Dossier

Hammer, Sichel und Herzblut

Silvesterabend in Thiruvalla, einer Kleinstadt in Südindiens grünem Bundesstaat Kerala. Der Verkehr ist zum Stillstand gekommen, überall flattern rote Fahnen mit Hammer und Sichel. Busse und Minivans mit Genossen sind unterwegs zur jährlichen Bezirksversammlung der Communist Party of India (Marxist).

Genossen verteilen Wasserflaschen und Merkblätter, helfen der Polizei den Verkehr zu regeln, grüssen sich gegenseitig mit revolutionären Parolen. Grosse Plakate stellen bildhaft die kommunistische Bewegung in Kerala und den Kampf gegen die feudale Herrschaft und die Landbesitzer dar. Andere zeigen Marx, Engels und Lenin, posierend neben Ché Guevara, Hugo Chavez, Fidel Castro und namhaften Anführern der kommunistischen Bewegung in Kerala wie etwa E M S Nampoodiripad, AK Gopalan, K Damodaran and E K Nayanar. Es herrscht eine feierliche Stimmung.

Unser Auto steckt im Verkehr fest und wir warten. Unsere Versuche, in eine Seitenstrasse einzubiegen bleiben vergeblich. Plötzlich tauchen zwei Genossen auf, die Anweisungen erteilen und unserem Auto den Abzweiger erlauben. Wir kommen nach langer Fahrt endlich bei der Familie an, mit welcher wir den Silvesterabend verbringen werden. Nun warten wir wieder, diesmal auf eine kapitalistische Mahlzeit in Form einer Pizza.

 

Kommunistisches Ausnahmemodell

Kerala ist ein zwischen der Bergkette «Western Ghats» und dem Arabischen Meer eingebetteter dünner Streifen Land mit einzigartiger Geographie, Biodiversität, ethnischer und religiöser Vielfalt und Politik. Im Jahre 1957 wurde in dieser Region, die als ökonomisch rückständig galt, von rigiden sozialen Hierarchien geprägt war und unter massiver Kastendiskriminierung litt, eine der weltweit ersten kommunistischen Regierungen demokratisch gewählt. Die Regierungsbildung war innerhalb der Kommunistischen Partei umstritten. Was wird aus der Revolution, wenn die Partei sich in die geltende politische Ordnung, die Demokratie, einfügt? Die Regierung aber war klar in ihrer Position, innerhalb der geltenden Verfassungsordnung tätig sein zu wollen.

Heute wird das «Kerala-Modell» mit niedriger ökonomischer Leistung, aber mit hohem Index für menschliche Entwicklung als eine Erfolgsgeschichte der kommunistischen Regierungen gefeiert. Investitionen in Bildung und Gesundheitswesen waren die wesentlichen Triebfedern dieser Entwicklung. Hingegen waren es die Landrechtsreformen, die zu erheblichen Veränderungen in den sozialen Hierarchien führten und die für spätere Regierungen, auch für Nicht-Linke, Standards setzten.

 

Starke Statements

Kommunismus hat die Gesellschaft in unterschiedlicher Weise geprägt. Westliche Leser sind vielleicht mit Arundhati Roys Buch «Der Gott der kleinen Dinge» vertraut, in dem der lokale Kommunist Genosse Pillai vorkommt, der seinen Sohn Lenin nennt. Tatsächlich gibt es einige Menschen in Kerala, die Lenin oder Stalin heissen. Karl oder Marx kommen weit seltener vor. Dem Kommunismus Zugewandte wählen Namen für ihre Kinder nicht nur, um ihre Helden zu ehren, sondern auch um Werte wie Gleichheit sichtbar zu machen und Kasten und Religionsdifferenzen wegzuwischen. Eine Familie von eisernen Verfechtern des Kommunismus hat ihre drei Söhne nach unterschiedlichen Religionen benannt: Salim (Moslem), Menon (Hindu) und Sunny (Christ). In einer anderen Familie tragen die Söhne die Namen Casteless I & II (kastenlos) und die Tochter heisst Vanitha (Frau). In einer Gesellschaft, in der Millionen von Rupien für Hochzeiten ausgegeben werden, fanden sogenannte «Zitronen-Hochzeiten» statt, wo Menschen mit kommunistischen Idealen ihre Hochzeiten in säkularen Orten wie Schulen anstatt in Kirchen oder Tempeln feierten und die Gäste an Stelle eines üppigen Festmahls ein Glas Zitronensaft erhielten.

Die Gesellschaft in Kerala ist ein einzigartiges sozio-politisches Milieu, geprägt von einer Kultur der Debatten, Argumente und Gegenargumente, die in Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehsendungen und in sozialen Medien gelebt wird. Diese diskussionsfreudige Kultur liess Tee-Shops entstehen, die ihren Kunden einerseits Zeitungen zur Verfügung stellten, andererseits aber auch handgeschriebene Schilder mit der Aufschrift «politische Diskussionen verboten» aufhängten. Denn es sind die Wirte, die sich nach Diskussionen, die aus dem Ruder laufen, um die kaputten Gläser und Möbel kümmern müssen. In einer kommunistischen Hochburg wie Kannur, sind Diskussionen über Marx und Engels in Tee-Shops eine ganz normale Angelegenheit und über den historischen Materialismus keine Seltenheit. Wie ein junger Kommunist mir erklärte, ist Marx nicht nur ein deutscher Philosoph und Lenin nicht nur ein russischer Revolutionär: Beide sind in Kerala lebendig und Teil der Geschichte.

Dichter, Schriftsteller und Künstler werden als öffentliche Intellektuelle zelebriert und sind Teil der sogenannten social left (sozialen Linken). Literatur, Filme und Theater spielten eine Vorreiterrolle bei der Verbreitung reformistischer Ideen und anderen Kampagnen wie z.B. gegen die Umweltzerstörung. Das «Kommunistische Manifest» wurde erst in den 1960er Jahren in die lokale Sprache Malayalam übersetzt und veröffentlicht und es ist wohl das Theater, das den Kommunisten den Weg zur Macht geebnet hat. Thoppil Bhasis Stück «Ningallenne Kommunistaakki» (Ihr habt mich zum Kommunisten gemacht), welches die Geschichte eines Landarbeiters erzählt, der gegen die bösen Feudalherrschaften kämpft, wurde in Kerala über Jahre hinweg vor gefüllten Rängen aufgeführt. Das Theaterstück wurde eine Zeit lang verboten, was sicher auch zu seiner Popularität beigetragen hat. Es wurde später verfilmt und reiht sich zu den vielen Filmen, welche die kommunistische Bewegung und ihre Ideale zum Thema haben.

 

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Alltagstauglicher Kommunismus

Die Kommunistischen Parteien in Indien sind Teil der demokratischen parlamentarischen Staatsstruktur (der revolutionäre Typ existiert auch noch). Es sind «normale» politische Parteien, welche mit Fragen der Religion und des Kastensystems umgehen ohne diese zu negieren oder zu untersagen. Ein reiner Marxist könnte diesem Verhalten skeptisch gegenüberstehen. Die Revolution in Kerala aber fand mit den Landrechtsreformen in gewisser Weise bereits statt, wurde in anderen Teilen Indiens aber nicht übernommen. Hingegen haben die Kommunisten weder privates Eigentum abgeschafft, noch die private Industrie nationalisiert. In sozialen Bereichen wie etwa im Gesundheitswesen, in der Bildung und im Wohnungswesen müssen die Kommunisten wettbewerbsfähig bleiben, um sich gegenüber anderen politischen Parteien behaupten zu können. Mit neuer Sozialgesetzgebung, z.B. einer Krankenversicherung für Wanderarbeiter aus anderen Teilen Indiens, werben Sie um neue Wählergruppen.

Stark verflochten mit den linken Idealen sind die Genossenschaften in Kerala, die überall tätig sind, z.B. im Bankenbereich oder in den von Frauen geführten Genossenschaftsbewegungen «Kudumbasree», die kleine Unternehmen betreiben, die von Esswarenherstellung zu paramedizinischen Dienstleistungen, von Ayurveda-Produkten bis hin zu pinken Frauentaxis alles anbieten. Diese Genossenschaften spielen eine starke Rolle als Basisorganisationen. Auch wenn sie nicht direkt mit den linken Parteien alliiert sind, stärken sie diese.

 

Viel Lärm um wenig

Die Politik in Kerala ist auch eine Politik der Sichtbarkeit, es ist ein gewöhnlicher Anblick viele Menschen zu sehen, die ihre Abende mit Fahnen aufhängen und Plakate aufkleben verbringen, um generell die Sichtbarkeit ihrer politischen Überzeugungen zu erhöhen. Der Wahlerfolg der linken Parteien ist genauso ein Erfolg ihrer Staatsführung, wie von ihren Basismitgliedern und deren Mobilisierungsfähigkeiten.

Die politische Werkzeuge Mahatma Gandhis, wie hartal (Streik) oder gherao (erpressende Belagerung einer Person), werden von den Kommunisten rege benutzt, um politische Aufmerksamkeit zu erlangen. Leider sind die Resultate dieser Aktionen meistens lediglich verlorene Arbeitstage. Eng verwandt ist die Studentenpolitik, denn Universitäten in Kerala sind Geburtsstätten für zukünftige Politiker (viele der heutigen Parlamentarier waren früher Mitglieder der Studentenparteien). Jede politische Partei hat ihre Studentenfraktion und die Studentenpolitiker versuchen durch ihre Aktionen die Aufmerksamkeit hochrangiger Politiker zu erlangen. Für das akademische Jahr ist dieses Vorgehen sehr ungünstig: Ausgefallene Vorlesungen und verschobene Prüfungen gehören fast zur Tagesordnung. An einem Tag, an dem ich hätte unterrichten sollen, komme ich zum Campus einer juristischen Fakultät in Kerala, wo ein grosser Polizeibattalion einer Gruppe von Studierenden gegenübersteht, die lautstark ihre Parolen kundgeben. Auslöser der Aktion war ein wichtiges politisches Ereignis: die Entfernung eines Flaggenmasts durch eine rivalisierende Partei!

 

Kommunismus heute

Ist der Kommunismus in Kerala lediglich eine Form der Sozialdemokratie? Dagegen spricht Tom Nossiter, ein britischer Wissenschaftler, der den Kommunismus in Kerala nicht als Abweichung von der kommunistischen Theorie und Praxis betrachtet, sondern als eine einzigartige Form der populären Mobilisation auf der lokalen, sub-nationalen und nationalen Ebene. Diese Mobilisation stand Lenin und den Bolschewiki nicht zur Verfügung und wurde auch von Marx nur kurz angedeutet. Manche Kommunisten in Kerala, so sagt ein junger Kommunist, können durchaus mit den frühen Christen verglichen werden. Nur dass sie anstatt an die Wiederkehr Christi an die Wiederkehr der Revolution glauben. Die von der indischen Regierung in den 1990er Jahren adoptierten neo-liberalen Reformen haben die Popularität der Kommunisten nicht gebrochen. Die grosse Herausforderung der Kommunisten heute sind die zunehmenden Tendenzen des religiösen Extremismus und der steigenden Macht der Rechtsparteien. Unser Nachtessen wurde trotz der Verkehrssituation rechtzeitig geliefert. Die Gastgeberin schmunzelt und zeigt auf die rote Fahne mit Hammer und Sichel auf dem Motorrad des Pizzalieferanten. Eine kommunistische Lösung für ein kapitalistisches Problem.

 

Unsere Expertin Rekha Oleschak-Pillai ist Senior Research Fellow am Institut für Föderalismus. Die promovierte Juristin forscht und lehrt zu Verfassungsrecht, Föderalismus und Völkerrecht. Sie verbrachte 2017 drei Monate als Gastforscherin in Indien an der Central University of Kerala. 

rekha.oleschak@unifr.ch