Dossier
Qualität hat ihren Preis
Egalitärer Anspruch, elitäre Wirklichkeit: Das ist die Kürzestbeschreibung von Frankreichs Bildungssystem. Grund dafür sind traditionelle Strukturen und der Zentralismus der Grande Nation.
Am 15. Juni dieses Jahres war es wieder so weit: In ganz Frankreich und den französischen Überseedepartementen traten Schülerinnen und Schüler zu den ersten Bac-Prüfungen an. Das baccalauréat am Ende der 12. Klasse des lycée (Gymnasium) ist Voraussetzung für die weitere akademische oder berufliche Ausbildung und deshalb auch nur bedingt mit der schweizerischen Matura gleichzusetzen. Die Mehrheit aller Französinnen und Franzosen macht das Bac, nur wenige verlassen das collège – der Sekundarschule vergleichbar – am Ende der obligatorischen Schulzeit mit einem so genannten Brevet. Alljährlich im Sommer legen also über eine halbe Million französische Staatsangehörige auf der ganzen Welt exakt zeitgleich die gleichen Prüfungen ab; in Französisch-Guayana ist es dann noch frühester Morgen, in Französisch-Polynesien bereits tiefste Nacht.
Die richtige Schule
Das Bac soll als Symbol für zwei Prinzipien im französischen Bildungssystem stehen. Einerseits für den Zentralismus: Was in Paris ausgearbeitet und verabschiedet wird, gilt für das Mutterland und die ganze Welt. Andererseits für die vielgepriesene égalité, die Gleichbehandlung für alle, unabhängig von sozialem Status, der Rasse oder Herkunft. Soweit die Theorie. Die Praxis sieht jedoch anders aus. «Entscheidend ist die Wahl der richtigen Schule», betont Tanja Itgenshorst. Die Althistorikerin, die letztes Jahr an die Universität Freiburg berufen wurde, spricht aus eigener Erfahrung. Sie hat mehrere Jahre in Frankreich gelebt und gearbeitet, zuletzt seit 2012 als Professorin an der Universität Reims. Ihr Sohn hat in Frankreich das Bac abgelegt – an einer katholischen Privatschule. Gute Schulen stehen für ein gewisses Unterrichtsniveau und sind in der Regel eher in grösseren Städten zu finden als auf dem Land, ob privat oder öffentlich ist dabei zweitrangig. Eines der renommiertesten Gymnasien im ganzen Land ist beispielsweise das traditionsreiche Lycée Louis Le Grand im Pariser Quartier Latin, das auf ein Jesuitenkolleg aus der Mitte des 16. Jahrhunderts zurückgeht. Die Schule ist öffentlich und kostenlos, hat jedoch ein sehr strenges Auswahlverfahren. Zu den bekanntesten Absolventen gehören Schriftsteller wie Voltaire oder Sartre, aber auch Politiker wie Valéry Giscard d’Estaing oder Alain Juppé.
Der richtige Weg
Ebenso wichtig wie die Wahl der Schule ist – gerade im Hinblick auf ein Studium – die Wahl des richtigen Bac-Typus. Die filière scientifique (S) hat einen naturwissenschaftlichen Schwerpunkt, die filière littéraire (L) einen geisteswissenschaftlichen und die filière économique et social (ES) einen ökonomisch-rechtlichen. Ausserdem gibt es seit Mitte der 1980er Jahre noch eine Unmenge an berufsspezifischen Richtungen. Die Hierarchie dabei ist klar: «Am liebsten würden alle den naturwissenschaftlichen Zweig abschliessen», sagt Itgenshorst «auch wenn sie vielleicht Geschichte studieren wollen.» Am wenigsten Ansehen geniesst die geisteswissenschaftliche Ausrichtung – und das ausgerechnet in einem Land, in dem die Stimme von Intellektuellen in der öffentlichen Debatte durchaus Gewicht hat. Sowohl im Radio wie auch in den Printmedien kommen Philosophen und Literaten zu Wort und werden als Experten wahr- und ernstgenommen. Aber die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass auch sie einst ein Bac S abgelegt haben. Auch Tanja Itgenshorsts Sohn hat den klassischen Weg gewählt – und wird mit dem naturwissenschaftlichen Bac in der Tasche in Schottland Musik studieren.
Die richtige Planung
Wer das Bac in der Tasche hat, ist theoretisch zugelassen zum Studium an einer Hochschule oder an einer sogenannten Grande École, den Eliteinstituten wie etwa die École Normale Supérieure, die École Polytechnique oder Centrale oder auch die Essec, eine renommierte Wirtschaftshochschule. Weil diese allgemeine Zulassung gilt, gibt es in Frankreich keinen Numerus Clausus. Was allerdings nicht bedeutet, dass diese führenden Institute tatsächlich allen offen stehen. Die renommierten Ausbildungsstätten veranstalten concours, also Wettbewerbe. Um reüssieren zu können, besuchen Kandidierende nach ihrem Bac zwei Jahre lang spezifische Vorbereitungsklassen. Und hier gilt wiederum: Nur wer ein Empfehlungsschreiben der vorbereitenden Schulen hat, wird aufgenommen. «Die Eltern müssen sich also schon früh überlegen, welchen Weg ihr Nachwuchs einschlagen soll», sagt Itgenshorst. «In Frankreich werden Karrieren schon sehr früh geplant, der Leistungsdruck und die Versagensangst sind riesig.»
Wie gross die Konkurrenz tatsächlich ist, illustriert ein Beispiel: Im Jahr 2016 wurden in ganz Frankreich in der Sekundarstufe 2 insgesamt 96 neue Lehrkräfte im Fach Geschichte angestellt, die Lehramtsprüfung abgelegt haben über 1600. Dieser Prozess heisst agrégation und bedeutet im Klartext: Die Prüflinge werden so lange gesiebt, bis die gewünschte Zahl erreicht ist. Dafür winkt den erfolgreichen Kandidierenden danach eine garantierte Stelle. Im französischen Denken soll dieser Wettbewerb die Chancengleichheit garantieren. «Das funktioniert aber nicht, weil die Vorbereitung auf diese Prüfungen nicht überall gleich ist», sagt Itgenshorst. Mehr als ein Drittel der erfolgreichen Absolvierenden kommen von den renommierten Pariser Hochschulen und Universitäten.
Der Zentralismus und der Wettbewerb ziehen sich durch alle Bereiche einer akademischen Laufbahn. Wer frisch promoviert ist, wird durch den zentralen Conseil National des Universités (CNU) in Paris begutachtet. Der CNU, der sich aus Vertreterinnen und Vertretern der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen aus dem ganzen Land zusammensetzt, entscheidet, ob die Kandidierenden die qualification erhalten, um sich auf Stellen im Mittelbau zu bewerben. Ebenso entscheidet der CNU ob frisch habilitierte Kandidierende qualifiziert für eine Professur sind. Ist an einer Universität eine Stelle zu besetzen, gibt es ebenfalls eine zentrale Ausschreibung und Begutachtung. Und wie beim Bac gilt auch hier ein strikter Zeitplan: Ende Februar werden alle Stellen auf einem Internetportal des Ministeriums publiziert, bis Ende März müssen die Bewerbungen eingereicht sein, im April und Mai finden Bewerbungsgespräche statt, in der ersten Junihälfte werden auf dem Portal alle Berufungslisten veröffentlich, bis zum 16. Juni um 16 Uhr Pariser Ortszeit müssen sich die Kandidierenden entscheiden, am 1. September treten alle ihre Stelle an. Last but not least gilt der Zentralismus auch fürs Gehalt: Es gibt in ganz Frankreich ein einheitliches Gehaltssystem, wer die Universität wechselt, nimmt seine Gehaltsstufe mit. All diese Rahmenbedingungen gelten übrigens nicht nur für französische Staatsangehörige. «Wer in Frankreich auf eine Professur berufen wird, erhält sofort den Beamtenstatus», sagt Itgenshorst. Das ist durchaus attraktiv, auch wenn die Besoldung im Vergleich zu Deutschland und natürlich zu der Schweiz eher bescheiden ist. Auch die Tatsache, dass die Ausbildung in Frankreich auf allen Ebenen sehr verschult ist, kann gerade für Universitätsangestellte reizvoll sein: «Weil in der Lehre vieles vorgegeben ist, gibt es mehr Raum für die Forschung», sagt Itgenshorst. «Das macht Frankreich für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler interessant.»
Die richtige Haltung
Trotzdem stellt sich die Frage, ob dieses System nicht komplett überholt ist. Tatsächlich steht die Bildung auch in Frankreich auf der politischen Agenda. Ein Kritikpunkt betrifft insbesondere die Benachteiligung von Migrantenkindern: Wer in den banlieues aufwächst, hat kaum eine Chance sozial aufzusteigen. «Es kann zwar sein, dass jemand im Vergleich zu seinen Klassenkameraden gute Schulnoten hat, aber wenn das Niveau insgesamt schlecht ist, nützt ihm das nichts», so Itgenshorst. Es erstaunt nicht, dass bei diesen Rahmenbedingungen die individuelle Förderung auf der Strecke bleibt und viele Kinder nur sehr schlecht lesen und schreiben lernen. Unter anderem hier will der Bildungsminister ansetzen und die Klassengrösse in den sogenannten prioritären Zonen von den üblichen über 30 auf maximal 12 Kinder reduzieren.
Reformen umzusetzen ist allerdings nicht ganz einfach. Unter anderem deshalb, weil die französische Bildungslandschaft der Tradition verpflichtet ist. Das baccalauréat gibt es seit über 200 Jahren, das System der agrégation gar schon seit 1766, die zentrale Berufungskommission CNU seit Ende des zweiten Weltkriegs. Die Liste liesse sich beliebig fortsetzen. Diese Tradition schafft Identität. Wer eine bestimmte (Hoch-)Schule absolviert hat, einen concours auf einem guten Rang abgeschlossen hat, sieht sich in einer Reihe mit seinen berühmten Vorgängern. Wer das System kritisiert, stellt quasi Frankreichs (Geistes-) Grösse und die ganze Geschichte in Frage.
Von aussen betrachtet, mag dieses System viele Mängel haben, wie auch Tanja Itgenshorst sagt: «Natürlich ist es problematisch, wenn Eliten sich selber reproduzieren», sagt sie. «Aber es ist auch eine Tatsache, dass das französische System tatsächlich eine hohe Qualität hervorbringt.» Man könnte sagen: Wer es schafft, gehört mit Recht zur (intellektuellen) Elite. Gleichzeitig gibt es in Frankreich viele Talente, die durch dieses System auf der Strecke bleiben. Es ist der Preis, den das Land dafür bezahlt, die Traditionen aufrecht zu erhalten. Eine Institution gibt es allerdings, an der Tradition und égalité zum gelebten Ideal zusammenfliessen: Das Collège de France in Paris, das 1530 gegründet wurde. Hochqualifizierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller Disziplinen halten dort Vorlesungen, kostenlos zugänglich für alle. Eine Volkshochschule auf höchstem Niveau sozusagen. Nur einen Abschluss erwerben kann dort niemand.
Unsere Expertin Tanja Itgenshorst ist seit 2016 Professorin für Geschichte des Altertums an der Universität Freiburg. Sie absolvierte ihre Schulzeit in Stuttgart, hat nach dem Abitur eine Schauspielausbildung gemacht und war zwei Jahre lang am Stadttheater Pforzheim engagiert. Nach einem Studium der Geschichte und klassischen Philologie in Köln promovierte sie 2004 mit einer Arbeit über den Triumph in der Römischen Republik. 2011 wurde sie an der Universität Bielefeld habilitiert und war dann Vertretungsprofessorin an der Humboldt-Universität Berlin. Von 2012 bis zu ihrer Berufung nach Freiburg war Tanja Itgenshorst Professorin für Römische Geschichte an der Université de Reims Champagne-Ardenne in Frankreich.