Dossier

Ein Meer von Verbindungen

Heute trennt das Meer Europa von Afrika, früher verband es den Mittelmeerraum. So erklärt es Theologe und Altertumsforscher Florian Lippke.

Am besten, wir starten an Land und stossen uns ab. Denn ganz ehrlich: Wer wollte in der Antike schon an Land unterwegs sein? Dort wo es Wegelagerer und wilde Tiere, aber kaum brauchbare Strassen gab? Flüsse und Meere waren die Lebensadern antiker Zivilisationen und das Mittelmeer ist dafür das beste Beispiel. Hier bestand über Jahrtausende hinweg ein dichtes Netz aus politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Beziehungen. Hier segelten Ägypter, Phönizier, Griechen, Römer und viele weitere zwischen Karthago und Marseille, von der Levante bis nach Gibraltar. Dabei handelten sie mit Gütern und Ideen. Vieles davon liegt heute auf dem Meeresgrund – anderes bleibt in Bibliotheken und unseren Köpfen lebendig.

«Ein spannendes Beispiel ist die Verbreitung des Isis-Kultes», sagt Florian Lippke, Assistent am Departement für Biblische Studien und Kurator des BIBEL+ORIENT Museums. Der Kult breitete sich mit ägyptischen Handelsposten in den ganzen Mittelmeerraum aus. Sogar in Spanien entstanden Isis-Tempel. Heisst das, die alten Spanier glaubten an Isis? «Nun, zumindest trugen viele von ihnen in Ägypten fabrizierte Isis-Amulette. Und liessen sich auch mit diesen bestatten.»

Isis’ Geschichte klingt ziemlich exotisch – und eigenartig vertraut. Ihr Mann Osiris wurde vom Chaos-Gott Seth getötet, aber Isis gelingt es, ihn durch eine Klage zum Leben zu erwecken und von ihm schwanger zu werden. Ihr Sohn Horus war von Geburt an König und gekommen, das Reich seines Vaters anbrechen zu lassen. «Isis gebiert das Kind eines Vaters der körperlich nicht da ist und der Sohn soll das Reich seines Vaters herbeiführen – da sind wir strukturell extrem nah an Maria, Gott Vater, Jesus und neutestamentlichen Vorstellungen», erklärt Lippke.

Verbindende Götter

Der junge Forscher, der sich nebst Griechisch, Hebräisch, Arabisch, Aramäisch und Latein auch noch Schweizerdeutsch beigebracht hat, ist es sich gewohnt, Verbindungen herzustellen. «Denn der Mittelmeerraum war in der Antike extrem eng vernetzt: Das sehen wir am Handel, wir sehen es aber auch an der Religion.» Für diesen Austausch zwischen den Küsten brauchte es aber nicht nur stabile Schiffe, sondern auch gute Winde – und damit die Hilfe des Wettergotts. «Ein solcher findet sich in allen Kulturen», erklärt Lippke. «Seine Aufgabe ist aber nicht nur das gute Wetter, oft bekämpft er auch ganz grundsätzlich alles, was chaotisch und gefährlich ist. Das Chaos wird häufig durch einen Drachen verkörpert und das Motiv des Kampfs mit dem Drachen ist im ganzen Mittelmeerraum präsent. Wir finden es bei den Phöniziern genauso wie in der hebräischen Bibel, dem Ersten Testament. In Ägypten ist es Horus, der mit dem Schlangendrachen oder dem gefährlichen Nilpferd ringt, im Christentum der heilige Georg und im Islam Al-Chidr.» Auch bei Jesus finden sich Bezüge zu diesem Motiv. Ohne Drachen zwar, aber Christus befiehlt (gemäss dem Evangelisten Matthäus) dem stürmischen See Genezareth, ruhig zu sein – ganz wie ein Wettergott. «Die Frage ist: Was sehen wir hier? Sind das historische Ereignisse oder eine Anlehnung des Christentums an ältere Traditionen? Vielleicht versucht Matthäus zu sagen: ‹Seht, das ist der neue Wettergott›.»

 

Caesarea, Israel  © KEYSTONE SDA
Blick aufs grosse Ganze

Dass man sich an Älteres anlehnt, sich einschreibt in eine Tradition, ist ebenfalls ein beliebtes mediterranes Motiv. «Der berühmte Alexanderroman erwähnt, dass sich Alexander der Grosse am Nil habe zum Pharao krönen lassen. Genauso wie später Julius Cäsar! Auch Augustus und mindestens 20 weitere römische Kaiser legten Wert darauf, ihre Namen pharaonisch in Hieroglyphen meisseln zu lassen.» Und das Brot, das Cäsar und andere Machthaber in Rom verteilen liessen, stammte natürlich ebenfalls zu einem wesentlichen Teil aus Ägypten. «Wer die Mittelmeer-Zivilisationen verstehen will, tut sich keinen Gefallen, wenn er sie isoliert betrachtet», gibt der Altertumsforscher zu bedenken. «Die bei uns oft vergessenen Phönizier beispielsweise waren die eigentlichen Erfinder des griechischen Alphabets. Die Griechen drehten, spiegelten und verformten zwar einige Buchstaben und erfanden noch ein paar Neue, aber die wesentlichen Zeichen und Ideen waren schon da. Ausserdem sagt es einiges über die Vernetzung des Mittelmeerraums aus, wenn Leute aus dem Libanon in Tunesien eine neue Stadt gründen, die sie auch ‹neue Stadt› – gemeint ist neues Tyrus – nennen. In ihrer Sprache hiess der Ort dann ‹qart hadschtoh‹ oder anders gesagt: Karthago. Dessen berühmtester Abkömmling heisst dann wiederum ‹Hannobaal› oder Hannibal oder anders gesagt ‹Baal ist gnädig›. Das ist derselbe Gott Baal, der uns im Alten Testament hin und wieder über den Weg läuft!»

Platon und Aristoteles auf Reisen

Lippke zeigt immer neue Verbindungen zwischen den Küsten. Wer ihm folgen will, braucht ein flinkes Hirn – und einen gnädigen Wettergott. «Auch an der Bibel können wir ablesen, wie sich Ideen durch den Mittelmeerraum verbreitet haben. Wir haben erst die Ausbreitung des griechischen Alphabets, dann kommt aber bald auch das Christentum mit seinen Texten und seinem Glauben, die mit Paulus aus dem östlichen Mittelmeer in die südliche Türkei und dann weiter nach Rom gelangen und sich von dort in den ganzen Mittelmeerraum ausbreiten.» Auch philosophische Schriften machten imposante Reisen. «Viele Texte von Platon oder Aristoteles gingen durch die Zerstörung von Bibliotheken verloren. Glücklicherweise aber waren etliche griechischen Texte zunächst ins Syrische und dann ins Arabische übersetzt worden; sie verbreiteten sich in die arabische Welt und gelangten so auch ins inzwischen muslimisch geprägte Spanien. Von dort wurden sie schliesslich am Ende des Mittelalters ins Lateinische und später in die verschiedenen europäischen Sprachen übersetzt.» Die Schriften reisten also gewissermassen einmal im Gegenuhrzeigersinn ums Meer.

Der Islam verband aber nicht nur das alte Griechenland mit der europäischen Renaissance, in Cordoba hinterliess das Kalifat auch sprachliche Spuren – mehr als 5000 Lehnworte aus dem Arabischen sind im Spanischen verlässlich nachgewiesen.

Güter, Worte, Buchstaben, Götter und Ideen: Alles reiste auf dem Seeweg auf dem Mittelmeer von Küste zu Küste, von Kultur zu Kultur. Und während das Meer heute gern als trennende Barriere gesehen wird, würde eigentlich ein Blick auf die Landkarte genügen, um das Verbindende zu sehen. Nicht Nord-, Ost-, West- oder Südsee steht da, sondern «Mittelmeer». Und eine Mitte hat nur, was verbunden ist.

«Auch in der Religion wird gern so getan, als ob der Monotheismus gar nichts mit dem älteren Vielgötterglauben zu tun hätte. Dabei sind viele unserer modernen Religionen bei genauerer Betrachtung eine Art ‹Best of› der Ideen des antiken Mittelmeerraums», so Florian Lippke.

 

Unser Experte Florian Lippke forscht als Kurator und lehrt als Dozent im Nahen Osten, Israel, Deutschland und der Schweiz. Sprachliche, archäologische und kulturgeschichtliche Verbindungen interessieren ihn besonders. In Freiburg unterrichtet er semitische Sprachen und die Auslegung religiöser Texte, die mitunter über 3’000 Jahre alt sind.

florian.lippke@unifr.ch