Publikationsdatum 07.10.2022
Dr. Keil über seine Teilnahme am EU-finanzierten LEGITIMULT-Projekt
Der Politikwissenschaftler Dr. Sören Keil ist seit 2021 wissenschaftlicher Leiter des Internationalen Forschungs- und Beratungszentrums am international renommierten Institut für Föderalismus der Universität Freiburg. Zusammen mit einigen seiner Kolleg_innen am Institut und einem beeindruckenden Konsortium internationaler Partner hat er soeben den Zuschlag für ein EU Projekt mit dem Titel "Legitimate crisis governance in Multilevel Systems" (LEGITIMULT) erhalten, das die Auswirkungen von COVID-19 Massnahmen auf die Legitimität der demokratischen Regierungsführung, die Rechtsstaatlichkeit und das Engagement des Staates gegenüber seinen Bürgern untersuchen soll.
Diese Forschungsarbeit ist äusserst wertvoll. Sie wird dazu beitragen, die Auswirkungen auf die demokratische Legitimität zu untersuchen, die durch die während der COVID-19 Krise eingegangenen Kompromisse in Bezug auf verschiedene Aspekte, die üblicherweise eine funktionierende demokratische Regierungsführung kennzeichnen, verursacht wurden. Während der COVID-19 Krise ergriffen die Regierungen Massnahmen, die bestimmte Aspekte des demokratischen Prozesses einschränkten und die Menschenrechte und individuellen Freiheiten stark beschnitten. So verhängten einige Regierungen den Ausnahmezustand; die Parlamente traten teilweise nicht mehr zusammen; das Recht auf Demonstrationen wurde zeitweise aufgehoben und Entscheidungen wurden häufig auf der Grundlage von Arbeitsgruppen getroffen, die sich aus Wissenschaftler_innen zusammensetzten, deren Fachwissen zwar nicht angezweifelt wurde, deren demokratische Daseinsberechtigung jedoch häufig in Zweifel gezogen wurde, da sie nicht gewählt waren. Wie wirkten sich solche Massnahmen nun auf die Demokratie und ihre Legitimität aus? Und was können wir aus diesen Erfahrungen lernen, um es beim nächsten Mal hoffentlich besser zu machen, falls es ein nächstes Mal geben sollte?
Dies ist eine äusserst komplexe Thematik, die sich hervorragend für ein EU Kooperationsprojekt eignet; eines das nun von einem bedeutenden Konsortium von Forschenden an verschiedenen Forschungsinstitutionen realisiert wird. An dem Projekt, das von der Accademia Europea di Bolzano in Südtirol (EURAC) koordiniert wird, sind Forschende aus acht weiteren europäischen Ländern sowie auch solche aus Kanada und der Schweiz beteiligt, die als nicht assoziierte Drittländer an dem Programm teilnehmen können. Das auf drei Jahre angelegte Projekt wird im Rahmen des zweiten Pfeilers des Horizon Europe Forschungsrahmenprogramms "Globale Herausforderungen und die industrielle Wettbewerbsfähigkeit Europas" durchgeführt, welches Forschungsprojekte finanziert, die vordefinierte (top-down) Themen untersuchen.
Das Konsortium reagierte mit dem Antrag auf eine Ausschreibung zum Thema der Herausforderungen, die die Covid-19 Krise für die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit mit sich brachte. Die Projektpartner beschlossen, alle im Rahmen von Covid-19 getroffenen Massnahmen in nicht weniger als 31 europäischen Ländern (27 EU-Länder sowie die Schweiz, Norwegen, Island und das Vereinigte Königreich) zusammenzustellen und ihre Auswirkungen auf die politische Legitimität von Regierungsstellen zu untersuchen. Es stellte sich bald heraus, dass es wichtig sein würde, mehr als nur die auf nationaler Ebene getroffenen Entscheidungen zu berücksichtigen. Man muss - und am Institut für Föderalismus macht man genau das - die Rolle der Verwaltungseinheiten auf den verschiedenen Ebenen beim Entscheidungsprozess berücksichtigen: die der WHO und der EU über den Nationalstaaten sowie die der regionalen und lokalen Regierungsbehörden darunter.
Zum Zeitpunkt der Erstellung des Projektantrags erschienen die ersten Veröffentlichungen über die Auswirkungen des Föderalismus und der Dezentralisierung auf die demokratischen Entscheidungsmöglichkeiten während der Krise, und viele davon waren zu diesem Zeitpunkt ausgesprochen positiv. Zum Beispiel wurde es als vorteilhaft erachtet, dass nationale Entscheidungen auf Bundesebene getroffen wurden, während die katastrophale Situation in bestimmten Provinzen und Gebieten eine schnelle Reaktion der regionalen Regierung erforderte. In Norditalien, das zu Beginn der Pandemie stark betroffen war, trafen Bürgermeister und Gemeinden die Entscheidungen manchmal ad hoc, noch bevor die Zentralregierung in Rom reagierte, während die starken kommunalen Verwaltungen in den skandinavischen Ländern einen grossen Einfluss auf die Politik hatten. Dr. Keil und andere Forschende begannen jedoch zu erkennen, dass dieses System auch Probleme mit sich brachte. Ein Beispiel: Während die Schweizer Regierung zu Beginn der Pandemie beschloss, Stadionveranstaltungen zu verbieten, zeigte diese Massnahme im Tessin, der damals am stärksten von der Pandemie betroffenen Region in der Schweiz, überhaupt keine Wirkung. Was das Tessin damals brauchte, war die Schliessung der Schweizer Grenze zu Italien, wozu es aber nicht befugt war. Auch der Grundsatz der Verhältnismässigkeit wird in Frage gestellt: Bei der «Schliessung der Läden» wird nicht zwischen einem Geschäft mit wenig Publikumsverkehr und einem grossen Supermarkt unterschieden; die Situation in ländlichen Gebieten ist nicht dieselbe wie in Grossstädten; ist es wirtschaftlich gesehen verhältnismässig, die Schulen zu schliessen, wenn diese Entscheidung zur Folge hat, dass die Eltern zu Hause bleiben müssen? Die Antworten auf die Frage nach der Legitimität demokratischen Regierens, insbesondere wenn man den Föderalismus berücksichtigt, sind daher komplex, und die politischen Empfehlungen, die die Forschenden dieses Projekts nach Abschluss ihrer Analyse formulieren werden, werden auf die verschiedenen Adressaten zugeschnitten sein.
Für Dr. Keil war eine der zentralen Fragen dieses Forschungsprojekts, wie man demokratische Legitimität in Krisenzeiten messen kann. Zwar gibt es von den Vereinten Nationen festgelegte Indikatoren für gute Regierungsführung, die üblicherweise zur Messung der Legitimität einer Regierung herangezogen werden. Einige dieser Indikatoren, wie z. B. die Partizipation, konnten jedoch während der Krise nicht vollständig umgesetzt werden: So war es beispielsweise nicht möglich, ein Referendum über das Tragen von Masken zu organisieren, und einige Entscheidungen mussten sehr schnell und ohne Abstimmung getroffen werden. Die im Projekt vorgeschlagene Lösung besteht darin, die Kompromisse zwischen den verschiedenen Dimensionen der demokratischen Staatsführung, wie Rechtsstaatlichkeit und demokratische Beteiligung, Menschen- und Minderheitenrechte, Vertrauen und wirtschaftliche Nachhaltigkeit, und den während der COVID-19 Pandemie durchgeführten Massnahmen zu messen.
Das Institut für Föderalismus der Universität Freiburg wird im Rahmen dieses Projekts zwei Teilprojekte leiten. Dr. Keil wird zusammen mit seinen Kolleg_innen Prof. Eva Maria Belser, Thea Bächler, Dr. Verena Richardier, Dr. Edina Szoecsik und Daan Smeekens vor allem für die Verbreitung der Forschungsergebnisse zuständig sein, um diese einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen und so auch das Institut für Föderalismus ins Blickfeld rücken zu können. In einem zweiten Projektteil werden die Rechtsstaatlichkeit und die demokratische Partizipation analysiert, zwei wichtige Dimensionen der Legitimität. Die Freiburger Forschenden werden 31 Fallstudien analysieren und ermitteln, mit welchen Notstandsgesetzen und -bestimmungen die einzelnen Länder auf die Pandemie reagiert haben. Anschliessend werden sie die verschiedenen Ländergruppen vergleichen und die Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede in den Entscheidungen der verschiedenen Staaten aufzeigen: waren die rechtsstaatlichen Entscheidungen zeitlich begrenzt? wer traf diese Entscheidungen? war die demokratische Beteiligung Teil des Prozesses?
Für diese Art der Forschung zur Legitimität des demokratischen Föderalismus und der Rechtsstaatlichkeit ist es wichtig, dass die Forschungseinrichtung in der Schweiz selbst als legitime, verantwortungsvolle und führende Forschungseinrichtung anerkannt ist. Dies ist beim Institut für Föderalismus definitiv der Fall, da es neben der Universität Freiburg und ihrer juristischen Fakultät einen hervorragenden Ruf in den Gebieten Föderalismus, Dezentralisierung, Verfassungsgestaltung, Menschenrechte, gute Regierungsführung, Demokratisierung und lokale Verwaltung geniesst. Das Einbeziehen des Instituts in die Antragstellung hat nicht nur das Finden von Projektpartnern erleichtert, sondern auch die Legitimität des Projekts selbst gefördert.
Sind Sie daran interessiert, an einem Projekt der zweiten Säule von Horizon Europe teilzunehmen? Die DFF hilft Ihnen gerne bei diesem Vorhaben. Darüber hinaus organisiert Euresearch in Zusammenarbeit mit der DFF der Universität Freiburg eine ganze Woche (24.-28. Oktober), die den verschiedenen Thematiken der zweiten Säule gewidmet ist und in der Euresearch Spezialist_innen ihr Wissen zur Teilnahme am europäischen Rahmenprogramm 2023-2024 mit Ihnen teilen. Melden Sie sich hier an, um dabei zu sein!