«Der Mensch muss verstärkt in die Theologie eingebunden werden»

Esma Isis-Arnautovic (31) versteht die Offenbarung als Kommunikationsakt zwischen Gott und Mensch. In ihrer Dissertation am SZIG analysiert sie, welche Menschenbilder sich daraus ergeben. Ihr Ziel ist, eine theologische Anthropologie aus der islamischen Tradition heraus zu erarbeiten, die auch Antworten auf zeitgenössische Fragen vorschlägt.

 

Interview von Katja Remane

 

Frau Isis-Arnautovic, Sie arbeiten seit Anfang 2015 als Diplomassistentin an der Universität Freiburg und haben den Aufbau vom Schweizerischen Zentrum für Islam und Gesellschaft (SZIG) mitgestaltet. Wie kam es zur Gründung eines solchen Zentrums in Freiburg? Gab es auf diesem Gebiet in der Schweiz eine Forschungslücke und Weiterbildungsbedarf?

Die Gründung des Zentrums geht unter anderem auf das Nationale Forschungsprogramm 58 «Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft» (2007–2010) zurück. Da wurde ein Aus- und Weiterbildungsbedarf für Imame und muslimische Religionspädagogen in der Schweiz festgestellt. Es gab dann unterschiedliche Initiativen wie den «Muslim-Dialog» (2010–2011) sowie eine Arbeitsgruppe des Bundes mit Akteuren aus der Zivilgesellschaft, politischen Institutionen und muslimischen Vereinen, die inhaltliche Vorschläge für ein solches Zentrum erarbeitet haben.

 

Die Universität Freiburg hat dann ein Konzept vorgelegt, das überzeugt hat. 2015 begannen die Vorarbeiten mit den ersten Angestellten. Wir haben eigene Studien gemacht, um weitere Bedürfnisse für die drei Schwerpunkte Lehre, Forschung und Weiterbildung zu eruieren. Aktuell wird im Herbst das neue Masterhauptprogramm «Islam und Gesellschaft» starten. Es ist interdisziplinär und zeitgenössisch angelegt und zeichnet sich neben dem Bezug zum Schweizer und europäischem Kontext insbesondere auch dadurch aus, dass es islamisch-theologische Inhalte in das Studienprogramm miteinbezieht.

 

Parallel zu Ihrer Assistenztätigkeit machen Sie eine Doktorarbeit im Gebiet der theologischen Anthropologie im Islam. Können Sie Ihr Forschungsthema kurz für das allgemeine Publikum erklären?

Die theologische Anthropologie ist im Islam ein neues Forschungsfeld, das sich der Reflexion über den Menschen vor dem Hintergrund religiöser Quellen und neuzeitlicher Prämissen widmet. Die bisherige Forschung zum Verständnis vom Menschen im Islam ist in zwei grosse Forschungsperspektiven gegliedert. Erstens die Ansätze, die bei der Sunna, der prophetischen Tradition, ansetzen und versuchen anhand der Lebensweise des Propheten ethische Ideale abzuleiten.

 

Die zweite Forschungstradition setzt beim Koran an und versucht anhand von Begriffen und Konzepten wie Körper und Seele, Gemeinschaft oder Gottesdiener, Menschenbilder auszuarbeiten.

 

Ich erforsche einen dritten Zugang, der den diskursiven Offenbarungsprozess zum Ausgangspunkt nimmt. Für mich ist der Offenbarungsprozess ein gutes Beispiel, wie Theologie und Anthropologie ineinandergreifen, wie die Sphären Gott und Mensch zusammentreffen. Die These, die meiner Arbeit zugrunde liegt, ist, dass bereits in der Art, wie sich Gott den Menschen im Koran mitteilt, relevante Aussagen über den Menschen enthalten sind.

 

Können Sie ein konkretes Beispiel geben?

Im diskursiven Modell wird Offenbarung als Kommunikationsakt zwischen Gott und Mensch betrachtet. In diesem ist der Mensch nicht nur ein passiver Empfänger, sondern aktiver Hörer, der auch Fragen stellt. Die Offenbarung erfolgte nicht in einem Zug. Gott warf nicht ein Buch herab, sondern er offenbarte sich immer wieder zu unterschiedlichen Situationen über einen Zeitraum von rund 23 Jahren hinweg. Was bedeutet dies nun für den Menschen? Wird hier seine Entwicklungsfähigkeit mitberücksichtigt oder geht es auch darum, dass es einen längeren Zeitraum braucht, um Vertrauen und eine Beziehung aufzubauen? Welche Bedeutung hat es für das menschliche Selbstverständnis, dass sich Gott sprachlich offenbart und die Muslime durch die Rezitation des Koran in jeder Situation Zugriff auf die Rede Gottes haben?

 

Was unterscheidet die theologische Anthropologie im Islam von der im Christentum?

Den Hauptunterschied würde ich in der christologischen Begründung sehen, d.h. der Inkarnation Gottes im Menschen Jesus. Dies fehlt im Islam komplett. Darum sagen manche auch, dass es im Islam keine theologische Anthropologie geben könne, weil Gott eben nur eine transzendente Dimension zukommt. Im Islam gibt es jedoch verschiedene Konzepte von der Präsenz Gottes und seinem Wirken in der Welt. Beispielsweise in der Rezitation des Korans, durch welche Gott im Alltag präsent ist.

 

Welche Forschungsergebnisse Ihrer Dissertation können Sie schon mit uns teilen?

Ein wichtiges Ergebnis für mich ist, dass es eine grosse Spannbreite gibt, wie der Begriff theologische Anthropologie verwendet wird. Manche verstehen ihn als Thema und erforschen unterschiedliche Menschenbilder und Teilaspekte davon wie die Willensfreiheit, die Menschenwürde oder Genderfragen. Andere wiederum sehen die theologische Anthropologie mehr als Perspektive. Sie bleiben nicht bei Themen stehen, sondern denken umfassender, indem sie z.B. darauf hinweisen, dass jede Aussage über Gott auch Implikationen über den Menschen enthält.

 

Eine weitere wichtige Erkenntnis war für mich, dass im diskursiven Offenbarungsmodell der Mensch als kommunikatives Gegenüber aktiv in den Prozess eingebunden wird. Dass Gott den Menschen im Koran auch zu Wort kommen lässt, gibt uns Hinweise, den Mensch in der Theologie nochmal verstärkt einzubeziehen. Damit lässt sich eine Brücke zu einer Theologie bauen, die menschliche Fragen und Bedürfnisse ernst nimmt.

 

Welchen Beitrag leistet Ihre Arbeit für die islamisch-theologischen Studien?

Meine Arbeit vereint zwei zentrale Themen der Theologie und versucht sie systematisch aufeinander zu beziehen, nämlich Offenbarung und Mensch. Das ermöglicht eine Erweiterung der bisherigen Perspektiven und leistet einen Beitrag zu zeitgenössischen Fragen nach dem Menschen, dem theoretischen Rahmen der theologischen Anthropologie, wie auch nach dem methodischen Umgang mit dem Koran.

 

Das zweite Element ist, dass nahezu jede Disziplin ihre eigene Anthropologie kennt. Wenn der Islam wissenschaftlich anschlussfähig sein will, ist er auch gefordert in diesem Konzert von Deutungen des Menschen eine Position zu erarbeiten. Es geht hier schlussendlich auch um gesellschaftlich relevante Themen wie den Umgang mit der Umwelt, Organspenden oder Schwangerschaftsabbruch. Es ist für den Islam wichtig, Antworten auf Entwicklungen der heutigen Zeit zu erarbeiten.

 

Drittens könnte meine Arbeit auch Anstösse zur Ausrichtung der islamisch-theologischen Studien in der Schweiz liefern. So könnte man darauf aufbauend erforschen, welche Konsequenzen sich ergeben, wenn diese mit Fokus auf Gott, den Mensch oder die Beziehung Gott-Mensch betrieben werden.

Esma Isis-Arnautovic©Katja Remane