Dossier
Hinter der Wand
Stellen Sie sich vor: Sie stranden ungewollt und abgeschnitten von der Zivilisation in einem Jagdhaus in den Bergen. Ein Alptraum?
Es ist Nachmittag, die Abenddämmerung bricht bereits herein, und die namenlose Ich-Erzählerin sitzt an einem kalten Novembertag in der Stube eines Jagdhauses in den Bergen, um im Schein der Lampe auf alten Kalenderblättern ihren Bericht niederzuschreiben, schonungslos, ohne Beschönigungen. Denn, wie sie bekundet: «Alle, denen zuliebe ich mein Leben lang gelogen habe, sind tot.» Es folgt die Niederschrift, die nicht aus Freude am Schreiben, sondern als Akt der Selbstvergewisserung geschrieben wurde. Der Bericht zeugt vom Leben der Namenlosen in den Bergen – genauer gesagt von ihrem Leben hinter «Der Wand».
Verkannte Autorin?
Der Roman «Die Wand» (1963) gilt heute als das bekannteste Werk der österreichischen Schriftstellerin Marlen Haushofer (1920–1970). Haushofer selbst bezeichnete «Die Wand» als ihren «grossen Wurf», aus einem Stoff, den man nur einmal in Leben finde. Heute ist der Roman zwar nicht vergessen, aber doch – wie der Rest ihres Werkes – weitgehend unbekannt. Bis heute haftet dem Werk der Schriftstellerin das Stigma «altbackenen Hausfrauenliteratur» an, an dem auch die Wiederentdeckung ihres Oeuvres in den 1980er Jahren nichts ändern konnte. Auch die eher verhaltenen Reaktionen auf das Doppeljubiläum der Schriftstellerin 2020 – hundertster Geburtstag und fünfzigster Todestag – zeigen: Einen ihrem Werk gebührenden Rang nimmt Marlen Haushofer, Zeitgenossin von Ingeborg Bachmann (1926–1973) und Sylvia Plath (1923–1963), im Bewusstsein der Öffentlichkeit bis heute (noch) nicht ein.
Die Lektüre von Haushofers Roman «Die Wand» fordert den Leser heraus. Es handelt sich um ein Werk, das einen bleibenden Eindruck hinterlässt, das zum Nachdenken anregt. Der Roman ist eine «Mischung von Dämonie und Idylle», die den Mut hat, sich nicht festzulegen, sondern bewusst zwischen Wunschtraum und Schreckensszenario zu oszillieren. Feinfühlig balanciert der Bericht der Ich-Erzählerin zwischen beiden Polen, ohne an einer Stelle in ein Extrem zu verfallen. Die Stärke des Romans liegt darin, Ambivalenzen auszuhalten, und so einer Vereindeutlichung der (Erzähl-)Welt zu entgehen.
Allein
«Die Wand» setzt mit dem Einbruch des Unbegreiflichen in die Erzähl-Welt ein. Die vierzigjährige Protagonistin, eine verwitwete Städterin, war der Einladung eines befreundeten Ehepaares, Luise und Hugo Rüttlingers, gefolgt, gemeinsam das Wochenende in der Jagdhütte der Gastgeber zu verbringen. Das Ehepaar besuchte am Abend nach der Ankunft die Gaststätte im Tal, während sie den Abend allein, nur in Gesellschaft des Jagdhundes Luchs, in der Hütte verbrachte. Als sie am nächsten Morgen die Betten ihrer Gastgeber leer vorfand, beschloss sie, im Tal nach dem Ehepaar zu suchen. Doch über Nacht war am Ende der Schlucht, in der das Jagdhaus liegt, eine unsichtbare Mauer erschienen, lautlos, ohne Vorwarnung und ohne Grund. «Verdutzt streckte ich die Hand aus und berührte etwas Glattes und Kühles: einen glatten kühlen Widerstand an einer Stelle, an der doch gar nichts sein konnte als Luft. Zögernd versuchte ich es noch einmal, und wieder ruhte meine Hand wie auf der Scheibe eines Fensters.»
Empörung macht sich in der Erzählerin breit: «Derartige Dinge geschahen einfach nicht, und wenn sie doch geschahen, nicht in einem kleinen Dorf im Gebirge, nicht in Österreich und nicht in Europa». Doch bleiben ihr nichts als Spekulationen über das Auftauchen der Wand, wie sie die Mauer bald nach ihrem Erscheinen nennt, denn, wie die Erzählerin bemerkt, «irgendeinen Namen musste ich dem Ding ja geben». Hinter der Wand wähnt sie eine neue Vernichtungswaffe, deren Geheimhaltung einer Grossmacht bis zu ihrem Einsatz gelungen war. Wie erstarrt scheinen die wenigen Menschen, die sie auf den Almen hinter der Wand erblickt. «Ein Wissenschaftler, ein Spezialist für Vernichtungswaffen, hätte wahrscheinlich mehr herausgefunden als ich», wähnt sie, «aber es hätte ihm wenig genützt. Mit all seinem Wissen könnte er nichts anderes tun als ich, warten und versuchen, am Leben zu bleiben.»
Überleben in der Bergwelt
Spekulationen über den Ursprung der Wand erweisen sich schnell als Luxus. Denn die Empörung über das Erscheinen der Wand weicht schnell einer anderen Erkenntnis: «Wir waren in eine schlimme Lage geraten, Luchs und ich, und wir wussten damals gar nicht, wie schlimm sie war.» Die Lage der Protagonistin nach dem Erscheinen der Wand, welche sie als vermeintlich einzige Überlebende der Katastrophe in der Bergwelt einsperrt, ist von Anfang an prekär. Allein in einer Hütte in den Bergen, ohne landwirtschaftliche Erfahrung oder handwerkliches Geschick, gilt es nun, trotz widriger Umstände am Leben zu bleiben. Schnell begreift sie, dass die Vorräte, die Hugo Rüttlinger, ein Mann mit Hang zur Hypochondrie, im Jagdhaus gehortet hat, endlich sind. Die Erzählerin bekennt: «Dass ich überhaupt noch am Leben bin, verdanke ich nur Hugos leichten Absonderlichkeiten.» Notdürftig eignet sie sich erforderliches Grundwissen zum Überleben an, als hilfreich erweisen sich vor allem die auf der Rückseite der Kalenderblätter abgedruckten Bauernregeln. Doch die Landwirtschaft in den Bergen ist harte Arbeit, und nicht alle Vorräte sind ersetzbar. Auf dem Tagesplan der Protagonistin stehen nun Aufgaben wie «Holz hacken, Erdäpfel ernten, Acker umstechen, Heu aus der Schlucht holen, die Strasse richten und das Dach ausbessern.»
Verantwortung trägt die Erzählerin aber nicht nur für sich selbst, sondern für auch für ihre Tiere, zu denen neben dem Jagdhund Luchs bald auch eine Kuh, ein Stier, und mehrere Katzen zählen. Jede Fehlentscheidung, jede Erkrankung kann das Ende der kleinen Überlebensgemeinschaft bedeuten. Die Sorge um das Überleben der Gemeinschaft wird zum allesbestimmenden Handlungsmovens der Protagonistin. Für die Sicherheit ihrer Tiere ist sie sogar bereit, sich von der Menschheit loszusagen: Sie tötet den einzig anderen Überlebenden, einen Mann, der eines Tages auf der Sommeralm erschien, und ihre Tiere angriff. Luchs und Stier sterben bei dem Überfall.
Im falschen Film
«Geburt, Tod, die Jahreszeiten, Wachstum und Verfall», Konstanten des Lebens, die vom «pausenlosen Dröhnen und Flimmern» der Zivilisation verdeckt werden, so beklagt die Erzählerin, bekommen für sie eine neue Bedeutung. «Durch die Wand wurde ich gezwungen, ein ganz neues Leben zu beginnen», gesteht sie, und bekundet mit Blick auf ihr Leben in der Einsamkeit der Berge: «Ich möchte nicht sagen, daß dies die einzige Art zu leben ist, für mich ist sie aber gewiss die angemessene.» Fremd in der Welt und entfremdet von ihrem Selbst habe sie sich früher gefühlt, bevor die Wand erschienen ist. Dafür findet die Erzählerin ein sprechendes Bild: «Manchmal erkannte ich meinen Zustand und den Zustand der Welt ganz klar, aber ich war nicht fähig, aus diesem unguten Leben auszubrechen. Die Langeweile, unter der ich oft litt, war die Langeweile eines biederen Rosenzüchters auf einem Kongress der Autofabrikanten. Fast mein ganzes Leben lang befand ich mich auf einem derartigen Kongress, und es wundert mich, dass ich nicht eines Tages vor Überdruss tot umgefallen bin.» Erst die Wand und das Leben in den Bergen habe es der Protagonistin ermöglicht, der Entfremdung zu entgehen und Eigentlichkeit zu leben.
Sinnbildliche Wand
Eben das war auch ein zentrales Thema im Leben von Marlen Haushofer, die Mühe hatte, sich mit den starren Rollenbildern der Nachkriegszeit zu arrangieren, und die Arbeit als Schriftstellerin und die Pflichten einer Hausfrau übereinzubringen. In einem Interview erläuterte die Autorin zum Motiv der Wand: «Aber, wissen Sie, jene Wand, die ich meine, ist eigentlich ein seelischer Zustand, der nach aussen hin plötzlich sichtbar wird. Haben wir nicht überall Wände aufgerichtet? Trägt nicht jeder von uns eine Wand, zusammengesetzt aus Vorurteilen, vor sich her?» Vor dem Hintergrund fällt es nicht schwer, die Chiffre der Wand als Grundzustand des Menschen zu verstehen, und Marlen Haushofers Roman mit Texten von Franz Kafka und Albert Camus zu vergleichen.
Weiterführende Literatur
Sehenswert ist auch die Romanverfilmung (2012) von Julian Pölsler, mit Martina Gedeck in der Hauptrolle.
Unsere Expertin Caroline Gluchowski ist Juniorwissenschaftlerin am Departement für Sprachen und Literaturen. Aktuell untersucht sie unter anderem die Bedeutung der Gattung «Anekdote» in der Kunstgeschichte.