Toten sind dem Christen ehrwürdiger als die Lebenden; denn sie sind näher bei Gott. Aber die Tat, zu der sie sich in ihrer Stunde verpflichtet sahen, verpflichtet ihn nicht. Denn der Ruf von oben wechselt mit den Stunden; Herrschformen fallen, verändern sich. Die Frage nach der Verwaltung der Macht, nach der erlaubten Macht, muss um so peinigender, um so zerstörender werden, je mehr sich die Machtbereiche auffüllen mit satanischer Energie.
Dieser Prozess war immer im Gange. Aber es ist doch ohne Beispiel, wie die Kräfte der gegenwärtigen Welt zusammengerafft werden unter dem Zeichen des Todes. Damit wird das Problem der Macht im ernstesten Sinne gestellt. Offenbar sind die Zugänge nicht bewacht: der Gedanke, der Blick, mit dem Mensch und Kosmos gesehen werden. Hat das Gewissen die Tore aufgegeben, so meldet es sich vergeblich im Innern, wo der Befehl erteilt wird, die Tat geschieht. Vielleicht aber hat es die Tore nicht einmal verlassen; vielleicht ist es an ihnen überredet, betäubt, geblendet worden.
Gewissen, das ist: Verantwortung vor Christus dem Lebendigen, das Sein und Denken, Weben und Atmen Auge in Auge mit Ihm. Mächtige und Machtformen tragen im höchsten Fall den Widerschein geleisteter Verantwortung; wo der Mächtige verwundet wurde, die Form zerklüftet ist, erscheint dieser Abglanz am deutlichsten. Wir aber, die wir in eine Landschaft gestürzt sind, wo ein jeder Wunsch und Gedanke, ein jeder Schritt und jede Tat - aber auch das Lassen der Tat und des Gedankens - Schuld zu werden drohen, finden an den Trägern weltlicher Macht wohl noch wissende Gefährten; die helfende Weisung können wir kaum von ihnen erwarten. Wir fragen die Heiligen. Auch sie, als Gesendete und Begnadete, verwalteten Macht; auch sie stehen in der Geschichte, und zwar dort, wo sie am heftigsten aufschäumt; wo das Irdische in die Ewigkeit münden sollte; wo ihm diese Mündung verweigert oder erstritten wird. Sie verwalten nicht allen Macht; sie sind es. Aber sie sind es als Zeichen des gegenwärtigen Reiches, welches Zeichen sich auf jeder Stufe der Niederlage und noch in der Agonie erfüllen kann. Da sie für alle stehen, für Gläubige und Ungläubige, so besitzen sie in Wahrheit das Erdreich, mächtiger als alle Gewaltigen, die am Einspruch des Gewissens zerbrachen oder ihn erstickten. Denn sie sind in Christus die Erneuerer der Erde, die verhüllte Hoffnung, die unbekannten Retter des Geschlechtes, dessen Stunde sie teilen. Die Lösung jeder Zeit ist Gnade, und die Hoffnung auf Gnade ruht auf ihnen. Die Macht des Königs entgegnet in ihnen der weltlichen Macht. Sie vergegenwärtigen in ihrer Stunde das Gespräch, in dem der Herr auf dem letzten Grat der Geschichte dem Pilatus gegenüberstand: die vollendete Macht, die sich der Gewalt völlig entäußert hatte.
Reinhold Schneider, Nachwort zu: Herrscher und Heilige, Köln - Olten 1953, 291-293.