«Eine muslimische Vereinigung unter der Lupe der Mikrosoziologie»
Der Doktorand der Soziologie und Diplomassistent am SZIG Guillaume Chatagny (29) untersucht die Aktivitäten einer muslimischen Vereinigung im Detail. Es interessiert ihn, wie die Mitglieder ihren Gebetsraum je nach Bedarf besetzen und umgestalten. Für ihn gibt die Gestaltung eines Raumes wertvolle Hinweise über die Identität der dort agierenden Gruppe.
Interview von Katja Remane
Herr Chatagny, Sie haben Ihre Masterarbeit dem Tanz in einem evangelischen Gottesdienst gewidmet. Für Ihre Doktorarbeit untersuchen Sie einen muslimischen Gebetsraum. Was interessiert Sie besonders an diesen beiden Religionen und was sind die Ziele Ihrer Forschung?
Ich habe Religionswissenschaften an der Universität Freiburg studiert. Für meine Masterarbeit analysierte ich die Einbettung von zeitgenössischem Tanz in einem evangelischen Gottesdienst. Damals interessierten mich die Vorbereitungen und Veränderungen eines Rituals. So mussten, zum Beispiel, bei der Verlegung des Tanzteppichs nicht nur der Ablauf des Rituals, sondern auch die Architektur der Kirche und die Sicherheit der Tänzer berücksichtigt werden. Von dieser Arbeit habe ich eine einfache Idee mitgenommen: Während eines Rituals setzen sich Gläubige immer mit ihrer Umgebung auseinander. Ich wollte dieses Thema vertiefen.
Für meine Doktorarbeit interessiere ich mich für den Alltag einer muslimischen Vereinigung, die einen Raum von etwa 100 Quadratmetern mietet. Wenn ein Verein nur einen Raum hat, finden darin mehrere Aktivitäten statt, manchmal sogar parallel. Die Gestaltung des Raumes ist dann ein wichtiger Parameter. Ziel der Forschung ist es, sowohl die Gestaltung des Vereinsraumes zu beobachten und zu beschreiben wie auch die Art und Weise, wie die einzelnen Personen ihren Raum während ihrer Aktivitäten umgestalten.
Welche Aktivitäten des muslimischen Vereins studieren Sie im Rahmen Ihrer Dissertation?
Die Hauptaktivität, die die Gemeinschaft zusammenbringt, ist das Freitagsgebet. Die Menschen kommen im Voraus, begrüssen sich, diskutieren und gehen dann zum Gebet. Einige Leute kommen auch in die Moschee, um zu lesen. Es gibt noch Sitzungen, z.B. die einer Jugendgruppe, oder seltener Aktivitäten ausserhalb. Ich hatte die Gelegenheit, der Renovierung des Raumes beizuwohnen. Das war für mich besonders interessant, weil dies einen direkten Bezug zu meinem Thema herstellt.
Dann sind da auch die religiösen Feste. Während des Ramadans ist es üblich, das Fastenbrechen Iftar in Gemeinschaft zu begehen. Zum Eid-Fest verlässt die Vereinigung ihre Räumlichkeiten und mietet einen grösseren Saal, um eine höhere Anzahl von Gläubigen empfangen zu können.
Wie gehen Sie in der Praxis vor?
Während der Sondierungsphase versuchte ich, die Menschen nach und nach zu treffen, um ihnen die Gründe meiner Anwesenheit zu erklären. Ich ging in die Moschee, als sich dort nur sehr wenige Leute aufhielten, um mich zu orientieren, da mir dieses Umfeld nicht vertraut war. Später kam ich zur Zeit des Freitagsgebets. Ich versuche, zu verschiedenen Zeiten präsent zu sein, um unterschiedliche Arten von Aktivitäten zu beobachten.
Es ist wichtig, meinen Forscherstatus zu betonen. Während des Freitagsgebets ist kaum genug Platz, um alle Gläubigen zu empfangen. Ich gehe also an einen Ort, der mir implizit zugewiesen wurde, den ich die Forschernische nenne. Ich beobachte, notiere und fotografiere, um zu dokumentieren, wie die Männer den Raum einnehmen und nutzen.
Die Fotografie ist sicherlich nützlich, um Ihre Beobachtungen zu dokumentieren, aber ist sie nicht zu aufdringlich?
Die Herausforderung besteht darin, diese Momente der Intimität, die die Gläubigen erleben, nicht zu stören. Zuerst arbeitete ich mit einer semiprofessionellen Kamera, doch sie erschien mir zu aufdringlich. Jetzt benutze ich ein Smartphone. So bin ich diskreter, denn auch andere Männer fotografieren mit ihren Telefonen. Es kommt darauf an, beurteilen zu können, welche Situationen man fotografieren kann und welche nicht.
Am Anfang hielt ich vor allem die Inneneinrichtung der Moschee fest. Erst nach und nach fotografierte ich auch in Gegenwart von Personen. Natürlich gibt es ethische Abwägungen. Mit den Vorstandsmitgliedern wurde vereinbart, dass die Daten aus meiner Forschung anonymisiert und Gesichter systematisch unkenntlich gemacht werden. Zudem gebe ich weder den Namen der Vereinigung noch die Namen der befragten Personen preis.
War es einfach, eine Vereinigung zu finden, die zustimmte, laufend beobachtet zu werden?
Ich wollte mich an eine lokale Vereinigung wenden, die in einer welschen Region ausserhalb der städtischen Zentren angesiedelt ist. Ich habe dem Vorstand einen Brief geschrieben und er hat meine Anfrage angenommen. Ich begleite diese Vereinigung, die um die hundert Mitglieder hat, seit etwa drei Jahren. Es ist die einzige Moschee in der Region. Sie wird von Personen unterschiedlicher kultureller Herkunft besucht, die Mehrheit der Mitglieder stammt jedoch aus dem Balkan.
Mehrere Männer, die ich da getroffen habe, gehen auch in andere Moscheen, da sie beruflich unterwegs sind. Sie suchen sich dann in der Umgebung einen Gebetsort. Ich habe also andere Moscheen besucht, um die Konfigurationen der Räume zu vergleichen.
Was sind die ersten Ergebnisse Ihres Forschungsprojekts?
Ein erstes Ergebnis ist, dass eine Diskrepanz zwischen zwei Positionen besteht. Auf der einen Seite sind einige der Auffassung, dass die Inneneinrichtung nicht so wichtig ist. Die Religion sei immateriell, eine innere Reise, eine Beziehung zu Gott. Auf der anderen Seite weisen mehrere Personen auf den Platzmangel hin, der sich auf den Komfort während der Freitagsgebete auswirkt und die von der Vereinigung angebotenen Aktivitäten einschränkt.
Der Standort der Moschee ist ebenfalls ein wichtiges Thema. Einige würden einen sichtbareren Standort in der Stadt bevorzugen, aber die Mieten sind hoch. Andere wären bereit, die Stadt zu verlassen, um Eigentümer in einem umliegenden Dorf zu werden. Finanzielle Überlegungen und Unabhängigkeitserwägungen sind zentral. Im Allgemeinen zeigen die Ergebnisse, dass die Art und Weise, wie Individuen ihren Raum konzipieren und beleben, zu ihrer Gruppenidentität beiträgt und ihren Platz in der Gesellschaft widerspiegelt.
Was ist der Beitrag Ihrer Arbeit zur Religionssoziologie?
Mein Ziel ist es, einen Beitrag zur materiellen Erschliessung eines Islams, der in Vereinen organisiert ist, zu leisten. Ich lasse mich von der Mikrosoziologie inspirieren. Ich versuche im Detail zu beschreiben, wie Personen ihren Raum während ihrer Aktivitäten einnehmen und gestalten. Diese Perspektive ist in der Schweiz noch wenig entwickelt. Meine Forschung wird mir auch ermöglichen, zwei wichtige Begriffe für die beobachtete Vereinigung zu erörtern, nämlich den der Gemeinschaft und den der Beziehung zu Gott.
Ihre Doktorarbeit wird von Professoren aus mehreren Disziplinen betreut. Können Sie uns die Gründe dafür nennen?
Meine Forschung ist multidisziplinär angelegt. Für meine Doktorarbeit wollte ich von Professoren aus Disziplinen betreut werden, die meine Perspektiven bereichern können. Ich wählte zwei Betreuende an der Universität Freiburg, einen Professor für Islamische Studien am Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) und eine Professorin am Institut für Soziologie. Hinzu kommt eine Ko-Betreuung durch einen Professor für Anthropologie der Universität Paris-Nanterre.
(Übersetzung aus dem Französischen von Katja Remane)