Dossier
Beziehungen bestimmen den Erfolg
Die Gestaltung unserer Beziehungen hat einen grossen Einfluss auf unser Leben. Chantal Hinni über Wechselwirkungen und Sozialkapital
Chantal Hinni erscheint pünktlich zum vereinbarten Interview-Termin vor einem beliebten Freiburger Kulturcafé. Ganz selbstverständlich gehen wir die Stufen hoch und rein in die Wärme. Bedient werden wir von einem leicht hektischen jungen Mann mit einem physischen Handicap. Bestimmt hätte er eine Geschichte dazu zu erzählen, aber ich würde mich nie trauen, ihn danach zu fragen. Behinderung ist immer noch ein grosses Tabuthema. Chantal Hinni hingegen forscht darüber und befasst sich mit Behinderung im schulischen Kontext. Sie untersucht, wie Schüler_innen mit einer Beeinträchtigung ihren Schul-alltag gestalten können. Ihr Forschungsgebiet gehört zum Bereich der Sonderpädagogik, und im weiteren Sinn zu den sogenannten Disability Studies.
An der Kreuzung
Chantal Hinni befasst sich mit einem Begriff, der weder einfach zu schreiben, zu sprechen noch leicht zu verstehen ist: die Intersektionalität. Darunter verstehen wir, dass unterschiedliche Kategorien, die für eine Diskriminierung relevant sind, in ihren Wechselbeziehungen und Überschneidungen analysiert werden. Erfinderin des Begriffes war die Rechtswissenschaftlerin Kimberlé W. Crenshaw. Ihre Metapher der Strassenkreuzung (engl. intersection), mit welcher sie die damalige rechtliche Ungleichbehandlung von schwarzen Frauen im Gegensatz zu weissen Männern in den USA beschrieb, wurde dabei weltberühmt: Man stelle sich eine Kreuzung vor, an welcher der Verkehr aus allen Richtungen kommt.
Diskriminierung verläuft, wie ebendieser Verkehr, in mehreren Richtungen. Falls jemand einen Unfall hat, kommt eine Ambulanz, um zu helfen. Dabei ist das Risiko, auf der Kreuzung zu verunfallen, grösser, als wenn man auf einer Zufahrtsstrasse bleibt. Den damals existierenden Rechtsschutz stellte Crenshaw symbolisch als Ambulanz dar, die nur hilft, wenn die Ursache für den Unfall eindeutig verortet werden kann. Falls nicht, müssen die Verursacher_innen auch nicht mit Konsequenzen rechnen. Das Risiko zu verunfallen ist für eine schwarze Frau erhöht, weil sie sowohl von Rassismus als auch Sexismus betroffen sein kann. Falls sie auf der Kreuzung einen Unfall hat, ist unklar, woher der Verursacher kam, weil niemand den Ursprung von Rassismus oder Sexismus kennt. Diskriminierung spiegelt sich in Recht und Gesetz wider, betont Chantal Hinni. Crenshaws Metapher hat sie selbst weitergedacht: Angenommen, eine Soziologin und ein Biologe haben beide einen Unfall an einer Strassenkreuzung: Falls eine Ambulanz vorbeifährt, die mit «Für Soziologinnen» angeschrieben ist, wird die Soziologin weggefahren, der Biologe bleibt aber auf der Strasse liegen. Ist die Ambulanz mit «Für Soziologen» angeschrieben, werden beide zurückgelassen. Das Beispiel zeigt, wie abstrakt bzw. subtil Diskriminierungen sein können: Rechtssysteme können diskriminieren, wenn sie nicht auf die Menschen, die sie betreffen, zugeschnitten sind, sondern wie Schablonen auf alle angewandt werden.
Michi, 41, schwul
Chefredaktor
«Wir lieben die Natur dafür, dass sie so vielfältig ist. Es ist Zeit, das Konzept auch auf die Menschheit anzuwenden.»
Instrumentelle Beziehungen sind relevant
Intersektionalität und Diskriminierung als Forschungsfeld findet Chantal Hinni im Bereich der Bildung und Migration besonders spannend. Dabei zieht sie für ihre Analysen das Sozialkapital hinzu. Sozialkapital ist eine Zusammenstellung von Beziehungen, die einem Menschen persönlich nützen. Wenn also jemand einen Job sucht, ist es von Vorteil, eine Person zu kennen, die von einer passenden Ausschreibung weiss, eventuell nützliche Informationen hat, vermitteln oder empfehlen kann. Wo man am Ende arbeiten geht, ist stark schichtabhängig. Als Chantal Hinni in den 90er Jahren für die eingetragene Partnerschaft mitkämpfte, war Ruth Metzler Bundesrätin. Metzler war jung, empathisch und kam aus der Arbeiterschicht: Es war einfach, mit ihr eine instrumentelle Beziehung aufzubauen. Auf die Schule übertragen, stellt sich die Frage, wie Schüler_innen ihre Beziehungen zu Lehrpersonen, Schulleitung oder auch Sozialpädagog_innen gestalten. Bei einem verhaltensauffälligen Schüler mit einer Behinderung muss man davon ausgehen, dass es ihm schwerfällt, eine instrumentelle Beziehung zur Lehrperson zu bilden, weil sein Verhalten für den Erwachsenen auch anstrengend sein kann. Einer Schülerin mit derselben Behinderung, die sich aber eher ruhig verhält, gelingt es wahrscheinlich besser, eine Beziehung aufzubauen, die sich begünstigend auswirken kann, z.B. weil die Lehrperson besonders viel Zeit investiert, die Schülerin fördert oder ein passendes Programm für sie findet.
Erwartet wird immer eine Gegenleistung
Der Grund, warum zwei Kinder mit derselben Behinderung unterschiedlich behandelt werden, ist im genannten Beispiel nicht etwa Diskriminierung, sondern der sogenannte soziale Austausch: Für alles, was man tut, erwartet man grundsätzlich eine Gegenleistung. Bei den Lehrpersonen ist diese Gegenleistung z.B., dass sich die Schüler_innen ruhig verhalten, ihre Aufgaben erledigen, angepasst sind. Wenn die Kinder das alles nicht liefern können, kann sich die Lehrperson aus der Beziehung zurücknehmen, die instrumentellen Aspekte kommen nicht mehr zum Tragen. Das kann gravierende Folgen haben auf den Bildungserfolg, z.B. wenn die Lehrperson aufgrund des auffälligen Verhaltens ein Time-out oder eine andere Institution empfiehlt, die sich negativ auf den Schüler oder die Schülerin auswirkt. Sich aus der Beziehung herauszunehmen und das eigene Sozialkapital nicht zur Verfügung zu setzen ist dabei noch keine Diskriminierung.
Lesbischsein als Behinderung
Zum Forschungsfeld der Intersektionalität und des Sozialkapitals kam Chantal Hinni auch aufgrund eigener Erfahrungen. So wuchs sie zwar in einem sehr liberalen Umfeld auf, nimmt aber ihre Identität als Frau in einer Frauenpaarbeziehung manchmal auch als Behinderung wahr. Je nachdem, welche Wechselwirkungen zusammenspielen, ist die sexuelle Orientierung entweder gar kein Problem – oder eben doch. Deshalb sei es wichtig, vorhandene Strukturen immer wieder zu hinterfragen und Unsichtbares sichtbar zu machen. So wie Rassismus und Sexismus sich überschneiden können, können auch Behinderung und sexuelle Orientierung in Wechselwirkung stehen. Ein Beispiel aus der Sexualassistenz illustriert die Problematik: Hier wird ein klassisches Bild reproduziert, nämlich dass Frauen, die früher vielleicht als Prostituierte arbeiteten, nun ihre Dienste ausschliesslich behinderten Männern anbieten. Dabei gibt es auch viele schwule und lesbische Menschen mit Behinderung. Wenn Sexualassistenz angeboten wird, um Menschen mit Behinderung nicht in ihrer Sexualität zu diskriminieren, sollten auch die Bedürfnisse von LGBT+ Menschen gedeckt werden, so Chantal Hinni. Schweizweit kennt sie noch kein einziges Angebot für LGBT+. Es hat in der Gesellschaft auch lange gedauert, überhaupt zu akzeptieren, dass auch Menschen mit einer Behinderung ein Sexualleben haben. Mit einer Kollegin forscht Chantal Hinni zu Elternschaft bei geistiger Behinderung. In den Institutionen herrschen zu all diesen Themen noch sehr veraltete Bilder. Wer Menschen das Sexualleben abspricht, spricht ihnen auch das Recht ab, Eltern sein zu dürfen. Auf die Idee, dass auch schwule und lesbische Menschen mit einer Beeinträchtigung Kinder haben könnten, kommt erst recht niemand. Dass ihnen endlich auf Augenhöhe, in Anerkennung der ihr eigenen spezifischen Identität, begegnet wird, das wünscht sich Chantal Hinni.
Unsere Expertin Chantal Hinni ist Diplomassistentin und Doktorandin am Departement für Sonderpädagogik der Universität Freiburg. Ihr Forschungsinteresse liegt im Themengebiet Behinderung und Migration und in der Analyse der Wechselbeziehungen von Behinderung und anderen Ungleichheitsdimensionen.