Stecken die Geisteswissenschaften in einer Krise? Diese Frage stand im Zentrum der diesjährigen «Diachronie», einer epochenübergreifenden Veranstaltung der Departemente Geschichte und Zeitgeschichte der Unifr. Am 17. Oktober versammelten sich im Espace Güggi Wissenschaftler_innen, Studierende und Interessierte, um die aktuellen Herausforderungen der Geisteswissenschaften zu diskutieren. In diesem Rahmen führte die Alma&Georges-Redaktion ein Interview mit der Organisatorin Anne Huijbers.
Eindrücke aus der «Diachronie» 2024
Die Geisteswissenschaften stehen vor erheblichen Herausforderungen: Die Studierendenzahlen sinken, und es herrscht der Ruf, die Disziplin sei brotlos und in der Gesellschaft zunehmend irrelevant. Vorträge von Dominique Lysser, Olivier Richard und Salome Walz beleuchteten während der diesjährigen «Diachronie»-Konferenz die verschiedenen Aspekte dieser ‚Krise‘.
Eine mögliche Antwort auf diese Entwicklungen könnte – so Dominique Lysser – innovative Wissenschaftskommunikation sein. Projekte wie Geschichte im Puls zielen darauf ab, Geschichte auf populärwissenschaftlicher Ebene zu vermitteln. Mit einem Fokus auf junge Menschen wird versucht, das Fach neu zu positionieren. «Wenn die Jugendlichen nicht ins Museum gehen, geht die Geschichte zu den Jugendlichen» – unter diesem Motto führt der Verein u. a. Veranstaltungen wie «Geschichte im Puls goes Clubbing».
Salome Walz plädierte für eine Anpassung der Geisteswissenschaften an die Moderne. Ihre Analyse von M. I. Finleys Crisis in the Humanities aus den 1960er Jahren zeigt, dass die aktuelle Lage nicht völlig neu ist. Das Ende des Lateinobligatoriums in Cambridge und Oxford zum Beispiel symbolisierte damals einen tiefgreifenden Wandel und den Vertrauensverlust in die Legitimität der geisteswissenschaftlichen Bildung. Die Frage, wie viel Geisteswissenschaft die Gesellschaft braucht, bleibt so aktuell wie eh und je.
Olivier Richard hingegen betrachtete das Mittelalter als Schlüssel zur Selbstreflexion unserer Gesellschaft. Er betonte, dass indem die Mediävistik uns lehrt, die Gegenwart im Licht historischer Prozesse zu sehen, sie entscheidend dazu beiträgt, gesellschaftliche und politische Phänomene besser zu verstehen.
Diese verschiedenen Ansätze zeigen, wie komplex die sogenannte „Krise“ der Geisteswissenschaften tatsächlich ist. Im Interview geht Anne Huijbers auf einige dieser Herausforderungen näher ein.
Anne Huijbers, wenn sich immer weniger Studierende für Geschichte und Germanistik interessieren, liegt das Problem an den Fächern selbst?
Es gibt verschiedene Erklärungen. In unsichere Zeiten wählen Studierende tendenziell Fächer mit klarem Berufsprofil und einer direkten ökonomischen Verwertbarkeit. Geschichte oder Germanistik haben den Ruf «brotlose» Fächer zu sein. Das ist nicht so, aber es ist undeutlicher, welche Wege die Absolvent_innen gehen. Tatsächlich sind Geisteswissenschaftler_innen breit einsetzbar.
Es wird spekuliert, ob die «Tiktokisierung» der jüngeren Generation und der Rückzug der Buchkultur eine Rolle spielt. Lesefähigkeiten verschlechtern sich. Und dann haben wir noch nicht über KI geredet: warum muss man schreiben lernen, wenn KI das für dich fehlerfrei erledigt?
Wie viel Aktivismus verträgt die Wissenschaft? Hat die Forschung ihre Neutralität verloren?
In geisteswissenschaftlichen Disziplinen geht es darum zu verstehen, zu interpretieren, Perspektiven zu wechseln, kritisch zu hinterfragen. Totale Objektivität ist für Geisteswissenschaftler_innen eine Illusion. Schon nur durch die Wahl eines Forschungsthemas sind wir politisch und aktivistisch. Unsere Fragen kommen immer aus der Gegenwart. Deshalb beschäftigen Geisteswissenschaftler_innen sich heute vermehrt mit weiblichen und globalen Perspektiven, non-binären Identitäten, Klima, Ökologie oder Kolonialismus. Ist das, weil wir woke und links sind – wie Kritiker_innen behaupten? Oder weil die Gesellschaft das Bedürfnis hat, darüber zu reflektieren?
Können Geisteswissenschaften heute überhaupt noch ohne politische Agenda auskommen?
Es besteht ein Paradox. Einerseits lesen wir in Medienbeiträgen, dass Geisteswissenschaftler_innen zu wenig in der Öffentlichkeit auftreten, dass wir «apolitisch» geworden sind. Durch Spezialisierung und Internationalisierung sollten wir uns zu sehr in den Elfenbeinturm zurückgezogen und damit unsere gesellschaftliche Relevanz verloren haben. Gleichzeitig werden wir beschuldigt, politisch und tendenziös zu sein. Die gesellschaftlichen Erwartungen an Geisteswissenschaftler_innen sind ambivalent.
Warum ist das öffentliche Interesse an Geschichte gross, aber die Uni-Seminare bleiben leer?
Schweizweit laufen die Studierendenzahlen seit zehn Jahren zurück, aber an unsere Universität sind sie, zumindest am Departement für Geschichte, stabil geblieben. Das Verhältnis zwischen deutsch- und französischsprachigen Studierenden hat sich aber geändert. 2006 gab es noch ebenso viele deutsch- wie französischsprachige Geschichtsstudierende. Jetzt sind es nur noch 120 deutsch- gegenüber 353 französischsprachige. Wenn wir Werbung machen müssen, dann für die Möglichkeit, das Studium hier auf Deutsch zu absolvieren!
Ist die „Krise“ nur ein Symptom struktureller Mängel – schlechte Finanzierung, wenig Perspektiven?
Ein Positionspapier der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften betonte schon 2012, dass die Geisteswissenschaften im zunehmend kompetitiv ausgerichteten Wissenschaftssystem strukturell benachteiligt werden. In der Konkurrenz um knappe Mittel verlieren die Geisteswissenschaften gegenüber Natur-, Medizin- und Technikwissenschaften. Die SNF fordert Daten – das wirkt auf viele Geisteswissenschaftler_innen einschüchternd. Die Geisteswissenschaften funktionieren anders. Eine direkte Verwertbarkeit oder ein sichtbarer, gesellschaftlicher Impact ist schwieriger zu bezeugen.
Krisendiskurse haben die Geisteswissenschaften immer begleitet. Verschwinden werden wir aber nie. Was könnten wir selbst tun? Das Studium ist auf eine wissenschaftliche Karriere ausgerichtet, obwohl die allermeisten Absolvent_innen einen anderen Weg einschlagen. Dem könnten wir vielleicht besser Rechnung tragen.
Für die MINT-Fächer wurde in den letzten Jahren viel Werbung gemacht, mit der Folge, dass die Studierendenzahlen angestiegen sind. Vielleicht müssten die Geisteswissenschaften das auch tun. Man könnte das Geschichtsstudium umbenennen in «Medienkompetenz und Fact-Checking». Das brauchen wir heute mehr denn je.
__________- Positionspapier der SAGW
- Radiosendung Kultur-Talk «Stecken die Geisteswissenschaften in der Krise?»
- Geschichte im Puls
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