Dossier

Hippe Bergwelt

Diese Luft. Diese Ruhe. Diese Aussicht! Der Berg ruft – und sie kommen. Aus London, Zürich, Paris oder auch Madrid und nehmen ihr Leben gleich mit. Gespräch mit Sozial­anthropologin Andrea Friedli.

Andrea Friedli, Sie haben sich mit den Walliser Dörfern Verbier und Zermatt befasst. Welches war Ihr Fokus?

Ich habe eben die Feldforschung zu einem Projekt abgeschlossen, in dem wir verschiedene Bergdörfer und deren Bevölkerungsgruppen beleuchten. Zwei Orte im Wallis und zwei Dörfer in den Tälern der spanischen Pyrenäen. Ich war zuständig für die beiden Walliser Täler, also das Mattertal mit Zermatt und das Val de Bagnes mit Verbier. Bergregionen werden ja häufig als etwas hinterwäldlerisch angesehen. Wir möchten aufzeigen, dass gerade die beiden Orte Zermatt und Verbier sich stark entwickelt und verändert haben, dass Transformationen stattfinden und die Globalisierung die Berge genauso betrifft wie die Städte.

Städter, die in die Berge ziehen: Das klingt nach Ärger.

Es entstehen gewisse Spannungsfelder, ja. Da ist einerseits der bekannte Tourismus mit seinen positiven und auch weniger angenehmen Seiten. Dann gibt es die Zweitwohnungsbesitzer. Und je länger je mehr trifft man auf eine neue Wohnbevölkerung, die sich mehr oder weniger ständig dort niedergelassen hat. Diese Leute aber behalten ihren Bezug zur Stadt bei – dies hat uns interessiert.

In Bezug auf Zermatt oder Verbier scheint das Bild des archaischen Bergdorfs aber schon länger überholt.

So lange ist es gar nicht her, dass diese Orte noch richtige Bergdörfer waren. In Verbier ging der Tourismusboom erst in den 60er Jahren so richtig los, also in der Nachkriegszeit. Zermatt hat viel früher mit dem Tourismus begonnen, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden dort die ersten Hotels gebaut. Was natürlich auch mit der Erstbesteigung des Matterhorns zu tun hatte, die ja sehr spektakulär und dramatisch war. 1865 machten sich Engländer von Zermatt aus auf zur Erstbesteigung des Matterhorns und gleichzeitig wagten die Italiener von Italien aus das gleiche Unterfangen. Der Engländer war zuerst oben, allerdings verlor die Seilschaft beim Abstieg drei ihrer Mitglieder. Die Aufmerksamkeit der Medien war sehr gross – und lockte wiederum viele Engländer nach Zermatt. Diese Touristen entdämonisierten sozusagen die Berge und hoben deren schöne und auch romantische Seite hervor.

Weshalb gerade Verbier und Zermatt?

Wir haben die beiden Orte ausgewählt, weil gerade dort sehr schnelle Veränderungen zu sehen waren, auch grosse demografische Wandlungen. Wir sehen die Migrationsgruppe der Gastarbeitenden, die durch den Tourismus angezogen wurden; wir sehen die Einheimischen – gerade in Zermatt –, die noch sehr stark in den Traditionen verankert sind, wie etwa alteingesessene Hotelbetriebe. Dabei wurde der Tourismus vor allem von aussen angekurbelt, was zur Frage führte: Wer ist Gast? Wer ist Gastgeber?

Die Rollen verschieben sich?

In gewissen Situationen, ja. Man kann dieses Phänomen rund um den Globus beobachten, so etwa in Brasilien. Ausländische Surferinnen und Surfer, die an den Stränden Surfschulen eröffnen und damit vom Gast zum Gastgeber werden. Und mitunter auch Einheimische zum Gast werden lassen. In Zermatt etwa hat ein Gomser das erste Hotel gegründet.

Sind die beiden Dörfer in den Pyrenäen vergleichbar mit den beiden Walliser Dörfern?

Die Feldforschung dazu ist noch nicht ganz abgeschlossen. Aber ja, es sind beides auch Skiorte. Das Val d’Aran wird vor allem von einer Elite besucht, darunter auch die Königsfamilie. Auch in Verbier haben wir ja das englische Königshaus, das dort Urlaub macht und den englischen Tourismus antreibt. Im zweiten Tal der Pyrenäen, der Cerdanya, findet man vorwiegend Touristen aus Katalonien; das Dorf zeigt aber ähnliche Tendenzen wie Verbier und Zermatt: Einen immensen Anstieg im Winter und ein deutlich geringeres Touristenaufkommen im Sommer. Zermatt etwa hat 5500 Einwohnerinnen und Einwohner, die ständig dort leben und an Neujahr zählt das Dorf bis zu 30’000 Personen. Verbier zählt etwas über 3000 ständige Bewohnerinnen und ebenfalls um die 30’000 an Neujahr.

Der Titel der Studie lautet «In Bergregionen einheimisch werden». Gibt es ein Patentrezept dafür?

Es ist spannend zu beobachten, wie unterschiedliche «neue» Einheimische auch unterschiedliche Strategien entwickeln, um sich einheimisch zu fühlen. Der portugiesische Gastarbeiter etwa, der zu Bergen häufig keinen Bezug hat, sich aber sehr darum bemüht, die Sprache zu lernen. Wohingegen der reiche Engländer, der in Verbier ein Chalet kauft, mit sehr konkreten Vorstellungen dorthin zieht. Was auch damit zusammenhängt, dass es gerade in Verbier eine sehr grosse internationale Gemeinschaft gibt.

Ist Verbier ein Sonderfall?

Ja, Verbier sticht heraus. Es gibt dort eine internationale und sehr globalisierte Gemeinschaft. Man trifft Banker aus London, Steueranwältinnen aus Zürich, aber auch Künstlerinnen und Künstler – und alle haben spezifische Vorstellungen davon, was sie sich von der Berglandschaft versprechen. Sehr kosmopolitische Leute, die sich gerne auch offen zeigen, etwa wenn der Millionär mit dem Skilehrer ein Bier trinkt. Eine gebildete, weltoffene Gemeinschaft, die aber nicht merkt, dass ja der Tellerwäscher aus Portugal – wenn Sie das Klischee erlauben – nicht Teil hat an dieser illustren Runde. Gerade in Verbier finden grosse Events statt, etwa das Verbier Festival, das jeweils Namen von den ganz Grossen auf dem Programm hat, die dann natürlich auch in Luxuschalets vor Ort nächtigen. Dasselbe ist zu beobachten im Kunstbereich: Eine junge Anwältin aus Holland hat den Verbier Art Summit ins Leben gerufen, mit dem Ziel, ein «Davos für die Kunstwelt» zu schaffen. Auch gibt es neuerdings Co-working-Spaces, man spricht von einer sogenannten creative class. Künstler, Architekten, Jungunternehmer, die zusammen eine Szene bilden, die einerseits sehr abgehoben ist, andererseits aber die Bergwelt als etwas Inspirierendes und Kreatives sieht, das über das Touristische hinausgeht. Diese Menschen leben fast ständig in Verbier, sie arbeiten von dort aus und jetten vielleicht einmal die Woche kurz nach London.

 

 Am Weissmies (VS), dahinter die piemontesischen Voralpen © marcovolken.ch

Werden diese Menschen zu Einheimischen oder nehmen sie die Orte ein?

Ich habe den Eindruck, dass besonders in Verbier verschiedene Arten der Migration stattfinden. Wir haben die gewählte Migration, eine Wohlstandsmigration, und es gibt jene, die nicht wegen der Bergwelt in die Berge ziehen, sondern aus wirtschaftlichen Gründen, weil sie dort einen Job finden. Von der zweiten Gruppe wird eher erwartet, dass sie sich anpasst als von Ersteren, die ja das Geld mitbringen. Trotzdem darf man der kreativ-kosmopolitischen Gruppe nicht unterstellen, dass sie sich diese Orte nur aneignet und sie formt. Diese Weltbürger beherrschen eine Art cultural fluency und sind gerne bereit, in eine andere Kultur einzutauchen.

Was zieht die Reichen und Schönen in die Berge?

Man beobachtet ja schon länger den Trend, aus der Stadt in rurale Gebiete zu ziehen, so auch in Italien oder Frankreich. Jene, die es in die Berge zieht, haben häufig durch den Sport bereits einen Bezug dazu. Sie suchen die bessere Luft, die schöne Aussicht, viele Sonnentage. Und vielfach bleiben sie nach einem Urlaub oder einer Saison als Skilehrer dort – weil es ihnen eben gefällt und weil sie es sich leisten können, ihren Wohnort zu wählen. Die Berge stehen auch als Sinnbild für die Flucht aus der Stadt. Weg vom Stress, vom Individualismus, dem Streben nach immer mehr. Gleichzeitig behalten diese Leute aber ihren Lebensstil bei – sie werden also nicht plötzlich Selbstversorger wie die Neo-Ruralisten.

Wird der Berg damit zum Luxusgut?

In Verbier und Zermatt trifft dies wohl zu. Dort lässt sich auch eine Gentrifizierung beobachten, das heisst, die Einheimischen sind häufig geneigt, ihr Land und ihre Immobilien zu exorbitanten Preisen zu verkaufen und selber ins Tal runter zu ziehen. Inzwischen zeigt sich diese Tendenz sogar in den umliegenden Dörfern.

Was für Auswirkungen hat diese Verdrängung auf die Dorfcharakter?

Man spricht dabei von alpiner Gentrifizierung. Diese zeigt sich beispielsweise in einem veränderten Erscheinungsbild der ansässigen Läden: So findet man in Verbier heute Kleiderboutiquen wie Zadig & Voltaire, das war vor 20 Jahren noch undenkbar. In einem grossen Hotel wurde gar ein Beachvolley-Strand installiert – mitten in den Bergen. Interessant ist aber auch, dass diese Lebensstile und Tendenzen auch eine gewachsene Aufmerksamkeit im Bereich des Umweltschutzes mitbringen. Die Neuzugezogenen machen die Gletscherschmelze zum Thema, sie lancieren Events zum Schutz des Klimas. Die Einheimischen kümmern sich weniger darum respektive sie haben eine andere Haltung dazu. Dieser Aktivismus kommt von den neuen «Einheimischen», weil die Alteingesessenen sich dies gar nicht erlauben können, da sie zu sehr vom Tourismus, den Zweitwohnungen und damit den Bergbahnen und Skipisten abhängen.

Die neuen Bergbewohner bringen also durchaus auch Positives mit sich.

Absolut. Und sie wollen auch die Traditionen bewahren. So etwa die Tradition der Kuhkämpfe im Unterwallis. Ich habe von Engländern gehört, die sich sogar Kühe kaufen! Auch habe ich mir sagen lassen, dass viele ausländische Einheimische wünschen, dass das Ortsbild mit Holzchalets gestaltet wird. Obwohl es diesen Stil vorher gar nicht gab. Wohnhäuser wurden traditionell eher aus Stein gebaut.

Was sagt der Bergführer dazu, der sein ganzes Leben in Verbier oder Zermatt verbracht hat?

Ich denke, wir haben auch von diesen «knorrigen» Bergführern ein etwas verklärtes Bild. Ich habe mit Bergführern gesprochen, die die Hälfte des Jahres im Himalaya oder sonst wo auf dem Globus verbringen. Auch die Bergführerwelt ist globalisiert. Was es aber sicher gibt, ist eine Art Stolz auf den eigenen Namen – mehr so in Zermatt als in Verbier –, der beispielsweise seit Generationen für ein bestimmtes Hotel steht. Dieses wird dann auch verteidigt. Oder es gibt jene, die wegziehen, weil sie den Hokuspokus nicht mitmachen wollen. Auf der anderen Seite gibt es sehr wohl auch Einheimische, die in den Neuankömmlingen eine Chance sehen. Die vielleicht selber auswärts studiert haben und sich über etwas internationales Flair freuen. Restaurantbesitzer, die sich im Kunstbereich engagieren und so dann auch davon profitieren – etwa im Rahmen eines erlesenen Apéros einer Vernissage. Aber die Einheimischen zeigen auch, wenn es genug ist. So sah man eine Zeit lang Sticker mit der Aufschrift «A Verbier, on parle français» – weil man sein Bier nicht auf Englisch bestellen wollte.

In Zermatt scheinen die Veränderungen weniger prägnant.

Ich habe mit einem britischen Skilehrer gesprochen, der sowohl in Verbier wie auch in Zermatt eine Skischule eröffnet hat. Dieser sagte mir, in Zermatt sei es schwieriger gewesen, ein Business aufzuziehen. Die Einheimischen wehren sich viel stärker dagegen.

Die Studie untersucht die Auswirkungen dieser demographischen Veränderungen in den beiden Walliser Bergdörfern. Warum der zusätzliche Vergleich mit Spanien?

Es gibt bereits ähnliche Studien in Italien und Frankreich, die auch dieses Phänomen der Wohlstandsmigration erforschten. Der zusätzliche Fokus auf die spanische Bergregion soll weitere Einblicke liefern, wie an verschiedenen Orten urbane Auswärtige in einer ruralen Gegend heimisch werden.

Was versteht man unter Wohlstandsmigration?

Der Begriff amenity migration wurden in den 50er und 60er Jahren geprägt, als man merkte, dass im Gegensatz zur Landflucht, die lange beobachtet wurde, nun plötzlich die ruralen Zonen wieder an Wert gewinnen, dass diese Lebensqualität geschätzt wird. Was in der letzten Zeit aber auch damit verbunden ist, den Bezug zur Stadt beizubehalten. Man geht davon aus, dass die Vermischung von Arbeit und Freizeit je länger je beliebter wird. Die Menschen wollen an einem schönen Ort arbeiten, als Pause kurz eine Joggingrunde einlegen. Und wenn das Wetter schön und der Schnee gut ist, rauf auf den Berg und halt am Abend weiterarbeiten. Die Flexibilität dieser neoliberalen Zeit wertet die Berge als Lebensort auf.

Gibt es Anstrengungen, um dieser neuen Bergbevölkerung Einhalt zu gebieten?

In gewissem Sinne schon. Ich denke da etwa an die Zweitwohnungsinitiative. Diese wurde aber vor allem von den ursprünglichen Einwohnerinnen und Einwohnern bekämpft. Weil gerade diese Menschen halt auch von den «neuen» Einheimischen wirtschaftlich abhängig sind. So konnten beispielsweise auch Schulen offen behalten werden, weil junge Familien in diese Bergdörfer zogen. Es gibt ja nicht nur die globalisierte Community, sondern durchaus auch Mittelstands-Familien, die dann vielleicht in ein Nachbardorf ziehen und ihre Kinder auf die öffentlichen Schulen schicken.

Wie reagieren die untersuchten Dörfer auf die Studie?

Die Verantwortlichen in den jeweiligen Gemeinden wissen natürlich von unserem Projekt und interessieren sich dafür, nicht zuletzt, weil sie selber mit Fragen des Zusammenlebens zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, mit der Gentrifizierung und auch mit intergenerationellen Beziehungen direkt konfrontiert sind. Bisher wurden solche Themen ja eher im urbanen Kontext diskutiert und man weiss entsprechend noch wenig darüber, wie sich die Situation in Berggebieten entwickelt. Auch arbeiten wir mit Partnerinstitutionen zusammen, die bereits in die lokale Politik eingebunden sind, und die auch an einem direkten Austausch, nicht zuletzt zwischen dem Wallis und den Pyrenäen, interessiert sind.

 

Das SNF-Projekt «Devenir local en zone de montagne: diversification, gentrification, cohabitation. Une comparaison Alpes suisses-Pyrénées espagnoles» steht unter der Leitung von Viviane Cretton, HES-SO Valais-Wallis und Andrea Boscoboinik, Universität Freiburg. Partnerinstitutionen sind das Centre régional d’étude des populations alpines – CREPA in Sembrancher, Wallis, sowie die Universita Rovira e Virgili in Tarragona, Spanien.

Unsere Expertin Andrea Friedli ist Sozialanthropologin und arbeitet als Lehrbeauftragte an der Uni­­versität Freiburg und als wis­sen­­­schaftliche Mitarbeiterin an der HES-SO Valais-Wallis. Ihre Forsch­ungs­schwerpunkte sind u.a. Migra­tion, Jugend und Zugehörigkeit. Im Projekt «Devenir local en zone de montagne» ist Andrea Friedli zuständig für den Forschungsteil in den zwei Tälern im Wallis (Mattertal und Val de Bagnes).

andrea.friedli@unifr