Dossier
Geschichte und Gegenwartsrelevanz der Marx’schen «Entfremdung»
Der Begriff der Entfremdung ist nach einigen Jahren der intellektuellen Verbannung wieder in die gesellschaftskritischen Debatten zurückgekehrt. Auf den Spuren eines schillernden Begriffs, in welchem sich das Ungenügen an kapitalistischen Lebensformen immer wieder gebündelt hat.
«Vielleicht sollten wir noch einmal über die Bedeutung des Begriffs ‹Entfremdung› nachdenken.» Diesen Schluss zog Hartmut Rosa vor einigen Jahren aus seiner Beschäftigung mit dem Phänomen der sozialen Beschleunigung, zu welchem der Jenaer Soziologe ein gewichtiges Buch vorgelegt hat. «Die Zeit, die ich mir nehme, mich mit den Dingen vertraut zu machen», so Rosa, «wird immer kürzer, und das Gefühl, das ich dabei habe, immer schaler.» Das ist mehr als die subjektive Introspektion eines Intellektuellen. Die alltägliche Erfahrung, dass wir für viele Dinge im Leben keine oder nur mehr oberflächlich Zeit haben, obwohl wir gleichzeitig immer mehr Zeit zu gewinnen scheinen, gehört vielmehr zu den grundlegend ambivalenten Zeiterfahrungen des modernen Lebens. Das paradoxe Phänomen des «rasenden Stillstands» (Paul Virilio) dringt in die Beziehungen ein, die wir mit anderen Menschen pflegen, es prägt unser Verhältnis zur Arbeit, zu den Orten, an denen wir leben, und zu den Waren, die wir kaufen. Je gleichgültiger, oder eben: «entfremdeter» wir gegenüber den Menschen, Orten, Institutionen und Dingen werden, desto kompatibler sind wir für die mantrahaft wiederholten Flexibilitätszumutungen im Zeitalter des neoliberalen Kapitalismus.
Kapitalismus und Entfremdung
Damit ist bereits ein Zusammenhang angesprochen, der auch der Marx’schen Verwendungsweise des Entfremdungsbegriffs zugrunde liegt: der Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Entfremdung. Dabei ist das Konzept der Entfremdung keine Marx’sche Erfindung. Marx hat den Begriff vielmehr in einer für ihn charakteristischen Weise aus seinen Vorprägungen in der klassischen deutschen Philosophie bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel und in der Religionskritik bei Ludwig Feuerbach übernommen, kreativ umgedeutet und auf neue gesellschaftliche Probleme des aufkommenden Industriekapitalismus bezogen. Hatten Hegel und Feuerbach mit Entfremdung noch primär ein individuelles Bewusstseinsphänomen gemeint, so schrieb Marx dem Begriff gewissermassen eine materialistische und sozioökonomische Wendung ein. Entfremdung war in seiner Perspektive nicht einfach ein ideelles Phänomen, sondern wurde durch die gesellschaftlichen Verhältnisse ständig neu hervorgebracht und musste in der alltäglichen Sphäre der Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen untersucht werden.
Es war der konkrete Ort des kapitalistisch funktionierenden Betriebs, in welchem arbeitsteilige Systeme entworfen und umgesetzt, in welchem soziale Hierarchien, Disziplinierung und Fremdbestimmung zementiert wurden und in welchem die Arbeitnehmenden das verkauften, was ihnen noch blieb: ihre Arbeitskraft. All diese innerbetrieblichen Phänomene verwiesen auf die allgemeinen Tiefenstrukturen des Kapitalismus und waren in Marx’ Perspektive gleichsam Transmissionsriemen der Entfremdung. Sie produzierten das Gefühl der Ohnmacht, der sozialen Isolierung und Entzweiung. Die Welt, welche die Arbeiter mit ihren alltäglichen Tätigkeiten hervorbrachten und reproduzierten, stehe ihnen als fremd gewordene Welt gegenüber. In dieser Welt erfuhren sie sich nicht als aktives Subjekt, sondern als passives Objekt, das Mächten ausgesetzt sei, welche kaum beeinflussbar schienen. Später hat Marx dies mit der Metapher anschaulich gemacht, dass der Arbeiter im Industriekapitalismus zum reinen Anhängsel der Maschine geworden sei.
Doch so konkret diese in den Frühschriften von Marx formulierte Blickverschiebung auf die gesellschaftliche und wirtschaftliche Praxis eingefordert wird, so abstrakt und schillernd bleibt die künftige Verwendungsweise des Begriffs – sowohl bei Marx selbst als auch bei seinen nachfolgenden Exegeten. In vielerlei Hinsicht wurde das Entfremdungsmotiv dabei zu einem catch-all-Begriff für die Funktionsweise des Kapitalismus schlechthin: Unter kapitalistischen Bedingungen werden die Menschen entfremdet gegenüber ihren Mitmenschen, gegenüber der Natur, gegenüber ihrer Arbeit und den Produkten ihrer Arbeit. Gerade der Arbeitslohn, der in der Denkwelt des Kapitalismus Freiheit verspricht (und diese mit Kaufkraft verwechselt), ist bei Marx Ausdruck eines zutiefst entfremdeten Verhältnisses zur Arbeit, das notdürftig mit der kulturellen Aufwertung des Geldverdienens übertüncht wird: «Das Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, und dies fremde Wesen beherrscht ihn, und er betet es an.» Nicht mehr nach dem Sinn und der Bedeutung der eigenen Arbeit für die Gesellschaft und für das Individuum selbst wird gefragt, sondern nur noch nach dem monetären Tauschwert, der in der Kultur des Kapitalismus geradezu Fetischcharakter erhält. Entfremdung, und alles, was in diesem Begriff bei Marx mitschwingt – Gleichgültigkeit, Ohnmacht, Erfahrungsarmut, Entzweiung, Fragmentierung, Isolation und Sinnlosigkeit –, scheinen unentrinnbar mit der Welt kapitalistischer Warenproduktion verbandelt. Entfremdung wird gleichsam zur negativen Erfahrungs- und Befindlichkeitsspur kapitalistischer Existenz.
Nun war es gerade diese in mancherlei Hinsicht abstrakte und unbestimmte Verwendung, welche die strittige Rezeption des Entfremdungsbegriffs angefeuert hat. Seit der Entdeckung der Marx’schen Frühschriften in den 1930er Jahren haben sich Legionen von Marxinterpreten mit dem Entfremdungsmotiv auseinandergesetzt. Von Herbert Marcuse und Theodor W. Adorno über Albert Camus und Louis Althusser bis zu Frantz Fanon und zuletzt Rahel Jaeggi gewichteten die einen das Freilegen von gesellschaftskritischen Chancen, die in diesem Begriff schlummern, während die anderen dessen beschränkte und undeutliche Aussagekraft bemängelten. Überformt und zugleich eingeengt wurden diese Kontroversen oft auch von der Frage, wie sich die Entfremdungsdiskussion in den Frühschriften der «Pariser Manuskripte» zum Spätwerk von Marx, insbesondere zum «Kapital», verhielten und ob es sich dabei um ein konsistentes oder um ein gewandeltes Motiv handelte. In der Zeit des Kalten Krieges und des «real existierenden Sozialismus» wurde zudem mit der Entfremdungsthese immer auch die Bedeutung des Marx’schen Humanismus mitverhandelt, der zuweilen von westlichen und antistalinistischen Marxisten gegen die Orthodoxie des «wissenschaftlichen Materialismus» sowjetischer Prägung in Anschlag gebracht wurde. Das hat bei allen Streitereien ironischerweise gerade einer werkimmanenten Lektüre des Entfremdungsmotivs Auftrieb verliehen, während die von Marx einst gestellte Frage in den Hintergrund rückte, nämlich wie spezifische und damit auch historisch wandelbare gesellschaftliche Verhältnisse und Produktionsweisen bestimmte Formen der Entfremdung hervorbrachten und hervorbringen.
Marx’ Blick galt den spezifischen Verhältnissen der aufziehenden industriekapitalistischen Gesellschaft im mittleren Drittel des 19. Jahrhunderts. Von den konkreten Erscheinungen und Wandlungen des Kapitalismus (und des Kommunismus) im 20. und 21. Jahrhundert konnte Marx nichts wissen, obwohl er die strukturellen Merkmale und Funktionsmechanismen der kapitalistischen Produktionsweise mit seiner «Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft» wie kein zweiter seziert hat. Gewiss, vor dem Hintergrund der zeitlichen Gebundenheit von Marx’ Entfremdungsbegriff und seinen «unscharfen Rändern» (Rahel Jaeggi) büsst dieser einiges an analytischer Schärfe ein, wenn er unkritisch auf nachfolgende Epochen angewendet wird. Es ist aber wichtig daran zu erinnern, dass Marx den Entfremdungsbegriff weniger als Erklärungskategorie verstand, sondern vielmehr als diffuses und widersprüchliches Verhältnis der Menschen zu ihrer Welt unter den Bedingungen des Kapitalismus – ein Verhältnis, das es gerade zu erklären galt. Mit anderen Worten: Entfremdung ist nicht das explanans, sondern das explanandum.
Zeitgemäss Unzeitgemässes
Dies löst den Begriff wiederum aus seiner zeitlichen Gebundenheit und verschafft ihm einen Platz im «Alphabet des Fragestellens nach Marx», wie es der Historiker Alf Lüdtke einst nannte. Entfremdung wäre dann nicht die zeitlos gültige Antwort auf die Zumutungen des Kapitalismus als Lebensform, sondern vielmehr eine Ausgangsbeobachtung, um den historischen Wandel kapitalistischer Gesellschaften erfahrungs- und emotionsgeschichtlich zu thematisieren. Wer nach den spezifischen Ausdrucksformen von Entfremdung in einem globalisierten, digitalisierten und finanzialisierten Kapitalismus der Gegenwart fragt, wird notgedrungen zu anderen Antworten kommen als Marx. An der Relevanz der Frage hat sich derweil wenig geändert. In Zeiten, in welchen in populärkulturellen Medien Reichtum glorifiziert und gleichzeitig soziale Kälte und Verachtung gegenüber Randständigen geradezu antrainiert wird, in welchen Konflikte der sozialen Ungleichheit systematisch in Konflikte zwischen Innen und Aussen umgepolt werden, in welchen die weitmaschigen globalen Waren- und Verarbeitungsketten dazu führen, dass sich die Käuferinnen und Käufer des sehnsüchtig erwarteten neuesten Smartphones losgelöst von den Arbeitszuständen in kongolesischen Kobaltminen wähnen – in solchen Zeiten lohnt es sich vielleicht in der Tat, noch einmal über Entfremdung nachzudenken.
Unser Experte Juri Auderset ist Lektor am Studienbereich Zeitgeschichte der Universität Freiburg. Zu seinen Arbeits- und Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte der Arbeit im 19. und 20. Jahrhundert, Begriffsgeschichte, atlantische Geschichte im Zeitalter der Revolutionen und die Geschichte der Landwirtschaft im Industriekapitalismus.