«Man kann nicht gefunden werden, wenn man sich nicht verirrt hat»

«Man kann nicht gefunden werden, wenn man sich nicht verirrt hat»

Im Rahmen des XII. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik, der vom 9. bis 12. September 2024 an der Unifr stattfand, hatten wir das Vergnügen, mit dem einflussreichen Philosophen Alva Noë von der University of California, Berkeley in Kontakt zu treten. In unserem Interview beleuchtet Noë nicht nur die Herausforderungen, die Künstliche Intelligenz für unser kreatives Verständnis mit sich bringt, sondern regt auch zur Reflexion über die Rolle von Wut in der menschlichen Existenz und der Beziehung zu Maschinen.

Wie würden Sie die philosophischen Fragen, mit denen Sie sich in Ihrer täglichen Arbeit beschäftigen, kurz beschreiben?
Ich bin Philosoph und befasse mich mit Themen wie Wahrnehmung, Bewusstsein, Kunst und dem Wesen der Philosophie. In meinem neuesten Werk, einem Buch mit dem Titel The Entanglement, versuche ich, unser Verständnis von Ästhetik zu verändern, um zu verdeutlichen, wie Kunst, ästhetische Erfahrung und Philosophie untrennbar mit dem menschlichen Leben verbunden sind. Nach meinem Verständnis sind Kunst und Philosophie grundlegende und sogar urtümliche Aspekte der menschlichen Existenz. Derzeit arbeite ich an drei neuen Projekten: eines über Liebe, ein weiteres über Perspektiven und antiperspektivische Bewegungen in der Renaissancemalerei und deren Einfluss auf unser heutiges Denken über Wahrnehmung und Bewusstsein, sowie ein Projekt über Künstliche Intelligenz.

Ihr Vortrag auf dem Kongress trägt den Titel Rage Against the Machine. Entanglement, substitution, resistance (dt. Wut gegen die Maschine, Verschränkung, Substitution, Widerstand). Was steckt hinter dieser Kombination von Begriffen, und warum sind diese Ideen heute besonders wichtig?
Diese Themen sind heikel, und ich werde mich kurz fassen. Die gegenwärtige Faszination für Maschinengehirne wird meiner Meinung nach von falschen und sogar gefährlichen Annahmen über das, was wir meinen, wenn wir sagen, dass Menschen einen Verstand haben, getrieben. Wir sind Wesen, die sich stören lassen, und in unserem besten Zustand – wenn wir sprechen, denken, spielen und etwas erreichen – meistern wir das allgegenwärtige, lebendige Risiko der Störung. Ingenieur_innen gehen davon aus, dass wir geschickt sind, was für sie bedeutet, dass wir die Regeln verkörpern und sie fliessend anwenden. Doch nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Unsere Geschicklichkeit ist eng verbunden mit unserem Widerstand gegen die Art und Weise, wie wir uns verhalten sollen. Deshalb spielen wir Menschen nicht nur Spiele – wir erfinden sie. Wir verwenden Sprache nicht nur; wir kreieren sie ständig, während wir sie nutzen. KI-„Köpfe“ sind Parasiten, die lediglich einen einseitigen Aspekt dessen erforschen, was es bedeutet, aktiv, involviert und handlungsfähig zu sein. Wut gegen die Zwänge von Gewohnheiten, Technologie, Kultur und Geschicklichkeit ist ein wesentliches Element des menschlichen, vielleicht sogar tierischen Bewusstseins. Dies ist der erste Sinn, in dem ich die Idee der Wut anspreche. Computer betrachten uns als Regelbefolger_innen, die dem reibungslosen Weg der Berechnung folgen. Doch wir sind die Schöpfer von Regeln, und jede Regel lädt zu einem Streit ein. Darüber hinaus verwende ich „Wut“ auch im Sinne einer zweiten Dimension: Ingenieure haben keine bewussten Maschinen geschaffen, aber sie haben unsere Welt energisch verändert, um sie für ihre leistungsstarken Technologien geeignet zu machen. Ein gewisses Mass an Wut über die Art und Weise, wie sich diese neuen Organisationssysteme ausbreiten, ist gerechtfertigt.

Alva Noë mit seinem Werk «The Entanglement: How Art and Philosophy Make Us What We Are»

Technologie ist heute allgegenwärtig. Wie können Ihre philosophischen Ideen uns helfen, unsere Beziehung zu Maschinen und Technologie besser zu verstehen?
Jedes Werkzeug – vom Bleistift über den Schuh und das Auto bis hin zum Smartphone – ist ein Ort von Gewohnheiten und Organisation. Ein Werkzeug oder eine Technologie zu beherrschen, bedeutet, dass sie uns organisiert. Natürlich werden Werkzeuge nicht entwickelt, um bereits bestehende Probleme zu lösen. Neue Werkzeuge und Technologien eröffnen neue Lösungen für neue Probleme, und die Geschichte der Technologie ist in der Tat die Geschichte unserer körperlichen, sozialen und kognitiven Organisation. Richtig verstanden, sollte uns dies zu der Erkenntnis führen, dass Menschen nicht einfach freie Akteur_innen sind, sondern an komplexe, verteilte Organisationssysteme gekoppelt sind, die unser Handeln beeinflussen. In diesem Sinne können wir sagen, dass Werkzeuge, Technologien und Gewohnheitssysteme durch uns zum Ausdruck kommen oder in uns handeln, was uns zu einer Sichtweise führen könnte, die mit dem herkömmlichen anthropomorphen Modell bricht.

Aus dieser Perspektive sind alle Technologien – und nicht nur die modernen oder digitalen – an einer Art verteilter Handlungsfähigkeit beteiligt. Wir sind durch unsere intensive Auseinandersetzung mit und Teilnahme an Technologien, weit gefasst, tatsächlich geprägt und geformt.

Aber es gibt eine entscheidende Asymmetrie zwischen Mensch und Maschine. Wir stellen Maschinen her, und diese Technologien organisieren uns. Doch wir, die lebenden Wesen, widersetzen uns dieser Organisation. Ich habe mich nicht dafür entschieden, auf diese Weise organisiert zu sein, und ich widersetze mich dieser Art der Organisation. Ich fühle mich in dieser Situation verloren oder gefangen. Ich versuche, mich selbst zu finden und mich neu zu orientieren. Ich widersetze mich den Gewohnheiten, der Technologie und der Kultur, die uns dominieren. Indem ich dies tue, arbeite ich daran, mich neu zu organisieren und mich von den Wegen zu befreien, auf denen ich mich gefangen fühle. Das ist das Kunstwerk. Das ist die Arbeit der Philosophie.

Keine Maschine sagt Nein. Keine Maschine geht verloren. Keine Maschine muss gefunden werden. Keine Maschine sucht nach Erleichterung, Befreiung oder Emanzipation.

Haben Sie irgendwelche Ängste? Sollten wir uns vor KI fürchten?
Wenn wir von „KI“ sprechen und damit maschinelle Intelligenz meinen, dann existiert sie nicht und wird auch niemals existieren. Im schlimmsten Fall handelt es sich um Lügen und Propaganda, im besten Fall um eine Fantasie. Die eigentliche Gefahr besteht darin, dass wir weiterhin ein falsches und oberflächliches Bild davon haben, wer und was wir sind.

Wenn „KI“ jedoch die gegenwärtig existierenden Technologien wie grosse Sprachmodelle (LLMs), künstliche neuronale Netze und „Deep Learning“-Systeme bezeichnet, dann ist KI tatsächlich real, und sie bringt sowohl Gefahren als auch, wie ich vermute, Chancen mit sich. Hier bestehen immense Risiken in Bezug auf Kriegsführung, Überwachungskapitalismus (wie von Zuboff beschrieben), Deep Fakes, intellektuellen Diebstahl, den Zusammenbruch des politischen Diskurses und sogar in Bezug auf das Klima.

Was mir jedoch am meisten Angst macht, ist die Vorstellung, dass Menschen, insbesondere junge Menschen, aufhören könnten zu schreiben, zu komponieren und sich dem zu widersetzen, was im Grunde genommen Technologien der Kontrolle sind.

Der Kongress, auf dem Sie gesprochen haben, bringt Expert_innen aus verschiedenen Bereichen zusammen. Wie sehen Sie diesen Austausch und was nehmen Sie persönlich von der Konferenz mit?
Es war mir eine Freude, Wissenschaftler_innen mit unterschiedlichen Hintergründen zu treffen. Ich fühle mich in interdisziplinären Umgebungen sehr wohl und bin dankbar für die Einladung.

Vielen jungen Menschen, insbesondere Studierenden, fällt es schwer, sich mit Philosophie zu beschäftigen. Welchen Rat würden Sie denjenigen geben, die sich für Themen wie Bewusstsein und Technologie interessieren, aber nicht wissen, wo sie anfangen sollen?
Vertrauen Sie Ihrer eigenen Verwirrung. Denken Sie daran, dass niemand alle Antworten hat. Was ein Problem philosophisch macht, ist die Tatsache, dass es sich uns ohne klare Methoden oder Lösungsstandards präsentiert. Die Aufgabe der Philosophie besteht darin, das Problem zu nähren und Wege zu finden, damit umzugehen. Dies ist ein persönliches Problem – Ihres und nur Ihres. Ein philosophischer Text sollte nicht als Behälter voller Einsichten betrachtet werden, sondern als Partitur, die Sie selbst spielen, mitspielen, improvisieren oder ablehnen können, wenn sie für Sie bedeutungslos oder langweilig erscheint.

Sie werden etwas aus Ihrem Philosophiestudium mitnehmen, wenn Sie viel von sich selbst in die Philosophie einbringen. In dieser Hinsicht ist Philosophie wie Kung-Fu: Es ist kein Zuschauersport, sondern ein Vollkontakt-Sport, der Engagement erfordert.

Ein letzter Ratschlag: Gute philosophische Texte – ähnlich wie gute Kunstwerke – übersteigen das, was man im Voraus verstehen kann. Sie gehen immer darüber hinaus. Überlegen Sie, was das bedeutet. Es heisst, dass man sie nicht einfach verstehen kann – nicht auf eine direkte Weise. Es erfordert die Bereitschaft, das Nicht-Verstehen zu tolerieren und die Arbeit zu leisten, um Verständnis zu schaffen, auch wenn man nicht versteht. Das kann unangenehm und herausfordernd sein. Vielleicht ist es nicht für jede_n etwas. Aber es ist der Schlüssel. Man kann etwas finden, wenn man nicht sucht. Man kann nicht gefunden werden, wenn man sich nicht verirrt hat.

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Author

Lovis Noah Cassaris ist Germanist_in, Philosoph_in und Autor_in, seit 2018 zudem Redaktor_in und Social-Media-Expert_in im Team Unicom. Lovis bezeichnet sich selbst als Textarchitekt_in und verfasst in der Freizeit Romane und Kurzgeschichten.

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