Dossier

Massengrab Mittelmeer

Das Thema der Seenotrettung im Mittelmeer ist hoch umstritten. Sind die übers Meer kommenden Flüchtlinge ein Problem der EU? Wer ist zur Seenotrettung verpflichtet? Das Recht kennt zumindest einige Antworten.

Nahezu täglich ertrinken Menschen beim Versuch, mit oft seeuntauglichen Booten über das Mittelmeer irregulär in die EU einzureisen. Im Oktober 2013 kamen bei zwei Bootsunglücken vor der italienischen Insel Lampedusa hunderte Personen ums Leben. Im April 2015 ertranken etwa 800 Menschen auf dem Weg von Libyen nach Italien im Mittelmeer, was zu einem Sturm der Empörung in den Medien führte. Während der «Flüchtlingskrise» der Jahre 2015 und 2016, als über eine Million Geflüchteter die Europäische Union erreichte, überschlugen sich Meldungen über gekenterte Boote und ertrunkene Menschen. 2016 starben über 5’000 Menschen im Mittelmeer; auch 2019 sind es bereits 440. Die Todesfälle erfasst das «Missing Migrants Project» der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Die Zahlen des «Missing Migrants Project» sind aber vermutlich nur die Spitze des Eisbergs, da sich nicht mit Sicherheit sagen lässt, wie viele Menschen überhaupt losgefahren sind.

Italien, in dem sehr viele Geflüchtete zum ersten Mal europäischen Boden betreten, ist aufgrund der sogenannten Dublin-Verordnung oft das Land, das auch das Asylverfahren durchführen müsste. Dies stösst mehr und mehr auf Widerstand. Ausbaden müssen dies NGOs, die mit ihren Schiffen Seenotrettung im Mittelmeer betreiben bzw. betrieben haben. Ihre Arbeit wird immer mehr erschwert bzw. verunmöglicht. NGO-Schiffen wird der Hafenzugang verweigert oder es werden die Schiffe beschlagnahmt und die Crew Strafprozessen unterworfen. All dies wirft Fragen auf, die auch die rechtswissenschaftliche Forschung beschäftigen.

Wer muss überhaupt Seenotrettung betreiben?

Internationale Grundlagen für Seenotrettung finden sich insbesondere im UN-Seerechtsübereinkommen, dem Internationalen Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See (SOLAS), und der sog. Search and Rescue (SAR)-Konvention. Diese binden allerdings nur die Mitgliedstaaten; die EU selbst ist nicht Vertragspartei eines dieser Abkommen. Eine Pflicht zur Seenotrettung besteht für alle Küstenstaaten in ihren eigenen Hoheitsgewässern, d.h. innerhalb der Küstenmeere, die nach dem UN-Seerechtsübereinkommen eine Zone bis 12 Seemeilen ab einer festgelegten Basislinie erfassen. Die Hilfesuchenden müssen nach ihrer Rettung medizinisch versorgt und schnell an einen sicheren Ort gebracht werden. Die Rettung hilfsbedürftiger Menschen auf See ist zudem eine Verpflichtung, die sich an alle Schiffe und Besatzungen richtet, unabhängig davon, unter welcher Flagge sie fahren. Jeder Schiffsführer ist auf Hoher See innerhalb seiner Möglichkeiten verpflichtet, unabhängig von Nationalität, Status und Umständen, in welchen sich die Hilfesuchenden befinden, bei Seenot unverzüglich Hilfe zu leisten, wenn er über eine konkrete Notsituation informiert wird.

Was macht die EU im Bereich der Seenotrettung?

Im Jahr 2004 wurde durch die EU die «Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Aussengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union» (Frontex) errichtet. Im Mai 2005 hat sie ihre Arbeit aufgenommen. Hauptziel von Frontex ist Grenzschutz: Die Agentur soll zur Verbesserung des Schutzes der Aussengrenzen der EU beitragen. Frontex koordiniert Aktionen der Mitgliedstaaten und steht ihnen mit der notwendigen technischen Unterstützung und mit Fachwissen im Bereich des Schutzes der Aussengrenzen zur Seite. 2016 wurde das Mandat von Frontex noch einmal erweitert und die Agentur in «Europäische Grenz- und Küstenwache» umbenannt, wobei weiter der Begriff Frontex verwendet wird. Die Agentur soll die Mitgliedstaaten auch bei Such- und Rettungsaktionen unterstützen, um erforderlichenfalls Leben zu schützen und zu retten.

 

Omris, Kroatien  © Getty Images

Zwischen 2013 und 2014 führte Italien während der Operation «Mare Nostrum» verstärkt Seenotrettungsaktionen durch. Rund 140’000 Menschen wurden im Rahmen von «Mare Nostrum» gerettet und nach Italien gebracht. Italien mahnte aber immer wieder an, dass eine gesamteuropäische Lösung gefunden werden und sich alle EU-Staaten an der Finanzierung der Seenotrettungsaktionen beteiligten müssten. Zudem müssten die Geretteten auf verschiedene Staaten verteilt werden.

Frontex koordinierte nach der Einstellung von «Mare Nostrum» verschiedene Operationen der Mitgliedstaaten im Mittelmeerraum, z.B. «Poseidon» und «Triton». Anders als bei «Mare Nostrum» konzentriert sich Frontex aber auf Seenotrettung im küstennahen Bereich. Da viele Boote, die z.B. aus Libyen losfahren, bereits vorher in Seenot geraten, ist dies nicht wirklich ausreichend.

Um gegen Schlepperkriminalität zu kämpfen, wurde 2015 durch die EU die Mission EUNAVFOR Med (Operation «Sophia») ins Leben gerufen, eine multinationale militärische Krisenbewältigungsoperation. Auch diese führte teilweise Seenotrettungsaktionen durch. Im März 2019 wurde allerdings bekannt, dass die Operation «Sophia» zwar für 6 Monate verlängert wird, aber vorläufig der Einsatz der verbleibenden zwei Schiffe eingestellt wird, da Italien nicht mehr bereit ist, die geretteten Personen aufzunehmen. Dafür soll die Luftüberwachung über dem Mittelmeer ausgebaut werden. Auch die Ausbildung der libyschen Küstenwache, die ebenfalls im Rahmen von «Sophia» erfolgt, wird fortgesetzt.

Insgesamt lässt sich also beobachten, dass die Seenotrettung durch die EU und ihre Mitgliedstaaten immer weiter zurückgefahren wird. Es wird oftmals angeführt, dass man keinen sogenannten «Pull Factor» schaffen möchte, der noch mehr Menschen dazu veranlassen könnte, sich in unsichere Boote zu setzen und ihr Leben zu riskieren. Ob eine funktionierende Seenotrettung eine derartige Sogwirkung hätte, ist aber unklar.

Dürfen NGOs Seenotrettung durchführen?

Viele Hilfsorganisationen halten die staatlichen Massnahmen zur Seenotrettung auf dem Mittelmeer für unzureichend und haben selbst die Initiative ergriffen. Die NGOs übergeben die Geretteten regelmässig an staatliche Schiffe oder laufen den nächsten Hafen an; auch dies wird von Italien aber inzwischen systematisch blockiert. 2017 hat Italien einen Verhaltenskodex für in der Seenotrettung engagierte NGOs aufgestellt, die deren Tätigkeit stark beschränkte. So wird den NGOs etwa vorgeworfen, durch ihre Hilfsaktionen selbst Menschenschmuggel zu betreiben. Nach internationalem Recht ist der Tatbestand des Menschenschmuggels allerdings nicht erfüllt: Das Migrant- Smuggling-Protokoll, ein Zusatzprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, definiert die Schlepperei von Migranten als «Herbeiführung der illegalen Einreise einer Person […], mit dem Ziel, sich unmittelbar oder mittelbar einen finanziellen oder sonstigen materiellen Vorteil zu verschaffen». Der Tatbestand der Schlepperei ist also nur dann erfüllt, wenn das Element der Bereicherung gegeben ist.

Das Protokoll hindert Staaten jedoch nicht daran, in ihrem nationalen Recht einen entsprechenden Straftatbestand zu schaffen und Massnahmen gegen Personen zu ergreifen, die hiergegen verstossen. Die Kriminalisierung von Seenotrettungsorganisationen im nationalen Recht ist daher möglich. Auch das EU-Recht sieht dies unter bestimmten Umständen vor (vgl. Richtlinie 2002/90/EG).

Ein strafrechtliches Vorgehen (allein wegen der illegalen Einreise oder des illegalen Aufenthalts) gegen Migranten selbst ist ebenfalls unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Hier gilt die EU-Rückführungsrichtlinie, die allerdings einen Vorrang des Rückführungsverfahrens vor einer strafrechtlichen Inhaftierung fordert. Es lässt sich also ein klarer Trend zur «Crimigration», der Kriminalisierung von Migration, verzeichnen, der verschiedene Akteure betrifft.

 

Unsere Expertin Sarah Progin-Theuerkauf ist Professorin für Europarecht und Migrationsrecht.

sarah.progin-theuerkauf@unifr.ch