Dossier

«Die Wissenschaft hat ihre Arbeit gemacht»

Die Gletscher schmelzen. Was sagt dies für das Leben auf unserem Planeten aus und wie reagieren Wissenschaft und Politik darauf? Die Antworten der Glaziologen Martin Hoelzle und Andreas Linsbauer.

Gletscher sind zum Symbol für den Klimawandel geworden. Das zeigt etwa die kürzlich lancierte Initiative zum Klimaschutz, die Gletscherinitiative. Warum gerade die Gletscher?

Martin Hoelzle: Es ist eine Frage der Kommunikation. Gletscher zeigen auf einen Blick, dass in der Natur etwas passiert. Wenn man das Bild von einem Gletscher von 1850 und eines von heute nebeneinanderlegt, so erkennt man die Veränderung sofort. Da muss man wenig von Klimawandel verstehen.

Aber ein schmelzender Gletscher tut nicht weh, zehn Hitzetage nacheinander hingegen schon; ein Murgang rüttelt auf, weil er zerstört.

Andreas Linsbauer: Es tut vielleicht nicht weh, wenn ein Gletscher schmilzt. Aber es gibt ein Gefühl von Verlust. Gletscher sind Teil der Schweizer Identität. Sie gehören zur Schweiz. Der Tourismus hat sich auch dank den Gletschern seit den Anfängen sehr gut verkauft.

Martin Hoelzle: Ich unterstütze die Gletscher-Initiative sehr. Aber der Name ist tatsächlich unglücklich. Er lässt hoffen, dass wir Gletscher retten könnten.

Und das können wir nicht?

Martin Hoelzle: Die Gebirgsgletscher sind nicht mehr zu retten. Dazu ist es zu spät. Die Temperaturerwärmung ist bereits zu hoch. Das zeigen die Resultate des World Glacier Monitoring Service, kurz WGMS. Im WGMS sind Forschungsinstitutionen aus 41 Nationen vertreten. Für die Schweiz sind dies die ETH Zürich, die Universität Zürich und mit dem Institut für Geowissenschaften die Universität Freiburg. Wir sammeln weltweit Gletscherdaten von Gebirgsgletschern und die Botschaft ist ganz einfach: Der Massenverlust der Gletscher ist weltumspannend. Die Besorgnis erweckende Erkenntnis aber ist: Er nimmt zu.

Können Sie das erklären?

Martin Hoelzle: Der Gletscher will grundsätzlich mit dem Klima im Gleichgewicht sein. Er passt sich der Lufttemperatur an. Wenn ein Gletscher gross ist und es wärmer wird, dann fängt ein immer grösserer Teil des Eises zu schmelzen an. Wenn nun der Gletscher abschmilzt, wird er kleiner. Die Schmelze müsste dann eigentlich abnehmen. Bleibt aber die Schmelze immer noch gleich hoch, was heute der Fall ist, dann heisst das nichts anderes, als dass die Temperatur weiter steigt. Die Geschwindigkeit der Schmelze nimmt zurzeit sogar noch zu.

Und das heisst konkret?

Martin Hoelzle: In Zahlen gesagt: Im 20. Jahrhundert hatten wir im Mittel 0,25 Meter Schmelze pro Jahr bei den Gletschern in den Alpen. Und heute sind wir schon bei über einem Meter. Das ist ein Faktor 4.

Martin Hoelzle, Sie sitzen im Ausschuss des Organs für Fragen der Klimaänderung, OcCC, in dem Wissenschafter aus allen Disziplinen vertreten sind und deren Aufgabe es ist, den Bundesrat zu beraten. Die Wissenschaft hat es also in der Hand, dass etwas gegen die steigenden Temperaturen unternommen wird.

Martin Hoelzle: Das Problem ist nicht die Wissenschaft. Die Wissenschaft hat ihre Arbeit gemacht. Schon längst! Wir vertreten seit Jahren die immer gleiche Botschaft und haben schon viele Empfehlungen abgegeben. Wie das auch die Wissenschafter des Weltklimarats mit dem IPCC-Report auf internationaler Ebene tun. Jetzt ist die Politik an der Reihe. Sie muss handeln und unsere Empfehlungen endlich umsetzen.

Klare Worte!

Martin Hoelzle: Wir wissen ja so vieles, zum Beispiel dass wir noch zirka 420 Gigatonnen CO2 ausstossen dürfen, damit es bei der 1,5°-Erderwärmung bleibt. Aber je länger wir warten, desto steiler wird der CO2-Absenkpfad sein und desto drastischer fallen die Massnahmen aus, damit wir auf dieser Welt noch einigermassen vernünftig leben können. Wenn die Politik das jetzt nicht begreift, so steuern wir auf etwas hin, das für uns Menschen sehr unangenehm sein wird.

Die Jugendlichen gehen auf die Strasse. Sie sagen: «Die Klimapolitik ist erbärmlich!»

Martin Hoelzle: Die Aussage ist sehr treffend. Die CO2-Debatte im Herbst 2018 war himmeltraurig! Die Politiker können die Tatsachen nicht einfach unter den Tisch wischen.

Und diese wären?

Martin Hoelzle: Die Tatsache, dass ein Drittel der Treibhausgase in der Schweiz durch den Verkehr verursacht wird. Trotzdem wird zum Beispiel Kerosin bis heute nicht besteuert. Beim Heizöl hat man den Schritt gemacht. Wer heute Öl zum Heizen kauft, muss für den CO2-Ausstoss aufkommen. Bei der Mobilität aber blockiert eine zu starke Lobby den Prozess.

Als Wissenschafter warnen und schreiben Sie. Kommt da nicht irgendwann ein Gefühl der Ohnmacht auf?

Martin Hoelzle: Als Wissenschafter versucht man sachlich zu sein und die möglichen Massnahmen und ihre Wirkung aufzuzeigen.

Andreas Linsbauer: Diese Ohnmacht hat man nicht nur, wenn man in der OcCC sitzt. Die habe ich auch als einfacher Wissenschafter und als privater Mensch.

Danke für das Stichwort. Was tun Sie selber für das Klima? Wie sieht Ihre CO2-Bilanz aus?

Martin Hoelzle: Es stimmt: Wir Wissenschafter stecken im Dilemma. Oft arbeiten wir im Ausland und sind deshalb auf Flugtransporte angewiesen. Wir können ja nicht einfach aufhören zu forschen. Immerhin versuchen wir innerhalb des WGMS die Flüge zu reduzieren und Strecken zu limitieren, indem sich die Wissenschafter pro Kontinent treffen oder man Skypemeetings durchführt.

Wie oft sind Sie letztes Jahr geflogen?

Martin Hoelzle: Einmal zu wissenschaftlichen Zwecken.

Andreas Linsbauer: Auch einmal zu wissenschaftlichen Zwecken.

Martin Hoelzle: Dieses Jahr werde ich nach Kirgistan fliegen, wo in den Gebirgen Tien Shan und Pamir neben der Schweiz meine Hauptforschungsgebiete liegen.

Wird Verzicht reichen? Um es nochmals mit den Worten der Schüler zu sagen: «Open your eyes, change systems, not climate!»

Martin Hoelzle: Auch da haben sie Recht! Es darf kein zusätzliches CO2 in die Atmosphäre gelangen. Dieses Ziel müssen wir bis spätestens 2060 erreichen und darum wird eine tiefgreifende Transformation der Gesellschaft notwendig sein. Wir werden wohl auch nicht darum herumkommen, aktiv CO2 aus der Atmosphäre zu nehmen. Ansätze dazu gibt es. Andreas Linsbauer: Die Forschung sucht nach Lösungen in den verschiedensten Bereichen. Aber auch wenn es in Zukunft möglich sein sollte, durch Geo-Engineering CO2 aus der Atmosphäre zu nehmen: Das darf kein Steilpass sein, weiterzumachen wie bisher.

Sie haben vor den technischen Lösungen die Transformation der Gesellschaft angesprochen.

Martin Hoelzle: Im Moment sägen wir an unserem eigenen Ast. Die Klimaänderung wirkt sich auf die Biodiversität aus, auf unsere natürlichen Ressourcen, den Boden, die Landwirtschaft, die Meere. Wenn die Menschheit wirklich nachhaltig – und hier finde ich das Wort zentral – auf dieser Erde leben soll, dann müssen wir eine Transformation durchmachen, welche jeden Bereich unseres Lebens umfasst.

Zum Beispiel?

Martin Hoelzle: Wir müssen zu lokalen Kreisläufen zurückfinden, das heisst, wir müssen wirtschaftliche Märkte umbauen.

 

       © Chappatte

Regionale Kreisläufe, weniger Mobilität: Seit 30 Jahren spricht man davon. Ist die Gesellschaft überhaupt im Stand, diese Transformation zu bewältigen?

Martin Hoelzle: Genau das ist die Aufgabe der Politik. Die freie Marktwirtschaft regelt das Problem eben nicht, wie sie immer vorgibt. Wenn mein Flug nach Zentralasien 5000 Franken kostet, dann ist es sonnenklar, dass ich nicht fliegen werde. Für 300 Franken hingegen kann ich das machen. Die Flüge werden sogar immer billiger, sie sind ein Bruchteil dessen, was der Land- oder Meerweg kosten. Das darf die Politik nicht zulassen.

Die Politik, die noch immer nicht handelt. Sie, Herr Linsbauer, richten sich mit Ihrem Nationalfond-Projekt «Expedition 2 Grad» an die Schulen und wollen mit einer Ausstellung die jungen Menschen zum Umdenken gewinnen.

Andreas Linsbauer: Weil sie die Zukunft gestalten werden. Heute gehen einige von ihnen auf die Strasse und fordern eine wirksame Klimapolitik. Aber es sind noch lange nicht alle.

Wie wollen Sie diese noch schweigende Mehrheit, dazu bringen, aktiv zu werden?

Andreas Linsbauer: Indem wir zeigen, dass es Handlungsmöglichkeiten gibt. Es wurden und es werden laufend Entscheidungen getroffen, die das Klima beeinflussen. Die Schüler werden in unserer Ausstellung in einer virtuellen Realität erleben, wie sich der Grosse Aletschgletscher und seine Umgebung mit Entscheidungen, die das Klima betreffen, in den letzten 150 Jahren verändert haben. Dann aber sollen sie selber entscheiden und dabei lernen, dass es nicht immer einfach ist, die richtige Entscheidung zu treffen und sie nicht einfach sagen können: «Hey, ihr Alten, ihr seid Schuld, ihr habt die falschen Entscheidungen getroffen». Unser Projekt zielt vor allem darauf ab, die jungen Menschen nicht in Ohnmacht zurückzulassen mit dem Gefühl, dass es zu spät ist, sondern ihnen zu zeigen, dass sie gemeinsam etwas verändern können.

Auf nationaler Ebene gibt es das National Centre for Climate Services, ein Programm, das die Bevölkerung für die Auswirkungen des Klimawandels wappnet. Ist das nicht Sand in die Augen gestreut?

Martin Hoelzle: Es braucht neben der Mitigation, also der Vermeidung von CO2, auch die Adaption. Innerhalb der OcCC hat die Mitigation immer die höchste Priorität. Sie ist auch billiger. Die Adaption an den Klimawandel ist aber genauso wichtig. Holland zum Beispiel ist daran, die Deiche zu erhöhen. In der Schweiz macht man Verbauungen gegen Murgänge. Wir müssen vorausschauend denken.

Nochmals zur Gletscherinitiative: Werden Sie diese unterzeichnen?

Andreas Linsbauer: Ja. Zentral ist, dass sie Unterstützung auch aus der Wirtschaft und der Landwirtschaft erhalten. Martin Hoelzle: Ich begrüsse diese Initiative sehr. Sie ist der einzig richtige Weg. Wir können die Gebirgsgletscher damit zwar nicht retten. Aber Gletscher hin oder her: Wir müssen etwas unternehmen, sonst wird es noch viel schlimmer und das in allen Bereichen. Die Kommunikation wird das entscheidende Element sein. Wir müssen unsere Botschaften so rüberbringen, dass die Leute sie begreifen, was auf dem Spiel steht.

 

Expedition 2 Grad

Das Projekt «Expedition 2 Grad» richtet sich an Schulklassen der Sekundarstufe I und II. Es will die Folgen einer globalen Temperaturzunahme um zwei Grad verständlich machen. In einer virtuellen Realität erleben die Schülerinnen und Schüler deren Auswirkungen auf den Grossen Aletschgletscher und dessen Umgebung. Diese Visualisierung soll zum Denken anregen, über individuelle Entscheidungen, aber auch über gesellschaftliche Anstrengungen, die das persönliche Handeln beeinflussen. Das Projekt ist eine Zusammenarbeit der Universität Freiburg, der Universität Zürich, der Pädagogischen Hochschule Graubünden, sowie der Zürcher Hochschule der Künste und wird von April bis Juli 2019 im Nationalparkzentrum in Zernez und von September bis Dezember 2019 im World Nature Forum in Naters ausgestellt.

www.expedition2grad.ch

Unser Experte Martin Hoelzle ist Professor für physische Geographie an der Universität Freiburg. Er ist Mitglied des Beratungsgremiums für Klimaänderungen (OcCC) des Eidgenösischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK), wissenschaftlicher Berater des World Glacier Monitoring Service (WGMS) und ehemaliger Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Schnee, Eis und Permafrost.Er beschäftigt sich seit mehr als 25 Jahren mit der Entwicklung moderner, stark interdisziplinärer Strategien zur Beobachtung der alpinen Kryosphäre und verfügt über ein breites Wissen im Bereich komplexer Prozessketten in Hochgebirgen.

martin.hoelzle@unifr.ch

Unser Experte Andreas Linsbauer ist Glaziologe, Wissenschaftler und Dozent am Departement für Geowissenschaften an der Universität Freiburg und am Geographischen Institut der Universität Zürich. Er ist Mitarbeiter des Schweizerischen Gletschermessnetzes (GLAMOS) und beschäftigt sich seit seiner Dissertation mit den Entwicklungen und Veränderungen der (Schweizer) Gletscher und deren Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft. Aufgrund seines pädagogischen Hintergrunds gilt ein besonderes Interesse der Klima­wandel-Kommunikation. In diesem Rahmen entstand das interdisziplinäre Nationalfonds-Projekt «Expedition 2 Grad», welches er leitet.

andreas.linsbauer@unifr.ch