Dossier

Wer ist schuld?

Zwei Schritte vor, anderthalb zurück: Alzheimerforschende brauchen einen langen Atem. Neue Erkenntnisse werden durch nach­folgende Resultate entkräftet, aufgestellte Theorien halten dem Praxistest nicht stand. Im Gespräch mit Biophysiker Michael Mayer.

Michael Mayer setzt sich bequem an den grossen Arbeitstisch in seinem vor einem Jahr bezogenen Büro zuoberst im Adolphe Merkle Institut (AMI) und entschuldigt sich – nicht etwa für die noch unausgepackten Schachteln rundherum, sondern für den Lösungsmittelduft, der auch Monate nach dem Büroumbau noch aus dem Boden dringt. Er ist ein lebhafter Gesprächspartner, man merkt, das Thema Alzheimer fasziniert ihn, auf der spezifisch molekularbiologischen wie auf der allgemeineren medizinischen Ebene – und dabei hat er eine entwaffnende Art, auch mal einfach zuzugeben, etwas nicht zu wissen. Aber damit ist der junge Professor für Biophysik ja auch nicht allein – zum Einstieg erzählt er von einer altgedienten Koryphäe auf dem Gebiet der Alzheimer-Forschung, der einem Kollegen unlängst gestanden haben soll, nach über 30 Jahren habe er die Suche nach einem simplen Krankheitsmechanismus im Grunde aufgegeben. Dazu werden wir im Gespräch noch kommen. Zunächst aber versuchen wir eine Auslegeordnung der aktuellen Erkenntnisse dessen, was sich bei Alzheimer im Gehirn abspielt. Beta-Amyloid, Fibrillen, Plaques, lösliche Oligomere, und dann noch das Tau-Protein («gerade sehr en vogue!») – alles reichlich komplex. 

 

Michael Mayer, welches sind Ihrer Ansicht nach die aktuell wichtigen Erkenntnisse in der Alzheimerforschung?

Sehr spannend ist eine neue Brain Imaging-Methode, die am lebenden Patienten durchgeführt werden kann und mit der aufgezeigt werden konnte, dass die Menge der Beta-Amyloid-Ablagerungen und besonders der Tau-Ablagerungen klar mit der Erkrankung korreliert – zudem hat man gesehen, dass nicht alle Hirnregionen gleich betroffen sind. Eine weitere wichtige Arbeit kommt aus Island, wo Gen-Analysen gezeigt haben, dass es eine Mutation im Gen des Beta-Amyloid-Precursor-Proteins gibt, die mit einer höheren Wahrscheinlichkeit einhergeht, an Alzheimer zu erkranken, sowie eine schützende Mutation, die das Risiko senkt.

  

Also haben wir die Schuldigen doch endlich identifiziert?

Die Genstudie aus Island ist für mich sehr überzeugend: Amyloid spielt wirklich eine entscheidende Rolle. Es haben ja gerade in letzter Zeit immer wieder Leute gesagt: Vergiss Amyloid! Aber einen «Schuldigen»? Im grossen Ganzen bleibt Alzheimer nach wie vor ein Rätsel, einen eindeutigen Mechanismus haben wir damit noch lange nicht festgemacht. Konsens ist, dass es da eine Missregulation in der Zelle gibt, so dass Beta-Amyloid sich anhäufen kann – und anfängt, Aggregate zu bilden.

 

Sie arbeiten ja selber daran, dieses Rätsel ein wenig aufzuklären. Was kann ein Biophysiker da beitragen?

Wir haben untersucht, welche Wirkung diese Aggregate im Gehirn haben könnten, und zwar spezifisch an der Membran der Nervenzellen. Und wir haben tatsächlich gesehen, dass manche Oligomere diese Lipidmembran schädigen können, da werden regelrechte Löcher gerissen.

 

Das klingt doch durchaus nach einem Mechanismus – und einem klaren Schuldigen?

Nun ja, es gibt da ein grosses Allerdings: Wir haben das an künstlichen Membranen und an Neuronen ausserhalb des Gehirns untersucht, mit deutlich höheren Konzentrationen als im Gehirn je gegeben sind, um etwa einen Faktor 1000 höher – sonst würde man gar nichts sehen. Wir können also bloss sagen: Beta-Amyloid-Oligomere sind in der Lage, Neuronen in Kultur abzutöten. Was das nun für den Verlauf von Alzheimer im menschlichen Gehirn genau bedeutet, das ist eine ganz andere Frage.

Und da stochern wir immer noch im Dunkeln?

Leider ja. Das ist bei der Alzheimer-Forschung ein allgemeines Problem: Die Krankheit entwickelt sich über Jahrzehnte, wobei in der Zwischenzeit alle möglichen Prozesse involviert sein können. Es ist sehr schwierig, das im Labor nachzuvollziehen. Wir finden immer wieder Effekte, aber immer wieder ist die entscheidende Frage: Sind diese Effekte auch ausschlaggebend für die Entwicklung der Krankheit? Eigentlich müssten wir biochemische Versuche im lebenden menschlichen Gehirn machen, entweder langzeit oder mit entsprechend hohen Konzentrationen – aber das ist natürlich nicht möglich. Als nächstbeste Variante bietet sich dann ein bildgebendes Verfahren an, mit dem man die Biochemie im Kopf von aussen scannen kann.

 

Und eben das wird jetzt allmählich möglich?

Ja. Die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) erlebt in der Demenzdiagnostik gerade einen Durchbruch. Das sogenannte FDG-PET kann den Zuckermetabolismus und somit indirekt neuronale Aktivität aufzeigen, und zwar mit hoher regionaler Auflösung. Je nach neurodegenerativer Erkrankung zeigt der Hirnscan ein charakteristisches Bild reduzierter neuronaler Aktivität, das Rückschlüsse auf die Schädigung der Neuronen zulässt.

 

Kommen wir zurück auf die Amyloid-Plaques. Es gibt ja auch immer wieder Berichte von alten Menschen, bei denen nach dem Tod grosse Mengen von Plaques im Gehirn nachgewiesen worden sind – und die sich aber bester Gesundheit erfreuten, ohne jede Spur von Alzheimer.

Genau wegen solchen Befunden hat man angefangen, an der Rolle von Beta-Amyloid zu zweifeln. Man kann das aber in verschiedenen Varianten erzählen: Womöglich haben die Plaques ja auch eine schützende Funktion, ungefährliche Müllhaufen gewissermassen. Wirklich schädigend scheinen nämlich die kleineren Beta-Amyloid-Oligomere zu sein, die in der Gehirnflüssigkeit herumschwimmen, Zellmembranen schädigen und entzündliche Reaktionen auslösen. Vielleicht sind die Anhäufungen von Beta-Amyloid also gar nicht so unerwünscht wie wir lange gedacht haben, im Gegenteil: Womöglich können Oligomere keinen Schaden mehr anrichten, sobald sie an diese Plaques gebunden werden.

 

Würde das dann auch die sehr unklare Lage erklären, was die Therapieversuche angeht?

Womöglich. Es gab ja verschiedene Versuche, diesen Plaques mit Antikörpern zu Leibe zu rücken. Das hat auch gar nicht mal so schlecht funktioniert, doch ging das leider nicht mit nennenswerten Verbesserungen der kognitiven Fähigkeiten einher.

 

Die auffälligen Plaques waren weg, aber die Patienten immer noch krank?

Genau. Nun kann man natürlich sagen, die Therapie wurde zu spät versucht und der Schaden war da längst angerichtet. Man müsste also vor allem Risikogruppen schon in einem frühen Krankheitsstadium behandeln – darauf fusst die Hoffnung der aktuellen Forschung, was mögliche Therapien angeht. Aber so wie ich das sehe, ist das derzeit noch ein riesiges Vielleicht. Jetzt gibt es allerdings gerade wieder vorsichtige Zuversicht mit dem von der Universität Zürich entwickelten Antikörper Aducanumab, der ebenfalls Beta-Amyloid abbaut.


Also Sie sind schon zuversichtlich, dass wir eines Tages eine Alzheimer-Therapie haben könnten?

Sehr vorsichtig zuversichtlich, würde ich sagen. Wir müssen unbedingt besser verstehen, wie die Krankheit entsteht. Wenn wir da nun tatsächlich einen Knackpunkt finden würden, einen fatalen Moment, ab dem die zerstörerischen Prozesse in Gang kommen, dann könnten wir da gezielt ansetzen. Aber eben: Vielleicht ist es eher so, dass mehrere Dinge parallel passieren, und zwar ganz langsam, dass also erst ganz allmählich eine krankhafte Veränderung vor sich geht. Dann wäre es viel schwieriger, eine therapeutische Substanz zu entwickeln.

 

Wo stehen wir denn aktuell?

Schwer zu sagen. Man kann die Frage ganz krass stellen: Was war der konkrete Fortschritt in den letzten 20 Jahren? Manchmal sieht es ein wenig so aus, als würden wir an Ort treten, was wirksame Massnahmen angeht.

 

Rennen wir einem Phantom nach?

Ist Alzheimer eine Pseudo-Krankheit, wie bisweilen behauptet wird? Das glaube ich nicht. Natürlich, man kann fragen: Was ist denn eigentlich normal im Alter? Ein 90jähriger ist nun mal vergesslich – das wäre also keine Krankheit. Doch Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium ist schon sehr viel extremer und geht ja auch mit einer Atrophie einher: Da stirbt in grossem Ausmass Gewebe ab. Man kann Alzheimer diesbezüglich also nicht zum Beispiel mit der Hysterie vergleichen, die womöglich gar keine physiologischen Ursachen hatte – bei Alzheimer ist eine echte Schädigung des Gehirns da, und die kann man nicht einfach als Phantom abtun.

 

Michael Mayer ist Professor für Biophysik am Adolphe Merkle Institut – seine Berufung vor einem Jahr komplettierte das Professorenteam am stark interdisziplinär ausgerichteten Institut, das sich zwischen Nanomaterialien und Life Science positioniert. Mayer interessiert sich für biophysikalische Prozesse, die einen direkten Zusammenhang mit Krankheiten haben, sei es auf der Ebene der Diagnostik oder auch beim Verständnis von Krankheitsmechanismen. Die Expertise in Sachen Nanopores (Materialien mit kleinsten Löchern) und Zellmembranen wendet die Gruppe auch bei Alzheimer an, indem sie studiert, wie Neuronen von Amyloid-Proteinen geschädigt werden. Diese ziehen speziell die Membranen in Mitleidenschaft – ein Prozess, der noch nicht im Detail geklärt ist. Die jüngsten Erkenntnisse der Gruppe helfen zu verstehen, welcher Art die schädigenden Proteine sind, da diese in ganz verschiedenen Formen und Grössen auftreten, sowohl löslich wie in plaque-artigen Ablagerungen.

michael.mayer@unifr.ch

www.ami.swiss