Dossier

Frühling, Freiheit oder Fake?

Social Media: Vom Westen, für den Westen? Keineswegs. Der arabische Kulturraum pflegt eine ganz besondere – und einigermassen komplizierte – Beziehung zu Facebook, Youtube, Snapchat und Co. Was viel mit der Demografie in diesen Ländern zu tun hat. Aber nicht nur.

Im Oktober 2001 gingen die Menschen in den Philippinen auf die Strasse, um gegen den verhassten Präsidenten Joseph Estrada zu demonstrieren. Die Protestbewegung versammelte sich in der Epifanio de los Santos Avenue (EDSA) in Manila. Organisiert hatten sich die Menschen via SMS, sieben Millionen Mal soll innert weniger Tage die Nachricht «Go 2 edsa. Wear blk.» verschickt worden sein. Ist das der (vergessene) Beginn der Social Media-Revolutionen? Auf jeden Fall markiert es einen Medienwandel – der natürlich auch auf die Art und Weise rückwirkte, wie sich politische Bewegungen formieren. Die Geschichte vom Protest in Manila wird gern von Kritikern erzählt, welche die spezifische Bedeutung von Social Media für den Arabischen Frühling für vernachlässigbar halten. Jeder Generation ihr Messenger-Dienst, könnte man sagen, jeder Bewegung ihr sozialer Raum, sei er digital oder analog, real oder virtuell. Amir Dziri, der an der Uni Freiburg über arabisch-islamische Geistes- und Kulturgeschichte forscht und sich zunehmend mit Fragen der Digitalisierung auseinandersetzt, ist mit der Einschätzung allerdings nicht einverstanden. «Der Arabische Frühling hatte sehr wohl mit Social Media zu tun, ohne diese Art der digitalen Vernetzung hätte der Protest nie eine kritische Masse erreicht», glaubt Dziri. Er gesteht den digitalen Tools insofern einen unmittelbar «regimestürzenden Effekt» zu.

Sollte da also tatsächlich ein neuer Raum entstanden sein, in dem politische Umwälzungen möglich wurden? Das rührt an die grundsätzlichere Frage, was Social Media denn eigentlich ist. Versteht man Youtube, Facebook, Snapchat und Co. am besten als Medien, als Kanäle, über die Inhalte verbreitet werden? Oder eher als so etwas wie Stammtische, das heisst Räume, in denen man zusammenkommen und sich austauschen kann? Auch, um bestehende Ordnungen zu unterwandern?

 

Grundrecht: Social Media

Was man als theoretische Frage für Medienwissenschaftler abtun könnte, hat eine ganz konkrete rechtsstaatliche Ebene: nämlich die, welche Freiheiten in diesen Räumen gelten sollen und wer gegebenenfalls für Recht und Ordnung zu sorgen hat. In den USA zum Beispiel gab es schon einige Zensurdebatten rund um Twitter und Co., die auch mal vor Gericht endeten. Gilt die unbedingte Meinungsfreiheit auch in diesen digitalen Räumen? Oder dürfen Social Media-Betreiber ganz selbstverständlich «moderierend» eingreifen? Man denkt da auch an Internetforen wie 4chan, die ein inhaltliches «Anything goes» zelebrieren und – nicht überraschend – zusehends zum Tummelplatz für Verschwörungstheoretiker und White Supremacists verkommen.

Der Netztheoretiker Felix Stalder von der Zürcher Hochschule der Künste (ZhdK), der unlängst mit «Kultur der Digitalität» ein kleines Standardwerk zu den neuen digitalen Wirklichkeiten vorgelegt hat, hält die Raummetapher auf jeden Fall für treffender. Entscheidend sei es allerdings zu verstehen, dass es sich dabei um «stark fragmentierte Räume» handelt, für ganz verschiedene Akteure – und mit entsprechend diversen Interessen. Die Attraktivität dieser neuen Räume hat seiner Ansicht nach auch mit einer «Krise der etablierten Institutionen» zu tun, gerade im arabischen Raum. Social Media helfe dabei, Weltsichten zu validieren, sich der eigenen Position in der Welt zu vergewissern. Darüber hinaus böten diese digitalen Treffpunkte aber auch konkrete Handlungsanweisungen und einen Tauschplatz für Ressourcen.

Handlungsanweisungen? Ressourcenreservoir? Solches muss für einen staatlichen Sicherheitsapparat allerdings alarmierend klingen. Dementsprechend ist die Zensurfrage in Regimes, die gerade erlebt haben, wie mächtig solche aus dem Digitalen kommenden Bewegungen werden können, ein noch viel heisseres Eisen. Insgesamt dürfte der «Freiheitsbereich» der Menschen in arabischen Ländern im Zuge der digitalen Transformation aber grösser werden, glaubt Dziri. Da sei derzeit ein Aushandlungsprozess im Gang, dessen Ausgang schwer abzusehen sei. Das gilt allerdings auch für die Frage, wer sich dieser neuen Freiheiten bedient. So wurde die Geschichte im Westen ja auch gern erzählt: Social Media als unverhoffte Demokratisierungsmassnahme, als politischer Selbstläufer. Ein paar Jahre später ist allerdings klar: So einfach ist die Sache nicht. Eine Pluralisierung habe es sicher gegeben, meint Stalder. Aber daraus folge nicht zwingend auch eine Demokratisierung. Das oppositionelle Moment sei zentral: «Leute finden sich zusammen, um sich gegenseitig zu bestätigen: es ist schlecht wie es ist.» Diese Ablehnung gehe aber quer durchs politische Spektrum. Das bestätigt auch Dziri, der noch nicht sicher ist, ob progressive oder konservative Kräfte am meisten profitieren. Die Obrigkeiten sind jedenfalls gewarnt. Eine radikale Kontrolle wie in China kann Dziri sich für den arabischen Raum allerdings nicht vorstellen, und das aus einem einfachen Grund: Viele Menschen empfänden Social Media inzwischen «als Grundrecht, das sie nicht mehr zur Disposition stellen würden». Eine zu starke Regulierung würde bloss zu neuen Protesten führen – Politikwissenschaftler nennen das Phänomen «the dictator’s dilemma».

 

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Digitale Love Story

Was der Westen bei der ganzen Aufregung rund um den Arab Spring nämlich ein wenig übersehen hat: Die arabische Welt und Social Media – das ist eine speziell innige Liebesgeschichte. Was da vor rund zehn Jahren im Silicon Valley für amerikanische Collegestudenten entwickelt worden ist – so richtig scheint es einen Nerv im arabischen Raum zu treffen. Während der Westen also noch über Für und Wider der digitalen Möglichkeiten debattiert, übertrumpfen sich die Länder im Mittleren Osten regelmässig mit Rekordzahlen in Sachen Social-Media-Nutzung. Beispiel Saudi-Arabien: das Land hat die weltweit höchsten Nutzerzahlen für Youtube and Twitter – stattliche 71 beziehungsweise 66 Prozent der Internet-Nutzer sind auch auf diesen Plattformen aktiv. Saudis sind auch verrückt nach Snapchat: Sie stellen fast 10 Prozent der registrierten User, ziemlich eindrücklich, bei einem Anteil an der Weltbevölkerung von nicht einmal einem halben Prozent. Da erstaunt es auch nicht, dass Saudi-Arabien mit einigen ungewöhnlichen Social-Media-Stars aufwartet, zum Beispiel dem smarten Welterklärer Ahmad Al Shugairi, der auf 18 Millionen Twitter-Follower kommt oder dem je nach Einschätzung konservativen bis extremistischen Prediger Muhammad Al-Arifi, der sogar 21,5 Millionen Follower hat und den die BBC mal einen «Brad Pitt des Klerus» nannte.

Gerade Saudi-Arabien legt eine Interpretation des Social-Media-Phänomens als «Raum» nahe: In der Realwelt sind die Geschlechter durch eine Vielzahl sozialer Konventionen getrennt, im digitalen Raum mischen sie sich ganz unbefangen. So dass manche Kleriker auch schon gefordert haben, geschlechtergetrennte Chaträume durchzusetzen. Der Kommunikationsexperte Damian Radcliffe, der alljährlich einen «Social Media in the Middle East»-Report herausgibt, gibt allerdings zu bedenken, dass solche Versuche der Regulierung für Nutzer ebenso schwer zu interpretieren seien wie für die Behörden durchzusetzen. Beispielsweise sind arabische Gesetzesexperten derzeit noch ziemlich unschlüssig, wer bei einem Retweet zu belangen ist. Mit anderen Worten: Man bewegt sich da in ausgedehnten Grauzonen, die viele Freiheiten zulassen. Und das gilt eben nicht nur für politische Freiheiten, sondern auch für persönliche – womit wir bei der Demografie wären: Die Bevölkerung ist in vielen arabischen Ländern ausgesprochen jung: Beispielsweise liegt das Durchschnittsalter in Ägypten bei rund 24 Jahren (gegenüber 42 Jahren in der Schweiz). Das erklärt die Social-Media-Affinität natürlich zu einem guten Teil. Dazu kommt laut Dziri noch eine soziokulturelle Ebene: die starke kommunikative Dynamik, das Pragmatische, die Alltagsnähe, alles Eigenschaften, die bestens zum zum arabischen «Charakter» passten.

Auch Radcliffe nennt diese Alltagsnähe als wichtigen Unterschied bei der Social-Media-Nutzung im Westen und in der arabischen Welt. Er macht ein unglaublich dynamisches Ökosystem aus, aus dem auch immer wieder Innovationen hervorgehen. Beispielsweise laufe der Online-Handel in der Region sehr oft auf Plattformen, die dafür gar nicht designt wurden, aber mangels Alternativen sehr pragmatisch zweckentfremdet werden. So würden etwa in Marokko viele Waren via Whatsapp-Gruppe verkauft, weil der Service so simpel und niederschwellig funktioniert.

So weit so einleuchtend. Aber dann stutzt man doch ein wenig. Eine – natürlich auch ökonomische – Erfolgsgeschichte amerikanischer Produkte, ausgerechnet in Gesellschaften, die doch gleichzeitig einen robusten Antiamerikanismus pflegen? Dziri sieht darin nicht unbedingt einen Widerspruch: Die arabische Kultur sei, auch in ihrer konservativen Auslegung, ungemein technikaffin. Und da wird es dann noch einmal richtig interessant. Denn Dziri hat eine kühne, aber im Kontext wunderbar schlüssige These parat, die die spezielle Liebesgeschichte noch einmal anders erklärt, nämlich via Religion und Buchkultur: «Social Media ist eine Fortsetzung des Alten, was die Tradierung von religiösem Wissen angeht. Die arabische Welt hat eher ein Unbehagen gegenüber dem Buch als gegenüber Social Media, die viel Ähnlichkeit mit der oralen Tradition haben.» Theologie werde im Islam mit einer Art «Rechtsgutachten-Denken» betrieben: Es sei ein kontinuierliches Frage-Antwort-Spiel zwischen Gläubigen und Geistlichen. Diese Art der Vermittlung religiösen Wissens rufe geradezu nach digitalen Medien, weshalb auch moderne Formen wie E-Fatwas (in spezialisierten Foren oder auch gleich via Twitter) «boomen ohne Ende».

 

Raum der Freiheit

Insgesamt ist da also – insbesondere im konservativen Teil der arabischen Gesellschaft – ein eigentlicher Technik--Opportunismus am Werk, den man im Westen kaum kennt. Tatsächlich hat man es schon oft gelesen, wie professionell die Social-Media-Manager von Gruppen wie dem IS oder den Taliban operieren, wie genau sie Bescheid wissen über die Wirksamkeit von Youtube-Clips und wie effizient sie die neuen digitalen Möglichkeiten für ihre Sache nutzen. Fehlt eigentlich nur noch ein «halal»-Angebot aus eigener Küche. Aber da spielt wohl wieder der Pragmatismus: Wenn es schon ein funktionierendes Angebot gibt, dann braucht man dasselbe ja nicht noch einmal zu bauen, stattdessen optimiert man es für die eigenen Bedürfnisse – auch dank einer stattlichen Zahl von Software-Entwicklern aus der Region, die für die grossen amerikanischen Firmen arbeiten.

Apropos eigene Bedürfnisse: Man hat bei Facebook mal nachgefragt – natürlich ohne eine Antwort zu bekommen –, ob es womöglich kulturelle Unterschiede bei den Grundeinstellungen gibt, ob das Facebook-Erlebnis im arabischen Raum also ein etwas anderes ist. Denn bei aller Affinität – es gibt auch Unterschiede, was die Nutzung angeht. So sind User in arabischen Ländern normalerweise sehr viel zurückhaltender, was Einblicke in ihre Privatsphäre angeht. Die Nutzung eines Pseudonyms ist viel verbreiteter als bei uns, zudem werden viele Accounts nur passiv geführt: nicht um eigene Inhalte zu teilen, sondern um anderen zu folgen. Insgesamt seien die Nutzer im Mittleren Osten «less trigger happy», wie es Damain Radcliffe nennt. Was schwer zu übersetzen ist, aber etwa meinen könnte, dass in diesen Kulturen ein mündigerer Umgang mit den Aufmerksamkeitsfressern herrscht, dass man den Click-Fallen und Scroll-Verlockungen weniger erliegt. Vielleicht resultiert ja tatsächlich ein bewussterer Umgang mit Kanälen, wenn sie freie Ausdrucksmöglichkeiten schaffen, wie sie diese jungen Leute vorher überhaupt nicht gekannt hatten? Es wäre einen genaueren Blick wert. Darin sieht Radcliffe überhaupt den interessantesten Effekt der ganzen Arab Spring-Aufregung: Es hätte die Welt-aufmerksamkeit auf eine Region gelenkt und ein Interesse an dieser Jugend geweckt, die sich womöglich emanzipierter zeigt als wir für möglich gehalten hätten.

Wird sich diese Jugend ihre neu gewonnenen Freiheiten also je wieder nehmen lassen? Tatsächlich werden Blockaden immer unrealistischer, auch wenn manche Länder wie zum Beispiel die Türkei immer noch hin und wieder zur Radikallösung greifen und die beliebtesten Social Networks kurzerhand sperren – allerdings immer nur vorübergehend. Der Trend wird wohl eher Richtung Überwachung gehen: Als probates Mittel nennt Radcliffe automatisierte Sentiment Analyse-Systeme, die diesen neuen Raum diskret scannen und gewissermassen den Puls der Diskussionen spüren. Die den nächsten Volkszorn also schon mitbekommen, bevor er richtig zu brodeln beginnt, und dem Staat erlauben, gezielt zu handeln. Dass sich eine ganze Generation digital exponiert, könnte also zur Folge haben, dass die Diktatoren, die eben noch im Dilemma waren, nun umso fester im Sattel sitzen. Und die Zügel, trotz gewährter Freiheiten, nach wie vor fest in der Hand haben.

 

Unser Experte Amir Dziri wurde 1984 in Tunis geboren und ist in Deutschland aufgewachsen. Er forscht zu religiösem Denken, der Geistes- und Kulturgeschichte des Islams und religions- und kulturphilosophischen Fragen im Horizont gegenwartsrelevanter Aktualität. Von 2011 bis 2017 wirkte er am Zentrum für islamische Theologie der Universität Münster an dessen institutioneller und fachlich-akademischer Etablierung mit. Seit September 2017 hat er die erste Professur für islamische Studien in der Schweiz und ist Direktor des Schweizerischen Zentrums für Islam und Gesellschaft der Universität Freiburg.

amir.dziri@unifr.ch