Publikationsdatum 08.02.2022

Dr. Rietmann erhielt ein Ambizione-Stipendium für ein faszinierendes Projekt über den Einfluss der populären Medien auf die Vorstellungen von Gesundheit in der Kindheit (um 1800-1860)


Dr. Felix Rietmann (UniFR, Medizinische Geisteswissenschaften) erhielt kürzlich ein Ambizione-Stipendium für sein Projekt "Raising a Well-Grown Child: Media and Material Cultures of Child Health in the Early Nineteenth Century", das bis 2025 laufen wird. Dieses Projekt, das Dr. Rietmann mit einem kleinen Team leitet, ist die erste historische Studie über den Einfluss und die Interaktion populärer Printmedien auf das Verständnis von Gesundheit und Krankheit im Kindesalter im deutschsprachigen Europa überhaupt. Es steht an der Schnittstelle zwischen Medizingeschichte, Kindheits- und Pädagogikgeschichte und Mediengeschichte. 

Da trifft es sich gut, dass Dr. Rietmanns Forschungsprofil besonders - oder sollte man sagen: eindrucksvoll - interdisziplinär ist: Er hat u.a. ein Medizinstudium und anschlissend eine Promotion in Medizin an der Charité-Universitätsmedizin in Berlin erfolgreich abgeschlossen, bevor er zwei weitere Master in Geschichte und Wissenschaftsgeschichte, ein Graduiertenzertifikat in Medien und Moderne und schliesslich 2018 einen (weiteren) Doktortitel "sammelte", diesmal einen PhD in Wissenschaftsgeschichte und interdisziplinärem Programm in den Geisteswissenschaften an der University of Princeton. Dieses Interesse an der Verbindung von Geisteswissenschaften und Medizin ist weiterhin ein Kennzeichen seiner akademischen Tätigkeit, da er sich nicht damit begnügt, diese Ambizione-Forschung zu leiten, sondern in seiner verbleibenden 10 % Anstellung auch Zeit findet, um am Institut für Medizingeschichte an der Universität Bern zu unterrichten und als wissenschaftlicher Mitarbeiter am “Institut des Humanités en Médecine” des CHUV tätig zu sein.

Das Projekt von Dr. Rietmann befasst sich mit den Auswirkungen, die der Boom des Interesses an der Gesundheit von Kindern in den Printmedien der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf das Verständnis des Wohlbefindens und der Krankheit von Kindern hatte, sowohl im medizinischen Bereich als auch in der Gesellschaft insgesamt. In einer Zeit, in der Fachdiskussionen in die Öffentlichkeit getragen werden, z. B. über eine Epidemie, und in der solche Diskussionen sowohl in die Gesellschaftspolitik als auch in den medizinischen Diskurs einfließen, scheint es offensichtlich, dass die Demokratisierung des Diskurses über die Gesundheit von Kindern einen großen kulturellen und medizinischen Einfluss gehabt haben sollte. Diese Frage ist jedoch noch sehr wenig erforscht, ein Mangel, den das Projekt von Dr. Rietmann beheben will.

Warum wurde die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts als Zeitrahmen für diese Untersuchung gewählt? Ganz einfach, weil sich in diesem Zeitraum einige wichtige Veränderungen in der Medizin und in der Auffassung von Kindern vollzogen haben, die höchst interessante Ergebnisse versprechen. Dies ist eine Zeit, in der sich der kommerzielle Markt entwickelt, und die Menschen das ungenutzte Potenzial der Kinder sowohl als Verbraucher als auch als Konsumobjekte erkennen. Dies führt schnell zum Erscheinen zahlreicher Zeitschriften, die sich an Kinder richten oder sich mit der Gesundheit und Erziehung von Kindern befassen. So sehr, dass Die Abend-Zeitung 1805 behaupten kann: “so stehen wir denn endlich auf dem Punkte, wo wir beinahe nicht weniger Erzieher und Erziehungsschriften als lebendige Kinder haben.” Mit diesem Literaturboom geht auch die Kommerzialisierung vieler Spielzeuge und medizinisch-pädagogischer Geräte einher, materielle Objekte, die Dr. Rietmann in seinem Projekt ebenfalls berücksichtigen wird. Es handelt sich auch um eine Zeit des Übergangs in der Geschichte der Medizin, da diese zunehmend professionalisiert und institutionalisiert wird und neue Praktiken eingeführt werden, die Kinder direkt betreffen: In diese Zeit fällt die Einführung von Lehrveranstaltungen über Kinderkrankheiten in den medizinischen Lehrplan und die damit einhergehende Schaffung der ersten Universitätsprofessuren für Kinderheilkunde sowie die Gründung der ersten pädiatrischen Einrichtungen. 

Man könnte meinen, dass die Popularisierung des Diskurses über die Gesundheit und Erziehung von Kindern zu einer "Verdummung" des Diskurses geführt hat, wenn er in billigen Druckerzeugnissen aufgegriffen wurde, aber weit davon entfernt, populäres Wissen und Ammenmärchen weiterzugeben, zeigt die Studie von Dr. Rietmann, dass Zeitschriften zumindest manchmal einige der neuesten medizinischen Forschungsergebnisse diskutierten. Ein Artikel des Pfenning-Magazins aus dem Jahr 1833 befasst sich beispielsweise mit der Gesundheit junger Frauen in Internaten und stützt sich dabei sowohl auf die im selben Jahr veröffentlichten Forschungsergebnisse von John Forbes als auch auf ein medizinisches Werk des deutschen Arztes Professor Sömmering aus dem Jahr 1793. In diesem Fall übernahm die Zeitschrift die Rolle eines Vermittlers von medizinischem Wissen und nutzte gleichzeitig ihre Fähigkeiten, dieses auf unterhaltsame Weise darzustellen. Der populäre Diskurs stimmte jedoch nicht immer mit den bestehenden medizinischen Vorstellungen überein, sondern konnte diese auch aktiv in Frage stellen. Dies gilt beispielsweise für die Lauflernhilfe, die in medizinischen Kreisen als potenziell entwicklungshemmend verschrien war, während sie in einer Zeitschrift wie der Illustrirten Zeitung als "das nächste grosse Ding" dargestellt wurde, die sie stattdessen in einem kurzen Artikel von 1843 als grossartige Möglichkeit zur Verhinderung von "verkrüppelten Beinen" anpries (links).

Die Studie von Dr. Rietmann zeichnet nicht nur den Einfluss populärer Medien auf die Vorstellung von Kindergesundheit in der deutschen Öffentlichkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt nach, sondern wendet eine neuartige Methodik an, die sich auf die Medienwissenschaft, die Forschung zur materiellen Kultur und die Medizingeschichte stützt, um eine entscheidende Übergangsphase in der Entwicklung von Pädiatrie, Pädagogik und Kinderpsychiatrie zu verstehen. 

Möchten Sie sich für eine Ambizione-Förderung bewerben? Die nächste Bewerbungsfrist läuft am 1. November 2022 ab. Bitte kontaktieren Sie uns unter research@unifr.ch, wenn Sie Fragen haben, Beratung oder Unterstützung bei der Antragstellung benötigen!

Möchten Sie mehr über die Forschung von Dr. Rietmann lesen? Unten finden Sie einen Link zu seiner Projektseite auf dem SNF-Repository und einen weiteren zu seiner UniFR-Seite, auf der Sie seine Publikationsliste einsehen können: 

https://p3.snf.ch/project-193557

https://www.unifr.ch/med/de/research/groups/mh/members/people/278789/17f40

[1] Bilder: 1. “Pedagogy,” Fliegende Blätter 1, no. 17 (1844/1845): 134; 2. Baby-walker, Illustrirte Zeitung, July 22, 1843, 64.