Forschung & Lehre
Dr Hansjakobli und ds Babettli
Ganz alltäglich soll es sein: Ein Gespräch unter Bekannten, mit dem Partner, der Nichte oder der Grossmutter. Fotos aus dem Familienalbum gehen reihum, Geschichten und Erinnerungen werden ausgetauscht. In der Runde aber sitzt auch eine Linguistin mit einem speziellen Interesse an Frauennamen.
Zum Gespräch eingeladen hat die Linguistin Gerda Baumgartner, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt «Das Anna und ihr Hund». Sie horcht auf, wenn während des Plauderns auf einmal ds Vreni, ds Margrit oder ds Anna zum Thema werden. Es könnte nämlich auch d Vreni, d Margrit oder d Anna heissen. Eigentlich müsste es das sogar: Das sogenannte natürliche Geschlechtsprinzip weist dem biologischen Geschlecht (Sexus) einer Person nämlich strikt ein bestimmtes grammatikalisches Geschlecht (Genus) zu. So heisst es auf Deutsch die Mutter und der Vater, also eigentlich auch die Anna und der Peter. In deutschen Dialekten von der Schweiz über die westliche Rheingegend bis ins Westfälische und auch im Luxemburgischen ist nun aber ds Anna geläufig – der weiblichen Anna wird also ein grammatikalisches Neutrum zugeschrieben. So ergeht es auch dem Babettli: Im berühmten Chanson des Berner Liedermachers Mani Matter «Dr Hansjakobli und ds Babettli» imitieren zwei Kinder den Umgang zwischen Nachbarn: Dr Hansjakobli und ds Babettli steigen abwechslungsweise auf das Taburettli und stampfen laut, während der oder die andere unter das Taburettli kriecht und doppelt so laut unten herauf klopft. Im Spiel, so Gerda Baumgartner, herrsche ein Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern; es darf immer abwechselnd das eine und dann das andere Kind der Nachbar oben und jener unten sein. Auf grammatischer Ebene allerdings sei ein solches Gleichgewicht nicht gegeben: Dem Hansjakob wird ein maskuliner Artikel, der Babette aber ein neutraler und nicht etwa ein femininer Artikel zugewiesen. Genus und Sexus klaffen also beim Babettli, nicht aber beim Hansjakobli auseinander. Herabsetzung? Sexismus? Oder doch Verniedlichung? Zwar mögen bei den Leuten spontan solche Vermutungen aufkommen, eigentlich weiss die Forschung aber bislang nicht, warum Frauennamen bevorzugt ins Neutrum gesetzt werden. Diese Lücke will das trinationale Forschungsprojekt unter der Leitung von Prof. Helen Christen (Schweiz), Prof. Damaris Nübling(Deutschland) und Prof. Peter Gilles (Luxemburg) schliessen.
Die sogenannten Femineutra, also die Kombination weiblicher Rufnamen mit neutralem Artikel, sind wissenschaftlich bisher nahezu nicht untersucht: Weder weiss man, welche Auslöser dafür verantwortlich sind, wann und warum wir statt d Babette auch ds Babette sagen, noch ist bekannt, wie das Phänomen sprachhistorisch zustande kam. Vermutungen über die Gründe gibt es verschiedene. Eine Theorie, die sprachhistorisch argumentiert, setzt bei den sogenannten Diminutiva (Verkleinerungsformen) weiblicher Rufnamen an. Sie geht davon aus, dass das neutrale Genus diminuierter weiblicher Rufnamen – wie das Babettli – auf alle weiblichen Rufnamen – also auch ds Babette – übertragen wurde. Erklärungsbedürftig bleibt aber nach wie vor, warum es – diminuiert oder nicht – gerade weibliche Rufnamen sind, die mit neutralem Genus kombiniert werden. Und letztlich, ob dieses Merkmal unseres Sprachgebrauchs mit unserer Konzeption der Geschlechter zu tun hat.
Die Forscherinnen vermuten, dass die emotionale Nähe für die Wahl des grammatikalischen Geschlechts ausschlaggebend ist. Ebenfalls in Frage kommen als Auslöser die Art des Namens, das Alter oder sogar die Bekanntheit der bezeichneten Person. So ist im Luxemburgischen etwa Berühmtheit ein Auslöser für einen Genuswechsel: Dort werden nämlich alle Frauennamen grundsätzlich mit dem neutralen Geschlecht verbunden. Zwar gilt das ebenso für Promis, allerdings nur für einen Teil von ihnen: So behalten die Luxemburger für populäre Personen des öffentlichen Lebens, wie Schauspielerinnen oder Sängerinnen, das vertraute Neutrum bei. Wenn sie allerdings von Politikerinnen oder Mitgliedern des Könighauses sprechen, verwenden sie interessanterweise eher den femininen Artikel: Respektspersonen werden also sozusagen zurückverschoben ins grammatikalische Femininum. Und dadurch markiert das weibliche Genus eine bestimmte Art von Popularität.
Das Luxemburger Beispiel illustriert, wie sogenannte soziopragmatische Faktoren den Sprachgebrauch steuern können. Darunter werden Merkmale der sozialen Beziehung und der kommunikativen Funktion verstanden, die durch eine sprachliche Äusserung zum Ausdruck gebracht werden. Auch für die Deutschschweiz ist es durchaus plausibel, dass die emotionale Nähe als soziopragmatisches Merkmal die Wahl des Genus bestimmt. Konkret würde das bedeuten, dass der Gebrauch des neutralen Genus eine bestimmte Nähe zur bezeichneten Person markiert. Darum sind auch die Fotoalben der Probanden für das Sammeln der Sprachdaten so wichtig. Durch die Fotos regen die Forscherinnen nämlich ein Gespräch über Menschen aus dem vertrauten Umfeld der Probanden an – und dokumentieren dadurch ein Stück Alltagssprache. Damit sie untersuchen können, ob die Verwendung des neutralen Artikels mit der Vertrautheit zur bezeichneten Person zu tun hat, kontrastieren die Linguistinnen das Gespräch über persönliche Fotos mit Wimmelbildern und Videoausschnitten von fremden Menschen. Die Probanden werden also angehalten, sowohl über ihnen fremde Personen als auch über Bekannte aus ihrem Umfeld zu sprechen. Zudem sprechen die Forscherinnen am Schluss des Gesprächs mit den Teilnehmenden explizit über die Rufnamen, die Kombination mit dem neutralen Artikel und über die Frage, was für eine Bedeutung sie den Femineutra zuschreiben. Auf diesem Weg wollen die Forscherteams in drei Ländern in den kommenden zwei Jahren unserem Sprachverhalten, aber auch unseren Werturteilen und Stereotypen auf die Spur kommen.
Die mehrstündigen Gespräche sowie ergänzenden Befragungen der Probanden zu ihrem sozialen und sprachlichen Hintergrund bilden die Datenbasis für das gross angelegte Forschungsprojekt. Für die Schweiz werden nach Abschluss der Befragungen aus acht Orten insgesamt 64 Aufnahmen vorliegen. Die acht Orte wurden dabei nicht zufällig, sondern aufgrund einer Vorerhebung ausgesucht: Anhand einer Online-Umfrage ist es dem Schweizer Forscherteam nämlich inzwischen gelungen, die Verbreitung der Femineutra in der Deutschschweiz zu dokumentieren. Die Auswertung des Online-Fragebogens, den bisher über 1700 Personen aus der ganzen Schweiz ausgefüllt haben, lieferte ein Bild davon, wo die neutrale Genuszuweisung vorkommt und mit welchen Wertungen sie verbunden wird. Es zeigte sich, dass der neutrale Artikel vor Frauennamen in der ganzen Schweiz gebräuchlich ist. In den höchstalemannischen Sprachregionen, so etwa im Wallis oder im Sensebezirk, kommt ebenfalls eine Kombination des neutralen Artikels mit Männernamen vor – allerdings exklusiv mit dem Diminutiv, der Verkleinerungsform. Es heisst entsprechend ds Ursli und ds Päuli, aber nicht ds Urs und ds Paul, während Frauen nicht nur ds Babettli, sondern eben durchaus auch ds Babette sein können.
Emotionale Nähe
Neben der Verteilung der Femineutra in der Deutschschweiz illustrieren die Ergebnisse der Online-Umfrage auch die Wertungen, die Dialektsprecherinnen – der überwiegende Anteil der Antworten stammt von Frauen – mit dem neutralen Genus verbinden. «Ich bin die Gabi, niemals das Gabi! Letzteres wäre einfach lächerlich, damit könnte ich mich absolut nicht identifizieren – auch wenn es in Basel oft gebräuchlich ist», kommentiert etwa eine Teilnehmerin den Online-Fragebogen. Solch eine ablehnende Haltung gegenüber dem neutralen Genus kommt in den Kommentaren der Teilnehmerinnen in verschiedenen Variationen zum Ausdruck. Ebenfalls geschildert werden die Gründe für die Ablehnung: «Ich habe mich vor längerer Zeit intensiv mit dem Sprachgebrauch auseinandergesetzt. Auch meinen Vornamen liess ich von meiner Familie und Bekannten mit 50 Jahren ändern von Käthi auf Kathrin.» Auch die Sprecherinnen selber nennen, wie von den Sprachforscherinnen vermutet, die emotionale Nähe als Grund für die Wahl des Artikels: «Das mit de Frauenäme isch noch tricky: es chunnt glaub au no druf aa, wie nöch mr öpertem stoht oder wie familiär mr isch und öb die Person au aawäsend isch oder nid», erklärt jemand. Und eine andere Teilnehmerin schildert: «Mein Onkel Mile (Emil), aufgewachsen im Kanton Freiburg, nennt mich s Mariann, meine Schwester s Jeannette… obwohl wir über 60 Jahre alt sind. Er macht das bei allen weiblichen Personen, die ihm nahe stehen oder die ihm sympathisch sind. Mag er eine Frau nicht, ist sie d Seline!» Emotionale Nähe wird hier als Auslöser für das neutrale Genus bezeichnet. Mitunter erfahren die Femineutra auch kreativen Zuspruch: «Ich weiss, dass das -li von den Grammatikern als Diminutiv und als Versächlichung der Frau verunglimpft wird. Aber es ist auch eine Zärtlichkeitsform, die ich Karezzativ genannt habe», kommentiert etwa eine Baslerin. Sie wollte auch gleich die Interpretation der Umfrage durch die Sprachforscherinnen in die richtigen Bahnen lenken und reagierte vorsorglich auf eine Kritik an den Femineutra: «Ich habe [in der Umfrage] absichtlich meistens die weibliche Form geschrieben, weil ich Sie im Verdacht habe, dass Sie unrichtige Schlüsse ziehen. Ich bin feministisch eingestellt, aber ich liebe auch die Vielfalt der Sprache.»
Männlich, weiblich, sächlich und zärtlich
In den Medien hat das Forschungsprojekt bisher ein breites Echo hervorgerufen. Die Artikel und Leserkommentare sind eine Fundgrube von Interessensbekundungen, Vorstellungen und Wertungen. Frauen und Männer verhandeln Geschlechterrollen und stellen Vermutungen über Sexismus und patriarchale Geringschätzung an. Gleichfalls wird die Vielfalt unserer sprachlichen Ausdrucksformen hervorgehoben und das neutrale Genus als Form sprachlicher Zärtlichkeit gelobt. «Lesen Sie die Geschichte von Pedro Lenz», rät da jemand: «Eine ältere Dame verlangt eine Buchsignierung für das achtzigjährige Lisbeth, mög ääs no lang -gsund blybe. Begründung: Ääs sei zärtlicher! Fazit von Lenz: Es gibt vier grammatikalische Geschlechter: männlich, weiblich, sächlich und zärtlich.»
Dieser Diskurs und der vorläufige Befund zur aktuellen Datengrundlage des Forschungsprojekts werfen ein Schlaglicht auf ein Merkmal unserer Alltagssprache: Sie ist mehr als ein Mittel der Kommunikation, sie liegt uns als Teil unserer Identität ganz speziell am Herzen. Durch die Untersuchung unseres Sprachgebrauchs lernen wir daher immer auch etwas über uns selbst. Darum ist unsere Alltagssprache für die Forschung auch so interessant: In ihr bilden wir kollektiv bestimmte sprachliche Konventionen ab, die ein Einzelner so nicht gewollt hat und nicht verursachen kann. Erst die Gemeinschaft der Sprecherinnen macht eine bestimmte Sprachform allgemein gebräuchlich. Wie aber bilden sich diese gebräuchlichen Formen heraus? Wie kommt es, dass eine Sprachgemeinschaft irgendwann ein bestimmtes Genus dafür verwendet, um eine bestimmte Gruppe von Frauen auszuzeichnen? Diese Verwendungskonvention hat sich über eine lange Zeit hinweg allmählich herausgebildet. Und zwar nicht durch die bewusste Intervention eines Einzelnen, sondern durch eine Vielzahl von Sprecherinnen und Sprechern. Dieser Mechanismus, wie sich unser Sprachgebrauch über die Zeit hinweg verändert, wird in der Sprachwissenschaft darum sehr anschaulich auch als «unsichtbare Hand in der Sprache» bezeichnet.
Es wird Aufgabe der Forscherteams in drei Ländern sein, herauszufinden, was mit dem neutralen Genus sprachlich ausgedrückt wird. Dafür dienen ihnen sowohl unser Sprachgebrauch als auch die Wertvorstellungen, die wir über ihn haben. Gewisse Werte bestimmen tatsächlich, wie wir sprechen und ob wir ds Babette oder d Babette sagen. Andere wiederum sind stereotype Urteile, die wir gegen bestimmte Sprachformen hegen. Solche Zuschreibungen, so der aktuelle Kenntnisstand von Helen Christen und Gerda Baumgartner, betreffen in der Deutschschweiz interessanterweise oftmals das sprachliche Verhalten der anderen: Es scheint nämlich so zu sein, dass die Ablehnung der neutralen Genuszuweisung von Frauennamen dort am grössten ist, wo sie weniger oder kaum mehr vorkommt.
Helen Christen ist ordentliche Professorin für Germanistische Linguistik an der Universität Freiburg. Sie hat sich mit einschlägigen Forschungsprojekten zur Schweizer Sprachlandschaft über die Forschergemeinde hinaus einen Namen gemacht.
Gerda Baumgartner hat an der Universität Zürich Germanistik, Ethnologie und Sozialpsychologie studiert. Sie ist seit August 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt.
Das Anna und ihr Hund ist ein trinationales Forschungsprojekt mit einer Laufzeit von August 2015 bis Juli 2018. Es wird unterstützt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Lead Agency), dem Fonds National de la Recherche Luxembourg und dem Schweizerischen Nationalfonds (SNF). Das Schweizer Team wird von Prof. Helen Christen (Universität Freiburg) geleitet.