Dossier

Me, my Selfie & I

Dominicq Riedo bildet angehende Lehrerinnen und Lehrer aus – auch im Umgang mit Social Media. Ein Gespräch über Kasperli, Likes und die dritte Wirklichkeit.

Dominicq Riedo, wie gehen Schülerinnen und Schüler mit Social Media um?

Ungezwungen und zuweilen auch unbedacht. Die sozialen Medien sind Teil ihrer Realität, ihres Alltags. Dank Social Media bleiben die Jugendlichen auf einfache Art miteinander in Kontakt. Es kann aber auch stressig sein, sich stets zu überlegen, was die Freunde gerade tun oder gesagt haben. Der Freundschaftsbegriff hat sich übrigens praktisch nicht verändert, egal wie viele «Freunde» man in den sozialen Netzwerken hat. Das können auch die Jungen sehr gut differenzieren.

 

Können sie auch differenzieren, was real ist?

Das ist schwieriger. In der Medienforschung wird das Modell der drei Wirklichkeiten verwendet. Die primäre Wirklichkeit ist die Welt, in der wir leben. Aufgrund unserer Erfahrungen konstruieren wir uns aus der medialen, sekundären Wirklichkeit eine dritte, subjektiv wahrgenommene Wirklichkeit. So haben die Jugendlichen heute das Gefühl, jeder könne mit selbstgebastelten Filmchen aus dem Wohnzimmer Youtube-Star werden. Die beliebtesten Berufsziele der 11–13-Jährigen sind Youtuber oder Influencer. Und eine Studie von Twitter zeigt, dass viele Jugendliche Influencern fast wie ihren engsten Freunden vertrauen.

 

Zentrales Element von Social Media ist ja der «Like». Ist diese permanente Bewertung für die Jugendlichen nicht ein Stress?

Doch, absolut. Dadurch haben sie auch Mühe, abzuschalten. Da ist man in den Ferien in den Alpen und sieht: die ist in der Karibik, jener in Disneyland. Also posiert man auf Fotos, um auch gesehen zu werden und «Likes» zu erhalten. Das beeinflusst die Qualität des Hier-Seins. Neulich mit meiner Familie in Irland konnten wir im Pub die jungen Irinnen und Iren beobachten, wie sie Selfies machten, sie hochluden und anschliessend gegenseitig bewerteten. Die Jugendlichen von heute überlegen ständig, ob etwas Selfie-tauglich ist. Dies ist die Welt, in der sie leben. Es ist bedeutend schwieriger geworden, in der primären Wirklichkeit zu erleben, was hier und jetzt gerade passiert.

 

Social Media verbinden nicht nur: Über Likes und Nicht-Likes findet auch Ausgrenzung statt.

Dass jemand beispielsweise nicht zu einer Party eingeladen wurde, gab es schon früher. Was heute im Klassen--Chat geschrieben wird, ist aber explizit nachlesbar und bekommt dadurch ein grösseres Gewicht. Mir ist kürzlich ein Fall begegnet, wo sich Schülerinnen und Schüler über ein Mädchen aufgeregt haben. Sie hat sich vom Klassenchat abgemeldet, worauf dann Kommentare im Stil von «toll, ist die draussen» und andere blöde Witze folgten. Nachdem eine Freundin ihr die Kommentare gezeigt hat, informierte sie die Lehrperson. Diese hat die Chance ergriffen, um mit den Betroffen ihr Verhalten in Social Media zu thematisieren. Dank dieser Reaktion und der gemeinsamen Gespräche haben am Ende alle von der Episode profitiert.

 

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Gewisse Eltern sind bemüht, jegliches Bildmaterial der Kinder in sozialen Medien zu vermeiden.

Das ist etwas naiv. So ein Verbot lässt sich allerhöchstens in den ersten Lebensjahren durchziehen. Ab den ersten Geburtstagspartys wird es schon schwieriger werden. Grundsätzlich können vier Reaktionsweisen auf neue Medien beobachtet werden: Schützen, filtern, reflektieren oder ausprobieren. Die Kinder haben keine Berührungsängste. Hier muss die Schule ansetzen: Zum Beispiel Medien selber produzieren und kritisch reflektieren. Man muss hinter die Kulissen schauen und sich überlegen: Welchen Ausschnitt der Wirklichkeit zeige ich? Und was bewirke ich damit?

 

Ein weiteres Problem sind Fake News.

Auch damit umzugehen müssen die Schüler lernen. In der Regel geschieht das nicht von selbst, sondern sie brauchen Erwachsene, die sie dazu anleiten. Früher haben die klassischen Medien die Nachrichten der Welt für uns gefiltert. Heute sind wir viel stärker gefordert, selbst kritisch zu prüfen, was wahr ist und was nicht. Das kann auch eine Chance sein, bewusster und mit kritischerem Blick durch die Welt zu gehen.

 

Auf diesen Filter prasselt aber auch vieles, das gerade jüngere Schüler überfordert.

Gewalt ist allgegenwärtig und wird z.B. im Kino oder in Videospielen kunstvoll inszeniert. Sexualität wird stärker tabuisiert. Obwohl die meisten Jungen bereits in der Pubertät mit pornographischen Inhalten konfrontiert werden, kann von einer «Generation Porno» nicht die Rede sein. Wir können die Kinder vor Belastendem nicht komplett schützen. Ausserdem gibt es kein Universalrezept, denn alle Kinder sind verschieden. Ein kleines Beispiel: Mit sechs Jahren gingen mein Patenkind und ihre Zwillingsschwester ins Kasperli-Theater. Als Räuber Hotzenplotz auftauchte und fragte, wo der Kasperli sei, hat die eine Schwester ihm das Versteck verraten, während die andere zu weinen anfing. Überforderung gehört zum Älterwerden. Wir Erwachsenen müssen den Kindern in solchen Momenten tragfähige Beziehungen bieten, damit sie mit ihren Ängsten und Sorgen zu jemandem gehen können.

 

Jetzt haben wir viel über die Probleme sozialer Medien gesprochen. Wo sehen Sie denn die Chancen?

Lernen ist ein sozialer Akt. Wenn Schülerinnen und Schüler sich Zusammenhänge gegenseitig erklären, sich gemeinsam überlegen, was Prüfungsaufgaben sein könnten und diese dann auch lösen, dann ist das sehr lernwirksam.

 

Und wird das von den Schulen gefördert?

Der Kanton Freiburg hat gerade auf das Schuljahr 2019/2020 die Weisung herausgegeben, dass soziale Medien im Unterricht nichts zu suchen haben. Für den Lernaustausch bieten die Schulen aber eigene Plattformen wie Friportal an, die ähnliche Dienstleistungen erbringen.

 

In Frankreich hat Präsident Macron Handys an den obligatorischen Schulen verboten.

Solche Radikallösungen scheinen einfach, ob sie sinnvoll sind, ist eine andere Frage. Ich plädiere dafür, dass man einen Mittelweg sucht. Und dabei darf man sich auch eingestehen, dass dieser nicht so einfach zu finden ist. Hilfreich ist, wenn klare Regeln gelten. So hat ein Lehrer einen Klassenchat eingerichtet, in dem nur er schreiben darf. Alle erhalten so die wichtigsten Informationen aus erster Hand. Bei einer anderen Lehrperson war klar: Am Vorabend einer Prüfung kann man zwischen fünf und sechs Uhr Fragen stellen. Das hat so gut funktioniert, dass die Schüler diesen Chat weiterverwendet haben, um sich gegenseitig Fragen zu beantworten.

 

Wo stehen Schule und Social Media in zehn Jahren?

Wenn ich das wüsste! Die Schule ist ja relativ träge – und ich weiss selbst nicht: ist das gut oder schlecht? Die technische Entwicklung wird rasant weitergehen. Die Geräte werden kleiner, schneller, allgegenwärtiger – und die Schule muss die Kinder auf diese Zukunft vorbereiten. Gleichzeitig wird der technologische Fortschritt vielleicht auch überschätzt. So glaubte man vor 20 Jahren, es werde wegen der Digitalisierung künftig weniger Lehrpersonen brauchen. Doch Lernen beruht auf sozialen Interaktionen und Beziehungen bleiben dafür zentral. Das wird sich alles nicht so schnell verändern.

 

Ihr Rat an (überforderte) Eltern?

Netflix-Chef Reed Hastings sagte kürzlich, der grösste Konkurrent für sein Unternehmen sei nicht Amazon, sondern der Schlaf. Damit wird deutlich, dass Aufmerksamkeit heute eines der wertvollsten Güter darstellt. Und dazu gehört, dass wir Kinder und Jugendliche anleiten sollten, auch mal «abzuschalten».

 

Unser Experte Dominicq Riedo ist Lektor LDM für Allgemeine Didaktik und Mediendidaktik am Zentrum für Lehrerinnen und Lehrerbildung der Universtität Freiburg (ZELF). Er war Primarlehrer, Heil­pädagoge und hat über die Langzeitwirkung schulischer Integration dissertiert. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Medien im Unterricht, e-Learning, Videoannotationen, Kommunikation im Schulumfeld und Lernen mit Video.

dominicq.riedo@unifr.ch