Dossier
Älter als die Gretchenfrage: Was kommt danach?
Was erwarteten die alten Hebräer vom Jenseits? Schlicht gesagt: Nichts! Die Unterwelt, die Scheol ist ein dunkler, feuchter Ort ohne wirkliches Leben, eine Art ins Riesenhafte projiziertes Grab.
Brecht muss realisiert haben, dass das, was er da geschrieben hat, gar nicht so unbiblisch ist (S.28). So finden sich in der alttestamentlichen Schrift Kohelet, auch Prediger genannt, die im 3. Jh. v. u.Z. entstanden sein dürfte, die Sätze: «Jeder Mensch unterliegt dem Geschick und auch Tiere unterliegen dem Geschick. Sie haben ein und dasselbe Geschick. Wie diese sterben, so sterben jene. Beide haben denselben Atem. Einen Vorteil des Menschen gegenüber dem Tier gibt es nicht. Beide sind Windhauch. Beide gehen an ein und denselben Ort. Beide sind aus Staub entstanden und beide kehren zum Staub zurück.» Nachdem Brecht dies bewusst geworden ist, hat er den Titel «Luzifers Abendlied» durch den sachlicheren «Gegen Verführung» ersetzt. Einen Vorteil dieser Beschränkung auf das Diesseits nennt Brecht, wenn er sagt: «Das Leben ist am grössten: Es steht nicht mehr bereit.» Schon der Apostel Paulus hat sich die Frage gestellt, warum er nicht gerne stirbt, wenn das Leben nach dem Tod doch so viel besser ist. Er beantwortet es im Brief an die Philipper mit der Begründung, dass ihn die Lebenden noch brauchen, u. a. damit er sie im Glauben bestärken kann. In der Geschichte von Adam und Eva wird der Tod gar als eine Strafedargestellt. Eigentlich sei den Menschen ewiges Leben zugedacht gewesen. Ein utopischer früherer Zustand wird der Wirklichkeit gegenübergestellt. Auch hier wird das Leben als Grösstes verstanden.
Im Zwischenreich
Für Hebräer und Hebräerinnen der alttestamentlichen Zeit noch bis zu Kohelet im 3. Jh. v. Chr. war es selbstverständlich, dass mit dem Tode alles zu Ende war. Das Leben war an den Leib gebunden. Solange der Körper noch existierte, führten die Verstorbenen ein Schattendasein. Man gab ihnen deshalb Grabbeigaben mit, die nebst ihrem realen zusätzlich einen symbolischen Wert hatten, wie etwa Wasserkrüge mit dem Wasser des Lebens oder Lampen, die das Licht des Lebens symbolisierten. Wenn der Körper ganz zerfallen und Platz für neue Tote notwendig war, hat man die Gebeine in eine Grube im hintersten Teil des Höhlengrabs geschoben. Das hiess dann «zu den Vätern versammelt werden». Wie wichtig der Körper für das Überleben war, zeigt auch die Verfluchung Moabs in Amos 2,1: «Weil Moab die Gebeine des Königs von Edom zu Kalk verbrannte, darum schicke ich Feuer gegen Moab.»
Ja zum guten Leben
Das Leben war aber nicht unter allen Umständen das Grösste. Wenn es von Krankheit, Schmerz und sozialer Ausgrenzung gezeichnet war, verfluchte man es und wünschte, nicht geboren zu sein. So geschieht das im Buche Hiob im Kapitel 3: «Und Hiob begann und sagte: Vergehen soll der Tag, an dem ich geboren wurde, und die Nacht, die sprach: Ein Junge wurde empfangen!» Auch der Prophet Jeremia, der für seine Botschaft angefeindet und bedroht wurde, wünschte sich den Tod.
Der Tod kann also besser sein als das Leben. In diesem Fall ist Suizid angebracht. So stürzt sich Saul, wie der Kampf gegen die Philister aussichtslos wird, in sein Schwert, um den Philistern nicht lebend in die Hände zu fallen.
Man konzentrierte sich also auf ein gutes Diesseits. Dazu gehören nach Kohelet Kap. 2 ein stattlicher Besitz, der kostbare Kleider, Sänger und Sängerinnen, eine intensive erotische Praxis, gutes Essen und Trinken im Kreis von Freunden erlaubt, wo man über das Leben, die Liebe, die Verpflichtungen etc. nachdenkt und diskutiert. Kohelets Weltauffassung entspricht der hellenistischen Symposionskultur des 3. Jh. v. u. Z. Diese wurde von einer Gruppe bekämpft, die in der Weisheit Salomos zu Worte kommt und die, in deutlicher Anspielung auf Kohelet, die ganz auf das Diesseits konzentrierte Sicht als Hedonismus verurteilt und eine vom Mittelplatonismus geprägte Sicht von Leben und Jenseits entwickelt. Die Sicht Kohelets wird polemisch und zu Unrecht als eine Haltung verstanden, die «den Bauch zum Gott macht». Der Wille, keinen Genuss zu verpassen, mache diese Menschen ungerecht. Sie würden den Armen unterdrücken und ausnützen. Für die Leute von der Art wie Kohelet sie schildert, sei «der Atem in unserer Nase ein Hauch und das Denken ein Funke, der vom Schlag des Herzens entfacht wird ... Unsere Zeit geht vorüber wie ein Schatten. Unser Ende wiederholt sich nicht; es ist versiegelt und keiner kommt zurück.» Die Weisheit Salomons hält das für einen grundlegenden Irrtum. Nach ihr hat Gott den Menschen als sein Bild zur Unsterblichkeit geschaffen. Vorausetzung für das ewige Leben ist ein gerechtes, gottesfürchtiges Leben.
Blick hinüber
Die Anfänge der Vorstellung eines positiven Jenseits im Judentum lassen sich auf das Jahr genau datieren. 167 v.u.Z. versuchte Antiochus Epiphanes IV. zur Strafe für einen Aufstand das Judentum zu reformieren. Es ging nicht darum, wie das 1. Makkabäerbuch es darstellt, ihm eine neue Religion aufzuzwingen und den Glauben an den einen und einzigen Gott zu verbieten. Es ging vielmehr darum, jene Elemente zu beseitigen, die den Juden den Verkehr mit Nichtjuden erschwerten, wenn nicht verunmöglichten, allen voran die Speisegebote, dann aber auch den Sabbat und die Beschneidung. Antiochus liess einige junge Männer hinrichten, die sich diesem Ansinnen widersetzten. Man fand es im Judentum durchaus in Ordnung, wenn man alt und lebenssatt und mit Kindern und Enkeln versehen starb und nichts nachher kam. Aber man war nicht bereit es hinzunehmen, dass junge Männer ohne Nachkommen aus Treue dem Gesetz gegenüber getötet wurden und dann alles vorbei sein sollte. Aus der Gerechtigkeit und der Schöpfermacht Gottes schloss man, dass ihnen ein neues Leben zuteil werden müsse. Über die Art dieses Jenseits hat man sich vorerst keine Gedanken gemacht. Im 2./3. Jh. u.Z., als es von einem Teil des Judentums übernommen wurde, hat die bekannte Entfaltung in Himmel und Hölle und allem, was dazugehört, stattgefunden.
Vor der letzten Pforte
Eine andere Wurzel des Jenseitsglaubens ist das Genommenwerden. Im Alten Testament heisst es in Genesis 5,24 von Henoch «Henoch war seinen Weg mit Gott gegangen, dann war er nicht mehr, denn Gott hatte ihn genommen». In 1 Könige 19 wird erzählt, wie der Prophet Elia von Gott genommen wurde. Und im Neuen Testament, in der Apostelgeschichte in Kap. 1, wird geschildert, wie Jesus vor den Augen seiner Jünger von Gott an- und aufgenommen wird. Wie Jesus von den letzten Dingen lehrt, sagt er z. B. in Lukas 17: «Wenn in jener Nacht zwei Menschen in einem Bett liegen, wird der eine angenommen und der andere zurückgelassen. Wenn zwei Frauen an derselben Handmühle arbeiten, wird die eine angenommen und die andere zurückgelassen werden.» Das Entscheidende in jedem menschlichen Leben ist, ob man angenommen wird oder nicht. Das beginnt bei der Geburt, wo sich die Frage stellt, ob man von den Eltern und eventuell schon vorhandenen Geschwistern akzeptiert wird oder nicht. Zum Kind geworden, stellt sich die Frage, ob man beim Spielen von den anderen Kindern akzeptiert wird oder nicht. Das geht so weiter in der Schule, der Partnerschaft, im Berufsleben, oder auch in politischen Ämtern: Von diesen Vorgängen hängt es ab, wie glücklich oder unglücklich ein Leben verläuft. Und zum letzten Mal stellt sich die Frage, ob man an- und aufgenommen wird zum Zeitpunkt des Todes.
Unser Experte Othmar Keel ist emeritierter Professor für alttestamentliche Bibelwissenschaft und biblische Umwelt, Initiator der Schweizerischen Gesellschaft für Orientalische Altertums-Wissenschaft, der Reihe ORBIS BIBLICUS ET ORIENTALIS, des Museums BIBEL+ORIENT und Träger des Schweizerischen Wissenschaftspreises 2005.