Interview

Essen ohne Ende

Immer mehr Jugendliche leiden unter Essanfällen. Dahinter steckt häufig die Schwierigkeit, mit Frustration und Gefühlen adäquat umzugehen. Und genau dort will eine neue Therapie nun ansetzen. Ein Gespräch mit den Psychologinnen Simone Munsch und Felicitas Forrer.

Binge-Eating steht mit rund drei Prozent Bevölkerungsanteil an der Spitze der Essstörungen. Trotzdem ist die sogenannte Essanfallstörung weniger bekannt als etwa die Magersucht oder die Bulimie, die beide rund ein Prozent der Bevölkerung betreffen. Gibt es dafür eine Erklärung?

Felicitas Forrer: Die Binge-Eating-Störung hat lange ein Schattendasein geführt, auch unter Fachpersonen. Sie wurde erst 2013 als eigenständige Störung in das neue Diagnose-system psychischer Störungen (DSM-5) aufgenommen.

Simone Munsch: Von Binge-Eating sprach man in den 50er-Jahren erstmals. Die Anorexia nervosa, die Magersucht genannt wurde, und die Bulimia nervosa waren schon im 18. Jahrhundert bekannt. Die Binge-Eating-Störung wird häufig nicht korrekt erkannt und die Betroffenen versuchen mit Diäten, der Gewichtszunahme entgegenzuwirken, die mit regelmässigen Essanfällen verbunden ist. Kurzfristige Methoden zur Gewichtsreduktion wie eine Diät, können aber Essanfälle sogar fördern. Deshalb ist es so wichtig, dass alle Essstörungen korrekt erkannt und behandelt werden.

 

Felicitas Forrer  © Aldo Ellena

Magersüchtige essen sehr wenig, Binge-Eating-Patienten hingegen leiden unter Essanfällen. Gibt es trotzdem Gemeinsamkeiten zwischen den Störungen?

Simone Munsch: Bei allen Essstörungen ist Essen ein Mittel zur Emotions- oder Stressregulation. Die unterschiedlichen Störungen lassen sich teilweise auch mit genetischen Faktoren erklären. Man weiss, dass bei Binge-Eating-Störungen eine genetische Disposition für Übergewicht vorliegt, das heisst, dass Fette rasch abgespeichert werden. Was für den Erhalt der Spezies ja eigentlich eine gute Veranlagung ist – in der heutigen Gesellschaft aber eine Herausforderung darstellt. Diese Betroffenen sind gar nicht in der Lage zu fasten, weil sie halt mehr Nahrung brauchen, um die psychische und physische Funktionsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Andere haben kein Problem damit, mit weniger Energie noch leistungsfähig zu bleiben und damit auch Stress zu bekämpfen. Wenn jemand merkt, dass er Stress reduzieren kann, indem er wenig isst, dann ist das eine Belohnung. Man könnte also sagen, dass die verschiedenen Essstörungen derselben Ursache entspringen, sich aber verschieden entwickeln.

 

Entwickeln sich Essstörungen für gewöhnlich im jugendlichen Alter?

Felicitas Forrer: Ja, Jugendliche, aber auch junge Erwachsene sind am anfälligsten.

Simone Munsch: Es gibt ja die Pubertät und die Adoleszenz. Die Pubertät bezieht sich auf die biologischen Veränderungen und die Adoleszenz auf die psychologischen und sozialen Entwicklungen. Dort liegt auch der Konflikt. Die biologischen Veränderungen sind den emotionalen und zwischenmenschlichen Kompetenzen häufig einen Schritt voraus. Mit der fettreichen Ernährung, setzt die Pubertät bei Mädchen und Jungen heute immer früher ein. Die emotionale Kompetenz aber, die ist nicht weiter und die Exekutivfunktion, also die Fähigkeit, sich zu fragen, ob etwas Sinn macht, die ist bisweilen so gut wie ausgeschaltet in diesem Alter. Diese Diskrepanz macht es sehr schwierig, sich so zu akzeptieren, wie man ist.

 

Sie haben untersucht, wie junge Frauen auf Schönheitsideale in den Medien reagieren.

Simone Munsch: Wir haben junge Frauen von 18 bis etwa 35 Jahren mit Schönheits-idealen konfrontiert. Die Frauen mussten während etwa zehn Minuten Zeitschriften anschauen, in welchen Schönheitsideale abgebildet werden. Die eine Gruppe bestand aus Frauen, die an Anorexie oder Bulimie leidet, eine weitere aus jungen Frauen mit depressiven oder Angststörungen sowie eine andere aus rund 100 Frauen ohne psychische Störungen. Wir wollten herausfinden, ob die Wirkung von Schönheitsidealen nur auf jene Frauen einen Einfluss hat, die an einer Essstörung leiden, oder ob auch Frauen mit anderen psychischen Störungen oder gesunde junge Frauen darauf reagieren. Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen? Felicitas Forrer: Bilder von sogenannt perfekten Models beeinflussen alle! Und zwar massiv und anhaltend. Alle reagieren mit Verstimmung, mit einem kritischen Blick auf den eigenen Körper und dem Drang, ungünstige Nahrungsmittel nicht mehr zu essen.

 

Und wie kommt es, dass wir nicht alle an einer Essstörung leiden?

Felicitas Forrer: Die Studie zeigt, dass jene Frauen besonders gefährdet sind, die Mühe haben, mit Emotionen umzugehen. Dabei sind alle möglichen Störungen angesprochen, nicht nur Essstörungen, auch Angst- oder depressive Störungen zum Beispiel. In den Schwierigkeiten im Umgang mit Emotionen liegt also ein Schlüssel zum Schloss.

 

Was bedeutet «Schwierigkeiten mit Emotionen umzugehen»?

Simone Munsch: Es geht darum, ob jemand in der Lage ist, Emotionen zu erkennen. Zu wissen: Ich bin frustriert oder wütend. Dann geht es darum, Emotionen adäquat auszudrücken. Und dann erst kommt der Umgang mit den Emotionen ins Spiel. Was mache ich, wenn ich frustriert bin und dies gerade nicht ändern kann. Frauen, die diesen Umgang mit Frustration beherrschen, leiden weniger lange und weniger intensiv unter der Beeinflussung durch Schönheitsideale.

 

Was wäre ein guter Umgang mit Frustration? Wenn man sich «unschön» fühlt im Vergleich mit den «Schönen» dieser Welt?

Simone Munsch: Wichtig wäre es, unter den Jugendlichen ein Wissen zu etablieren, wie solche Schönheiten überhaupt entstehen. Einerseits ganz banal auf fototechnischer Seite. Hinzu kommt, dass ein Fotomodell die Schönheit ja zum Beruf gemacht hat und einen grossen Teil seines Lebens damit verbringt, «schön» zu werden, zu sein und zu bleiben. Elementar ist auch die Sinnfrage: Was bringt es mir, wenn ich so aussehe wie die Topmodels? Was müsste ich dafür investieren? Diese Fragen stellt sich nur jemand, der über ein positives Selbstwertgefühl verfügt. Eine stabile Identität ist dabei ganz wichtig.

 

Wir wissen um Fotobearbeitung und den Aufwand, den ein gestählter Körper voraussetzt. Trotzdem sagt uns der Bauch, dass wir so aussehen möchten.

Simone Munsch: Da haben Sie absolut Recht. Als Eltern und Umfeld ist es auch wichtig, diese Frustration mit den Jugendlichen auszuhalten. Das Gefühl geht nicht einfach so weg. Aber wichtig ist es, nicht danach zu handeln. Man kann sehr wohl frustriert sein und trotzdem nicht anorektisch oder bulimisch werden.

 

Die Resultate dieser Studie werden auch verwendet im Therapieprogramm BEAT, das kürzlich angelaufen ist und Jugendliche mit einer Binge-Eating-Störung behandelt.

Felicitas Forrer: Die Resultate zeigen uns, dass der Umgang mit Emotionen ganz grundlegend ist bei einer Behandlung. Konkret therapieren wir die sogenannte Zurückweisungsempfindlichkeit.

 

Zurückweisungsempfindlichkeit?

Felicitas Forrer: Die vorschnelle Erwartung, von anderen abgelehnt zu werden. Stellen Sie sich ein Mädchen vor, das an einer Gruppe Jugendlicher vorbeiläuft. Genau in diesem Moment lacht diese Gruppe – vielleicht über einen Witz. Aber das Mädchen ist sich sicher, dass über es gelacht wird. Eine solche negative Grundhaltung hat sehr viel mit dem eigenen Körperbewusstsein zu tun, besonders bei Jugendlichen mit Essstörungen. Ich bin dick, also werde ich sicher gemobbt und niemand mag mich.

Simone Munsch: Bisher haben wir in Binge--Eating-Therapien immer die Kernstörung behandelt, also die Essstörung, etwa indem auf die Reduktion von Essanfällen hingearbeitet wird. Die Erkenntnis, wie grundlegend die Emotionsregulation in Bezug auf Essstörungen ist, soll aber nun konkret in der Therapie genutzt werden. Wir möchten den Jugendlichen lehren, mit Emotionen umzugehen. Das mag banal klingen, wurde bisher so aber nicht angewendet. Man hat immer versucht, die Symptome abzutrainieren.

 

Mit allem Respekt: Es klingt tatsächlich nicht nach einem monumentalen Durchbruch…

Simone Munsch: Tatsache ist: Wir brauchen die Studien oder besser deren Resultate, um überhaupt belegen zu können, dass etwas vermeintlich Banales auch empirisch bewiesen ist. Nur so können wir entsprechende Therapieprogramme aufbauen und werden auch finanziell gefördert.

 

Wie sieht eine Therapie zur Emotionsregulation aus?

Felicitas Forrer: Es sind kognitiv-verhaltenstherapeutische Ansätze. In einem ersten Schritt lernen die Jugendlichen, sich im Alltag zu beobachten, um Situationen mit realer oder vorschnell wahrgenommener Zurückweisung zu identifizieren und zu analysieren.

 

Simone Munsch  © Aldo Ellena

Dies erfolgt in Gesprächstherapien?

Simone Munsch: Wir haben junge Studentinnen und Studenten damit betraut, die Psychoedukation für uns zu übernehmen, weil die halt näher dran sind an den Jugendlichen und einen einfacheren Zugang haben. Die Studierenden haben einen Videoclip ausgearbeitet, der solche Zurückweisungs-Situationen erklärt. Und dann geht es darum, den Jugendlichen aufzuzeigen, dass eine Situation auch anders interpretiert werden kann. Der Einfluss einer solchen Erkenntnis ist für Jugendliche enorm. Wer sich zurückgewiesen fühlt, der geht nicht raus, macht mit niemandem ab. Diese Person bleibt daheim in den vier Wänden, mit dem Smartphone oder vor dem Computer – und isst. Dieses Verhalten wird in Rollenspielen und Gesprächen angeschaut. Im Alltag sollen die Jugendlichen versuchen, sich in solchen Situationen mal anders zu verhalten.

 

Hat Binge-Eating zugenommen?

Felicitas Forrer: Die Tendenz zu Essanfällen hat sicher zugenommen. Und auch die Forschung dazu hat in den letzten 10 bis 15 Jahren stark zugenommen.

 

Welchen Einfluss haben Social Media?

Simone Munsch: Die Anzahl an Fällen mit Binge-Eating-Störung ist mit den Social Media nicht deutlich gestiegen. Aber die Belastung der Jugendlichen hat sicher klar zugenommen.

 

Das verstehe ich nicht.

Felicitas Forrer: Um eine Binge-Eating--Störung diagnostiziert zu bekommen, muss man ganz klare Kriterien erfüllen, da diese Störung eben seit 2013 als offizielle Störung klassifiziert ist. Nun gibt es aber viele Jugendliche, die einen Teil der Störung aufweisen, aber nicht alle Komponenten. Mag sein, dass sie beispielsweise nicht mindestens einen Essanfall pro Woche haben, wie von den Kriterien gefordert. Trotzdem sind sie sehr belastet und leiden darunter.

Simone Munsch: Genau. Die Anzahl Betroffener unter diesem cut-off hat sicher deutlich zugenommen. Nur erfüllen diese Jugendlichen die Kriterien für die Krankenkassen nicht. Als Therapeutin muss man da halt auch manchmal differenzieren können…

 

Das Behandlungsprogramm BEAT (Binge-­Eating-Adolescent-Treatment) richtet sich an Jugendliche mit regelmässigen Ess­anfällen. Um mehr Jugendlichen den Zugang zum Behandlungsprogramm BEAT zu ermöglichen, wird die Behandlung erst­­mals in der Kombination von Workshop und email-basierter Selbsthilfe ausgerichtet. Interessierte können laufend einsteigen.

Infos unter: http://www.unifr.ch/psycho/de/research/klipsy oder BEAT@unifr.ch

Unsere Expertinnen

Simone Munsch ist ordentliche Professorin am Lehrstuhl für klinische Psychologie und Psychotherapie des Departements für Psychologie an der Universität Freiburg und eidg. anerkannte Psychotherapeutin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Essstörungen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, psychologische- und biophysiologische Korrelaten von Essstörungen, experimentelle Psychopathologie und die Psychotherapieforschung mit Einbezug neuer Technologien.

simone.munsch@unifr.ch

 

Felicitas Forrer ist Psychologin, Doktorandin sowie psychologische Psychotherapeutin in Weiterbildung am Zentrum für Psychotherapie an der Universität Freiburg und am Lehrstuhl
für klinische Psychologie und Psychotherapie und befasst sich mit dem Zusammenhang zwischen Zurückweisungsempfindlichkeit und Essstörungen bei Jugendlichen.

felicitas.forrer@unifr.ch