«Sozialarbeitende sind im Alltag implizit mit Religion konfrontiert»
Asmaa Dehbi, 31, ist Doktorandin und Diplomassistentin am Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG). Sie hat ein Masterstudium in Erziehungswissenschaften (Universität Zürich) absolviert und beschäftigt sich mit Fragen der Sozialen Arbeit im Migrationskontext und antimuslimischem Rassismus. Im Rahmen ihrer Dissertation fragt sie nach der Rolle der Religionszugehörigkeit von muslimischen Fachkräften für die Professionstheorie der Sozialen Arbeit.
Interview geführt von Camille Andres (aus dem Französischen übersetzt)
Vor welchen Herausforderungen stehen Professionelle der Sozialen Arbeit mit Migrationshintergrund oder muslimischer Religionszugehörigkeit?
Asmaa Dehbi: Für diese Menschen ist Religion eine Art ständiger Subtext. Sozialarbeitende sind im Alltag oft mit Religion konfrontiert, aber auf eine implizite Art und Weise. Wenn man einen «anders» klingenden Namen oder einen Migrationshintergrund hat, erlebt man das sogenannte Othering, ohne dass diese Erfahrung verbalisiert wird. Die Positionierung des Gegenübers ist selten klar, meist handelt es sich um eine unausgesprochene Wahrnehmung. Auch die Vorstellungen von Migration und Religion sind häufig implizit miteinander verwoben. Wenn von einem türkischen Professionellen gesprochen wird, ist in Wirklichkeit oft «der Muslim» gemeint. Es findet also einerseits eine Ethnisierung des Islam und andererseits eine «Islamisierung» der Nationalität statt.
Welche Probleme ergeben sich aus diesen Zuschreibungen?
Es wird angenommen, dass Sozialarbeitende aufgrund ihrer Biografie und ihrer vermeintlichen Religionszugehörigkeit eine grössere Nähe oder einen besseren Zugang zu einer bestimmten Klientel haben. Und genau das ist problematisch. Zum Beispiel wird eine muslimische Fachperson beauftragt, den Fall einer Jugendlichen namens Amina zu übernehmen. Dies geschieht, weil davon ausgegangen wird, dass sie mehr Einfühlungsvermögen und «Kulturverständnis» aufbringen kann als ein anderer Kollege oder eine andere Kollegin in diesem Feld. Sozialarbeitende möchten jedoch häufig nicht als «IslamexpertIn» etikettiert werden. Denn dies würde unter anderem bedeuten, dass sie die Verantwortung für Phänomene übernehmen müssten, die als kulturell bedingt wahrgenommen werden, obwohl sie andere primäre Ursachen haben können (Adoleszenz, Armut, häusliche Gewalt...). Gleichzeitig birgt diese implizite Verbindung auch Risiken. Wenn eine Intervention misslingt, wird die Professionalität der Person schneller in Frage gestellt.
Warum sind diese Mechanismen häufig implizit?
Das hat mit der Normalisierung und Internalisierung bestimmter Vorstellungen zu tun. Diese werden nicht hinterfragt, weil sie Teil eines hegemonialen Diskurses sind. Man geht davon aus, dass etwas «nun einmal so ist», einschliesslich derjenigen, die von diesen Zuschreibungen betroffen sind. Ein arabischer Christ wird sich sagen: «Da die meisten Araber Muslime sind, ist es wohl normal, dass ich für einen Muslim gehalten werde». In der Schweiz ist das Implizite und das Unausgesprochene auch mit dem Narrativ verbunden, keine Kolonialmacht gewesen zu sein. Aufgrund des Neutralitätsdiskurses werden diese Fragen in der Schweiz zu wenig gestellt, obwohl die Schweiz seit über 70 Jahren ein Einwanderungsland ist.
Warum haben Sie sich entschieden, dieses Thema sichtbar zu machen?
Die feministische Standpunkttheorie (Sandra Harding, Patricia Hill Collins) hat mich inspiriert. Sie kritisiert eine weit verbreitete Überzeugung, wonach es ein weisses, männliches, intellektuelles Wissen gibt und dass dieses Wissen objektiv und neutral sei. Wissen ist jedoch immer situiert und positioniert, sagen uns diese Forscherinnen. Das ist der Ausgangspunkt meiner Dissertation: Das Besondere an der Perspektive muslimischer PädagogInnen ist, dass sie doppelt positioniert ist: erstens, weil sie sich als muslimisch verstehen oder muslimisch gelesen werden und (antimuslimische) Rassismuserfahrungen machen. Zweitens, weil sie durch ihre Ausbildung und institutionelle Einbindung als professionelle PädagogInnen in einer relativ machtvollen gesellschaftlichen Position sind. Diese doppelte Eingebundenheit weist Ähnlichkeiten mit dem sog. Outsider Within-Status auf, den Collins am Bespiel der Situation von Schwarzen AkademikerInnen beschreibt.
Ihr Ansatz ist theoretisch und nicht empirisch, warum?
MuslimInnen und Personen, die als muslimisch gelesen werden, sind seit der Jahrtausendwende verstärkt in den Mittelpunkt medialer und politischer Aufmerksamkeit gerückt. Der 11. September markiert einen entscheidenden Diskurswechsel, der den Blickwinkel auf Gewalt- und Konfliktthemen reduziert hat. Diese Hypervisibilität spiegelt sich auch in der wissenschaftlichen Forschung wider. Empirische Forschung zu MuslimInnen ist wichtig, um ihre Perspektiven und Lebensrealitäten sichtbar zu machen. Ein Teil davon ist jedoch überwiegend problemorientiert und reproduziert antimuslimische Stereotype. Mein Anliegen ist es daher, mit meiner Arbeit ein Gegengewicht zu schaffen, indem ich einen theoretischen Zugang wähle, der die (eurozentrisch geprägte) Professionstheorie der Sozialen Arbeit genauer unter die Lupe nimmt und danach fragt, wie sie mit bestimmten Herausforderungen im postkolonialen Kontext umgeht. Mein Ansatz ist daher nicht bottom-up, sondern top-down. Ich gehe von der Theorie aus und überlege, was das für die Praxis bedeuten könnte.
Welche Schlussfolgerungen können Sie zu diesem Zeitpunkt bereits mitteilen?
Ich kann ein Beispiel nehmen. Ein zentral formuliertes Ziel in der Professionstheorie der Sozialen Arbeit ist es, die Autonomie von KlientInnen zu erhöhen. Autonome Lebensführung wird als ein wichtiger und normativer Wert verstanden, der per se gut ist und im Gegensatz zur Abhängigkeit steht. Im Kontext von Migration und Religiosität wird dieses Thema jedoch oft ganz anders interpretiert. Denn gerade das Konzept der Autonomie als zentrale Bezugsfigur der europäischen Aufklärung wird in der Rassismusforschung problematisiert. So können im Namen der Autonomie Herrschaftsinteressen und -ansprüche durchgesetzt werden, indem z. B. eine Verbindung von antimuslimischen Diskursen, Orientalismus und Geschlechterbildern hergestellt wird. So wird die Konstruktion der «autonomen und emanzipierten» westlichen Frau dem Bild der «unterdrückten» muslimischen Frau gegenübergestellt. Damit will ich sagen, dass das Konzept der Autonomie, ein zentrales Konzept der Sozialen Arbeit, oft nicht (rassismus-)kritisch reflektiert wird. Dies ist ein Ansatzpunkt, der noch kaum analysiert wurde.
Inwiefern könnte diese Forschung auch für Personen in anderen Bereichen von Nutzen sein?
Diese Arbeit könnte nützlich sein, um soziale Positionierungen, die in einer doppelten oder sogar dreifachen Perspektive verankert sind, besser zu verstehen und zu reflektieren: Migration, Religion, Professionalität. Solche Mehrfachidentitäten sind in der Schweiz, einem Land mit einem hohen Migrationsanteil, häufig anzutreffen. Dies würde es ermöglichen, biografische Erfahrungen für die Institutionen sichtbarer zu machen. Und warum nicht auch in der Aus- und Weiterbildung. Vielfältige und komplexe Zugehörigkeiten und Positionierungen sind Teil unserer Realität. Wir müssen diesen Fragen auf den Grund gehen und uns vor allem trauen, sie anzusprechen, anstatt sie vorauszusetzen.