Dossier
Des Wissens heisser Durst
Schleier sind wichtige Motive in der Mythologie. Kein Wunder, dass auch die Aufklärer das Motiv gern bemüht haben – auf ihre ganz eigene, unzimperliche Weise allerdings. Schaut man weiter zurück, wird die Motivgeschichte um vieles komplexer – hat aber immer eine erotische Komponente.
Ein Schleier verhüllt etwas, ein schönes Gesicht, ein Geheimnis, ein empfindliches Objekt – es verwundert nicht, dass dieses Bild zu den reichsten Motiven der Kulturgeschichte zählt. Und was ver-, das kann natürlich auch wieder entschleiert werden: Tatsächlich ruft das eine schon fast zwangsläufig nach dem anderen. Was zu nackt dasteht, möchte wohl lieber zugedeckt werden, und was einen ins Auge fallenden Schleier trägt, reizt natürlich dazu, diesen zu heben um zu sehen, was sich darunter verbirgt. Es sei ein ewiges Wechselspiel, sagt der Freiburger Theologe und Altertumswissenschaftler Florian Lippke, «zwischen präsentieren und nicht präsentieren, zwischen zeigen und verstecken». Das Motiv lässt sich in seinen Augen durchaus auch vor ganz grosse Karren spannen. Lippke beschreibt zum Beispiel die Offenbarungsereignisse in den Weltreligionen als Moment, wenn der Schleier sich lüftet.
Eine mit der Offenbarung verwandte Schleier-Geschichte ist uns von Schiller überliefert, aus der Ballade «Das verschleierte Bild zu Sais»:
«Kein Sterblicher, sprach des Orakels Mund,
Rückt diesen Schleier, bis ich selbst ihn hebe.
Doch setzte nicht derselbe Mund hinzu:
Wer diesen Schleier hebt, soll Wahrheit schauen?
<Sei hinter ihm, was will! Ich heb’ ihn auf!>
Er ruft’s mit lauter Stimm’: <Ich will sie schauen.>
Schauen! Gellt ihm ein langes Echo spottend nach.
Er spricht’s und hat den Schleier aufgedeckt.
<Nun, fragt ihr, und was zeigte sich ihm hier?>
Ich weiß es nicht. Besinnungslos und bleich,
So fanden ihn am andern Tag die Priester
Am Fußgestell der Isis ausgestreckt.»
Die Wahrheit möchte also lieber verhüllt bleiben. Schiller phantasierte sich da ins alte Ägypten, also weit in ein vor-aufklärerisches Zeitalter zurück und bediente sich eines klassischen, seit der Antike überlieferten Topos. Dieser dreht sich um eine verhüllte Götterstatue der Isis als göttliche Verkörperung der Natur. Nach der Überlieferung soll sich über dem Eingang ihres Tempels folgende Inschrift befunden haben: «Ich bin alles, was ist, was gewesen ist und was sein wird. Kein sterblicher Mensch hat meinen Schleier aufgehoben.» Solch altes Wissen, das sich (natur-)wissenschaftlich nicht fassen und das dem Uneingeweihten auch schädlich sein kann, hat Wahrheitssuchende immer wieder fasziniert – esoterische Kreise referieren auch heute noch gern auf das Werk «Isis Unveiled» von Helena Blavatsky. Der Philosoph Ralf Konersmann schrieb in der NZZ, «Verhüllungen», «Vorhänge» und «Schleier» stifteten «den imaginären Raum des Unsichtbaren als des eigentlich Sehenswerten, jedoch den leiblichen Augen wohlweislich Vorenthaltenen.» Und er konstatierte, dass diese Gedankenzusammenhänge jahrhundertelang, bis zur Schwelle der Neuzeit, Bestand hätten. «Dann scheinen sie plötzlich zu verblassen.» In der Zwischenzeit hatte die Aufklärung eine gänzlich andere Schleier-Mythologie begründet – ein ziemlich exaktes Spiegelbild zu Schillers Warnung. Seit dem 17. Jahrhundert nämlich begann sich ein Narrativ durchzusetzen, das die Natur erstens als weiblich (und den Forscher notabene als ausschliesslich männlich) und zweitens als zu Unrecht in allerlei Verhüllungen eingepackt verstand. Es galt nun, der Natur diese Hüllen ganz unzimperlich zu entreissen. Worin sich auch ein erotischer Moment zeigt: Es galt, eine Liebesbeziehung der sehr handfesten Art mit der Natur einzugehen, sie zu umwerben – und dann aber nicht unbedingt auf Einverständnis zu warten, sondern sie zu erobern und zu besitzen.
Von Francis Bacon beispielsweise gibt es das berühmte Bonmot, «daß sie [die Wissenschaft] dir die Natur mit allen ihren Kindern untertan und zu deiner Sklavin macht», und dies mit Mitteln, die nicht nur «den Lauf der Natur auf sanfte Weise beeinflussen, sondern die mächtig genug sind, die Natur zu erobern und zu unterwerfen und sie bis in ihre Grundlagen zu erschüttern». Robert Boyle meinte verächtlich, «some men care only to know Nature, others desire to command her.» Und Henry Oldenburg gab die auch eher hemdsärmelige Losung aus, «the true sons of learning penetrate from Nature’s antechamber to her inner closet.»
Die Literaturprofessorin (UCLA) und Autorin Anne K. Mellor hat vor gut 30 Jahren in einem Essay ausgehend von Mary Shelleys «Frankenstein» sehr zu Recht feministische Kritik an diesem Urmotiv der modernen Wissenschaft geübt. Die Penetration kann man aus heutiger Sicht allerdings nur noch als einigermassen unglückliche (aber eben auch vielsagende) Metapher für die Suche nach Wahrheit sehen.
Europa lässt die Hüllen fallen
Florian Lippke faszinieren diese Bezüge, weil es da offensichtliche Resonanzen zu seiner eigenen Forschung gibt. Zunächst möchte er sich aber Mellors Plädoyer anschliessen: «In der Wissenschaft ist schon seit langem kein Platz mehr für solch chauvinistisch-machistische Modelle.» Wer sich vom Brutalen abwendet und in ein wertschätzendes Gespräch mit dem Forschungsgegenstand einlässt komme viel weiter, ist er überzeugt. Lippke hat sich zusammen mit Beatrice Wyss von der Uni Bern eingehend mit einem anderen Schleiermotiv beschäftigt: dem von Europa, die sich von Zeus entführen lässt. In der Gestalt eines Stiers gewinnt er ihr Vertrauen und trägt sie auf seinem Rücken davon, wobei sie in diversen Variationen ihr Gewand hebt. Wer sich auf die frühen Zeugnisse einlässt, erkennt eine vital-göttliche Königstochter Europa, die eigenständig, fast selbstbewusst, präsentiert wird – sie wird vom Stier nicht überrumpelt, sondern verführt und spielt dann mit dem Reiz des gelüfteten Stoffs. Lippke und Wyss haben in akribischer Detektivarbeit den orientalisch-levantinischen Hintergrund des griechisch-römischen Mythos freigelegt und dabei das Schleier-Motiv gewissermassen als «Smoking Gun» genutzt. Die Verbindung von Frau und Stier, bei der auch der Schleier eine wichtige Rolle spielt, weist enge Verbindungen zu den altorientalischen, sich entschleiernden Göttinnen auf. Der Europamythos hatte wohl einen levantinischen Mythos zum Vorbild, bei dem die Segensgöttin eine wichtige Rolle spielte. Dabei zeigen die Bilder aus dem Alten Orient durchaus eine explizite Deutlichkeit von Erotik und Sexualität und waren in diesem Sinne auch sehr eindeutig gemeint. Doch meint Lippke, dass die Nacktheit auch symbolischer gelesen werden kann, als allgemeine Segensvorstellung, nämlich: Nachkommenschaft bedeutet Segen.
Damit zurück zur Offenbarung: In manchen Kontexten kann die reine Nacktheit also auch für göttliche positive Zuwendung stehen. Und das funktioniere durchaus auch als göttliche Zuwendung in intellektueller Hinsicht, sagt Lippke. Es gibt sogar in der Bibel Stellen, die sich die Weisheit als erotische vor Gott tanzende Frau vorstellen. Da wird es dann allmählich kompliziert mit den Interpretationsebenen – wie genau hatten die Aufklärer ihren (wenig subtilen) Flirt mit der nackten Wahrheit gemeint? Wollten sie sie etwa schlicht Gott ausspannen, mit aller Macht?
Florian Lippke ist Theologe und Altertumswissenschaftler. Er studierte in Tübingen, Jerusalem und Bern Evangelische und Römisch-Katholische Theologie nebst den orientalischen Fächern und der Ägyptologie. An allen drei Studienorten war er als Assistent und Dozent tätig. Aktuell bekleidet Lippke die Diplomassistentenstelle am Departement für Biblische Studien sowie das Amt des Kurators für Vorderasien am BIBEL+ORIENT Museum der Universität Freiburg. Sein Spezialgebiet sind semitische Sprachen, biblische Exegese und Archäologie Syrien/Palästinas.