Dossier

Wieviel Ordnung braucht deine Angst?

Eine menschliche Gesellschaft ohne Angst ist nicht denkbar. Und doch ist sie nicht naturgegeben; wir lernen sie. Der Kultur­soziologe Robert Schäfer über das vielschichtige Verhältnis zwischen sozialer Ordnung und Angst.

«Selbst die schwächsten Völker kennen die Angst, nur wir nicht», klagt Olaf Maulaf, der Häuptling der Normannen im Asterix-Band Nummer 9. Ihn stören nicht nur das eigene Unwissen, sondern auch ein paar handfeste Nachteile der Furchtlosigkeit seines Volks. So ist die Erziehung des normannischen Nachwuchses schwierig, weil die lieben Kleinen über Drohungen und Strafen nur lachen. Im Strassenverkehr fahren alle wie die Henker, weil niemand die Polizei fürchtet. Am meisten bedauert Häuptling Maulaf aber etwas anderes: «Es heisst, Angst verleihe Flügel!». Also ziehen er und seine Mannen aus, um die Angst kennenzulernen. Als sie schliesslich bei einem Liedvortrag von Troubadix, dem Barden des unbeugsamen gallischen Dorfes, mit grünen Gesichtern, zittrigen Knien und klappernden Zähnen dasitzen, muss ihnen Asterix erklären, was ihnen widerfährt: Angst.

 

Der Comic illustriert zwei zentrale Thesen von Robert Schäfer. Erstens: Angst muss man lernen. Zweitens: Angst dient der Herstellung sozialer Ordnung. In einem Punkt hingegen hält Schäfer das Werk von Goscinny und Uderzo für nicht realitätsnah: «Eine Gesellschaft ohne Angst ist nicht vorstellbar». Nicht nur weil den Menschen angeborene Instinktreaktionen wie Erschrecken oder Panik widerfahren. Aus Sicht des Soziologen ist eine andere Form der Angst viel relevanter: Jene, die entsteht, wenn unsere Vorstellungen oder, in soziologischer Terminologie, wenn kulturelle Klassifikationen der Welt unsicher werden. Diese Vorstellungen ordnen die unendlich vielen Sinneseindrücke, die auf die Menschen einstürzen. Das diffuse Chaos aus Licht und Lärm wird gebändigt durch klare Definitionen und Unterscheidungen: Himmel und Erde, Mann und Frau, Tag und Nacht. So wird die Welt für uns fassbar, wir sind fähig, in ihr zu handeln. Gerät diese Ordnung aus den Fugen, macht das Angst.

 

Die Krux mit der Ordnung

Zu den grundlegendsten Ordnungskategorien gehören Zeit und Raum. Sie ermöglichen uns, zwischen ‹Hier› und ‹Dort› zu unterscheiden, sie erlauben uns, zurück zu blicken und uns über die Zukunft Gedanken zu machen. Diese Fähigkeiten haben dem Menschen entscheidende Evolutionsvorteile gebracht. Wir können Gefahren voraussehen, ihnen ausweichen, sie einplanen oder uns dagegen wappnen. Die Kehrseite der Medaille ist die Angst vor kommenden Bedrohungen. Denn nur Menschen können über Zukünftiges (und Vergangenes) überhaupt kommunizieren und sich also auch davor fürchten. Hier zeigt sich ein erstes Mal die Janusköpfigkeit der Ordnung: Sie vermindert Angst, ist aber gleichzeitig die Voraussetzung für Angst.

 

«Das Paradebeispiel einer zukunftsbezogenen Angst ist die vor dem Tod», sagt Schäfer. Um sie zu empfinden, muss man die unmittelbare Gegenwärtigkeit überschreiten und sich Gedanken über die Zukunft machen können. Speziell an der «Mutter aller Ängste» ist allerdings, dass sich gegen den Tod, im Gegensatz zu vielen anderen Gefahren, nichts unternehmen lässt. «Das ist der Punkt, bei dem Religionen einsetzen. Sie kategorisieren das völlig Ungewisse, geben ihm einen Namen und einen Sinn: Himmel, Hölle, Nirwana.»

 

© Jérôme Berbier

Die angstvermindernde Wirkung von Klassifikationen, führt wiederum dazu, dass die Menschen das fürchten, was die symbolischen Ordnungen in Frage stellt. Genau das geschieht aber immer wieder, weil die Welt sich nicht genau an die Kategorien hält, die ihr eine Gesellschaft überstülpt. Begriffe sind immer Abstraktionen, die sich nie restlos mit der Wirklichkeit decken. Die britische Sozial-anthropologin Mary Douglas befasste sich in ihrer klassischen religionsethnologischen Abhandlung «Purity and Danger» von 1966 damit, wie Gesellschaften darauf reagieren. «Sie zeigt, dass alles, was von der ‹richtigen› Ordnung der Dinge abweicht, was sich nicht klassifizieren lässt, als unrein, als ‹Dreck› betrachtet wird», sagt Schäfer. «Dirt is matter out of place», lautet ihre berühmte Formulierung. Solcher «Dreck» macht Angst. Zum Nicht-Klassifizierbaren gehören insbesondere Übergangsphasen und «liminale Wesen». So nennt der schottische Ethnologe Victor Turner Menschen, die am Rand oder ausserhalb der Gesellschaft stehen. «Die Fremden werden typischerweise als solche Grenzgänger wahrgenommen, als Wesen, die man nicht recht einordnen kann.» Ein anderes Beispiel ist die Dunkelheit. «Die Redewendung, ‹in der Nacht sind alle Katzen grau›, bringt das Problem auf den Punkt: Was an der Dunkelheit Angst macht, ist nicht, dass es einfach dunkel ist, sondern, dass man nicht unterscheiden kann.» Arbeitslosigkeit ist ebenfalls ein liminaler Zustand. «Ein ordentliches Subjekt ist man in unserer Gesellschaft genau dann, wenn man Arbeit hat.» Arbeit katapultiert einen in den sozialen Himmel, man wird dafür anerkannt. Umso angsteinflössender ist Arbeitslosigkeit und die damit verbundene biografische Unordnung. Im jährlich publizierten Schweizer Sorgenbarometer rangiert sie immer weit oben. Wenn das Arbeitsvolumen aufgrund von Automatisierung, Roboterisierung und Digitalisierung tatsächlich schrumpfen sollte und es für einen immer grösseren Teil der Gesellschaft keine Arbeit mehr gibt, dürfte sich das noch akzentuieren. «Ich glaube, dass das in Zukunft unser grösstes Problem werden wird», sagt Schäfer.

 

In nicht eindeutig klassifizierbaren Situationen behelfen sich Menschen gerne mit Klischees. Stereotype ermöglichen es, nicht Klassifizierbares doch zu klassifizieren. «Man steckt etwas in eine Schublade und kann damit umgehen.» Das zeigt sich etwa bei der Reaktion auf Gewalt. Gewalt stört die soziale Ordnung. Deshalb ist die erste Reaktion darauf meist, die Tat irgendwie einzuordnen, zum Beispiel als terroristische Attacke. Das ist zwar auch schrecklich, aber immerhin hat man einen Namen dafür: «IS ist besser als gar kein Label». Wenn auch das nicht möglich ist, wie kürzlich beim Anschlag von Las Vegas, bleibt als letzter Ausweg zu sagen: «Der ist geisteskrank.» «Das ist eine Residualkategorie, in die man alles reinschmeissen kann, was sonst nirgends hinpasst», so Schäfer.

 

Ein Quantum Unordnung

Grenzen, Ordnung und Kategorien machen die Welt fassbarer und sinnvoll, sie schränken aber auch ein. Was sich nicht einordnen lässt, was in wenig oder nicht definierten Zwischenräumen und -zeiten passiert, kann auch als Freiheit wahrgenommen werden. «Typischerweise hat man auf Reisen Freiheitsgefühle, weil man sich im ‹Dazwischen› bewegt.» Auch Abenteuer stören die geordneten Abläufe alltäglicher Routinen, können aber durchaus positiv sein. In der Kunst wird mit Ungewissheiten und potentiell krisenhaften Aussergewöhnlichkeiten gespielt. Ein bestimmtes Mass an Unordnung scheint den Menschen zu bekommen.

 

Wie viel man davon erträgt, ist grösstenteils kulturell bestimmt. Es gibt offensichtlich Gesellschaften, die eine höhere Bereitschaft haben mit Unordnung zu leben als andere. In der Schweiz wird man schnell nervös, wenn etwas nicht klar definiert sei. Wir sind sehr ordentlich und reinlich, müssen die ganze Zeit putzen, das heisst «Dreck» beseitigen. Wir trennen sogar den Abfall und wir bleiben bei Rot stehen, auch wenn weit und breit kein Auto zu sehen ist. Die Ordnung wird zum Selbstzweck. Hält man sich nicht daran, wird man zurechtgewiesen, nicht aus praktischen Gründen, sondern einfach, weil es nicht in Ordnung ist. Allgemein scheint im ‹globalen Norden› die Chaostoleranz tiefer zu sein, als im ‹globalen Süden›. Die Normannen haben ihre Lektion also gründlich gelernt. Vielleicht hätte man Häuptling Maulaf sagen sollen, dass die Angst nicht nur Flügel verleiht, sondern auch in Fesseln legt.

 

Unser Experte Robert Schäfer ist Doktorassistent im Studienbereich Soziologie, Sozialpolitik und Sozialarbeit des Departements für Sozialwissenschaften. Der promovierte Kultursoziologe erforscht momentan aktuelle Formen der Gesellschaftskritik.

robert.schaefer@unifr.ch