«Muslimische Seelsorge wird von Patienten und Spitälern geschätzt»
Die muslimische Seelsorge ist in der Schweiz noch wenig etabliert. Dilek Ucak-Ekinci (44) fungiert seit sechs Jahren als ehrenamtliche muslimische Seelsorgerin am Zürcher Universitätsspital. Im September 2017 beschloss sie, die vielen theologischen Fragen aus der Praxis in einer Doktorarbeit am SZIG zu erforschen.
Interview von Katja Remane
Frau Ucak-Ekinci, in Ihrer Dissertation am Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) der Universität Freiburg befassen Sie sich mit der muslimischen Seelsorge in Schweizer Spitälern. Ist das eine neue oder eine etablierte Dienstleitung in der Schweiz und wie sind die Bedürfnisse?
Die muslimische Seelsorge ist ein junges Feld in der Schweiz. Traditionell sind in muslimischen Ländern die Familie und Freunde für die Seelsorge ihrer Angehörigen zuständig. Es gibt in der Schweiz punktuell islamische Seelsorge, die ehrenamtlich geführt wird. Das Bedürfnis an Seelsorge in Krisensituationen ist sehr hoch im Krankenhausalltag. Dies nicht nur bei religiösen Menschen. Bei einem Verlust oder der Diagnose einer tödlichen Krankheit kommen existenzielle Fragen auf. In diesen Momenten bevorzugt man Gesprächspartner mit gleichem sprachlichem, kulturellem und religiösem Hintergrund. Als Seelsorgerin stehe ich der Person für ihre Fragen zur Verfügung.
In der Schweiz gibt es keine muslimische Seelsorge-Ausbildung, so wie für die christliche Seelsorge. Es gibt bislang keine muslimische Institution, die Seelsorge beauftragt und auch keine, die sie bezahlt. Im Kanton Zürich hat aber die Politik dieses Bedürfnis erkannt. Mit der Beteiligung des SZIGs wurde neu eine Weiterbildung für ehrenamtliche Seelsorgerinnen und Seelsorger angeboten. Sie lernen verschiedene Kompetenzen wie Gesprächsführung, die Begleitung bei existenziellen Fragen, sowie die Abläufe eines Krankenhauses. Die elf muslimischen Seelsorgerinnen und Seelsorger haben jeweils eine christliche Seelsorgeperson als Mentor, die sie in den Krankenhausalltag einführt.
Was sind die Unterschiede und Parallelen der muslimischen Seelsorge im Vergleich zur christlichen Seelsorge?
Die christliche Seelsorge besteht als professionelles Angebot schon länger. Die muslimische Seelsorge ist hingegen in der Schweiz noch nicht institutionalisiert. Die Parallelen sind, dass man Menschen begleitet. Die Motivation zu helfen, ist religiös fundiert. Man befindet sich in einem interkulturellen, interreligiösen Feld und steht Patienten in der Krise zur Verfügung. Wir versuchen sie zu unterstützen und Deutungsangebote für sie zu machen, die ihnen in ihren Lebenssituationen helfen könnten.
Wie kamen Sie dazu, über muslimische Seelsorge in Spitälern zu forschen?
Zu meinem Forschungsthema kam ich durch mein persönliches Engagement in der Frauenklinik Zürich. Ich begleite seit 2013 Musliminnen, die eine Stillgeburt erlebt haben oder wussten, dass ihr Baby kurz nach der Geburt sterben würde. Das sind Momente, wo die Mutter vor einer grossen existenziellen Krise steht. Sie möchte für ihr liebes Kind alles richtig machen und es ehrwürdig verabschieden. Dann kommt auf einmal die Religion ins Spiel und da stehe ich dann zur Verfügung. Diese ehrenamtliche Arbeit wurde sowohl von den Patientinnen als auch vom Spital sehr geschätzt. So kam ich in Kontakt mit christlichen Seelsorgenden vom Universitätsspital Zürich, die mich zu muslimischen Patientinnen gerufen haben.
Im Krankenhaus kamen viele Fragen, auf die ich Antworten bei muslimischen Experten gesucht habe. Wie kann man das theologisch lösen, wenn es um Rituale für verstorbene Kinder geht? Welche religiösen Traditionen gibt es zu diesen Fragen? Die Suche nach Lösungen brachte mich zu meinem Forschungsthema, das vom SZIG und der Professur für Spiritual Care der Universität Zürich betreut wird. Muslimische Patienten haben in unserem heutigen Kontext ganz andere Fragen, auf die muss die islamische Theologie auch Antworten liefern.
Was sind die ersten Ergebnisse Ihrer Doktorarbeit?
Zuerst habe ich mir sowohl europäische Länder wie auch Länder mit muslimischer Bevölkerung, in denen es schon eine professionelle muslimische Seelsorge gibt, genauer angeschaut, um zu sehen, wie dort die muslimische Seelsorge funktioniert und wie sie organisiert ist. Eine wichtige Erkenntnis war, dass alle Länder unterschiedliche Herangehensweisen haben, und dass sich die muslimische Seelsorge in den europäischen Ländern den vorhandenen Strukturen angepasst hat.
Beispielsweise sind in Grossbritannien und den Niederlanden muslimische Seelsorgende von den Spitälern angestellt. In Grossbritannien werden sie vom Gesundheitssystem und in den Niederlanden von den Krankenhäusern bezahlt. In der Türkei und im Iran gibt es jeweils eine andere Entwicklung. In der Türkei wird diese Profession vom Staat sehr gefördert. Es gibt Ausbildungsmöglichkeiten an den Universitäten und Protokolle zwischen dem Gesundheitsministerium und dem Präsidium für religiöse Angelegenheiten. Im Iran wird die Seelsorge von den Pflegewissenschaften gefordert, aber es gibt dort noch keine formelle Ausbildung. Eine universitäre Ausbildung oder Weiterbildung für muslimische Seelsorgende gibt es in der Türkei, in Grossbritannien, in den Niederlanden sowie in Deutschland und Österreich. Sie sind je nach Land unterschiedlich.
Charakteristisch für europäische Länder ist, dass sich die muslimische Seelsorge nach den existierenden Gegebenheiten richtet. Es ist natürlich spannend zu verfolgen, wohin das jetzt in der Schweiz führen wird. Meine Grundannahme war, dass erst in diesen europäischen Ländern das muslimische Bedürfnis nach Seelsorge entstanden ist und man nun darauf antwortet. Die Türkei und der Iran zeigen aber, dass auch in muslimischen Ländern ein Bedürfnis für professionelle Seelsorge da ist.
Welchen Beitrag leistet Ihre Arbeit für die islamisch-theologischen Studien?
Ich denke, dass es wichtig ist, die Seelsorgearbeit genauer anzuschauen, da sie eine praktisch-theologische Arbeit ist, welche einen Beitrag für unsere Gesellschaft leistet und das Leben der Muslime im hier und jetzt unterstützt. Die Aktivitäten der muslimischen Seelsorge werden erstmals erfasst und analysiert. Diese Reflexion wird eine Weiterentwicklung fördern, weil diese wissenschaftlichen Erkenntnisse dann in der praktischen theologischen Arbeit der muslimischen Seelsorge wieder zurück zur Basis gehen. Das hilft Muslimen, schwierige Lebenssituationen besser bewältigen zu können und bietet im Zusammenspiel mit den Spitälern, der christlichen Seelsorge, aber auch der Gesellschaft insgesamt die Möglichkeit, einen wichtigen Beitrag des gegenseitigen Respekts zu leisten.
Die muslimische Spitalseelsorge ist noch ein recht junges Feld. Am Anfang muss geklärt werden, wie sie sich theologisch begründet. Welche Antworten gibt es innerhalb des Islams auf Fragen, die durch die Entwicklung der Medizin neu aufkommen, wie zum Beispiel lebensverlängernde Massnahmen oder pränatale Medizin? Die Seelsorge muss Deutungsangebote machen können und dafür muss sie aus ihren jeweiligen Ressourcen schöpfen, aber Antworten in unserem heutigen Kontext geben. Wie gehen Muslime mit der islamischen Tradition im Kontext Schweiz und Spital um? Ich erhoffe mir, dass durch meine Arbeit viele Fragen aus der Praxis neue theologische Reflexionen bringen, um Menschen in ihrer Not besser begleiten zu können.