Forschung & Lehre

Anleitung zum Schön- und Gesund sein

Die Lebensreformer_innen suchten schon vor hundert Jahren nach Auswegen aus der industrialisierten und grossstädtischen Moderne. «Lebe besser!», eine von Forschenden der Universität Freiburg konzipierte Ausstellung am Bernischen Historischen Museum, vermittelt erstmals einen Überblick über diese schillernde Bewegung in der Schweiz, die erstaunlich viele Gemeinsamkeiten mit dem aktuellen Öko- und Fitness-Boom aufweist.

Am Anfang war die Krise. Im ausgehenden 19. Jahrhundert verändert die Industrialisierung die Lebensgewohnheiten breiter Bevölkerungsschichten – und bringt die herkömmlichen zyklischen Weltbilder der Agrargesellschaft gehörig ins Wanken. Innert weniger Jahrzehnte verdreifacht sich die Zahl der Bewohner in den rasch wachsenden Städten. Für immer mehr Menschen unterscheidet sich der neue hektische Alltag im städtischen Ballungsgebiet grundlegend vom bäuerlichen Leben auf dem Land. In das Unbehagen über den beschleunigten Rhythmus und die gesellschaftliche Instabilität mischt sich zusehends auch ein Gefühl der Entfremdung von der Natur.

Dieses Krisenempfinden wird gleich zu Beginn auch den Besucherinnen und Besuchern der Ausstellung «Lebe besser!» zugemutet: In einem schwarzen Raum verbreiten Bildschirme, die in Endlosschleifen düstere Szenen aus Schwarz-Weiss-Filmen zeigen, eine bedrohliche Endzeitstimmung. Dann stösst man den dunklen Vorhang beiseite – und betritt den lichten Ausstellungssaal. Im Hintergrund erklingt Vogelgezwitscher, um einen auf das Motto der Lebensreformbewegung «Zurück, o Mensch, zur Mutter Erde» einzustimmen.

«Die Geschichte der Lebensreformbewegung in der Schweiz war – im Gegensatz zu jener in Deutschland – bisher nur wenig erforscht», sagt Stefan Rindlisbacher, Lehrbeauftragter an der Universität Freiburg. Dabei war die Schweiz für die transnationale Bewegung von grosser Bedeutung: «Sie galt vielen – nicht zuletzt aufgrund des Mythos der Alpen – als Refugium einer intakten Natur und als urwüchsiges Gesundheitsparadies», so Rindlisbacher. Wie seine Kollegin Eva Locher hat auch er sich in den letzten vier Jahren für seine Dissertation intensiv mit den unterschiedlichsten Quellen befasst, die über die Entwicklung des Vegetarismus, der Naturheilkunde und der Freikörperkultur (FKK) hierzulande Auskunft geben. Dank eines vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützten Agora-Projekts ist ein Teil der in den beiden Doktorarbeiten gewonnenen historischen Erkenntnisse nun als eine an die allgemeine Öffentlichkeit gerichtete und in sechs Themenblöcke gegliederte Schau zu besichtigen.

 

© SAPA, Nachlass Sigurd Leeder, Fotograf: Rudolf Opitz
Selbstoptimierung

Die meisten Lebensreformerinnen und Lebensreformer in der Schweiz stammen aus dem bürgerlichen Milieu. Genau wie auch heute eher gut verdienende Kreise teure Bioprodukte kaufen, verzichteten damals «nur jene ostentativ auf Fleisch, die sich Fleischgerichte überhaupt zu leisten vermochten», hält Damir Skenderovic, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg, im Vorwort der Publikation zur Ausstellung fest. Dass die Ideen der Lebensreformbewegung direkt bis in die Gegenwart reichen, zeige sich etwa auch daran, dass der lebensreformerische Appell an die Selbstverantwortung in der heutigen postindustriellen Gesellschaft grossen Anklang finde – und sich im regelrechten Boom von Angeboten zur Persönlichkeitsbildung und (auch körperlichen) Selbstoptimierung äussere.

Auf die auffallenden Kontinuitäten weist auch Eva Locher hin: «Den klaren Schnitt, den die deutsche Geschichtsforschung für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg postuliert hat, gibt es – insbesondere für die Lebensreformbewegung in der Schweiz – so nicht.» Als Beispiel führt sie den FKK-Verein «Schweizer Lichtbund» auf, der noch heute (unter dem Namen «Organisation von Naturisten in der Schweiz») existiert – und dabei sogar «seinen Prinzipien aus der Gründungszeit in den 1920er-Jahren mehrheitlich treu geblieben ist», so Locher. Und auch wenn der Begriff «Lebensreform» zusehends in Vergessenheit geraten sei, so geniessen doch viele lebensreformerisch inspirierte Praktiken unter neuen Schlagworten wie «Achtsamkeit», «Naturverbundenheit», «Fitness» oder «Wellness» weiterhin grosse Beachtung.

«Das übergeordnete Ziel der Lebensreformbewegung ist das Streben nach Gesundheit», sagt Stefan Rindlisbacher. Die Lebensreformerinnen und Lebensreformer möchten Körper, Geist und Seele in Einklang mit den Naturgesetzen bringen und stellen deshalb ihre Ernährung um. Sie verzichten auf Fleisch und auf Genuss- und Reizmittel wie Kaffee, Alkohol oder Tabak. Gleichzeitig tüchtigen und stählen sie ihre Körper, indem sie schwimmen, tanzen, turnen oder wandern. Einige lassen es sich nicht nehmen, ihre schlanken und gesunden Körper auch beim Skifahren in ihrer «natürlichen Nacktheit» erstrahlen zu lassen.

 

© Sozialarchiv
Kaltwasserbäder und Sonnenlichtkuren

Wer krank wird, soll durch naturheilkundliche Behandlungsmethoden wie Kaltwasserbäder, Sonnenlichtkuren, Bewegungstherapien und Vollwertkost wieder genesen. Die bekannteste Naturheilanstalt der Schweiz öffnet 1904 auf dem Zürichberg ihre Tore. Geführt wird das Sanatorium «Lebendige Kraft» vom Erfinder des Bircher-Müeslis Max Bircher-Benner, der seine Privatklinik als «Lebensschule» und als «wirksames Instrument gegen die Degeneration» der Bevölkerung verstanden haben will.

Politisch lasse sich die Lebensreformbewegung nicht klar verorten, meint Eva Locher. Während einige Vertreterinnen und Vertreter der Bewegung genossenschaftlich organisierte Gartenstadtsiedlungen – wie etwa 1919 das Freidorf Muttenz – bauen oder in den 1970er Jahren alternative Aussteiger-Landkommunen in den Alpen unterstützen, hegen andere Sympathien für rassistisches Gedankengut. So erschienen im hauseigenen «Wendepunkt-Verlag» der Bircher-Benners etwa auch Beiträge von einflussreichen Nationalsozialisten, die in der lebensreformerischen Monatsschrift sogar noch nach 1945 eine publizistische Plattform für ihre eugenischen Forderungen fanden.

 

© Historisches Museum, Bern
Birchermüesli im Himalaya

Zahlreiche Schweizer Lebensreformer begeben sich auf lange Reisen, wo sie fernab der europäischen Zivilisation auf naturnahe Lebens- und Gesellschaftsformen zu stossen hoffen. «Ihre Reisetagebücher verraten einen stereotypischen und romantisierenden Blick auf die kolonisierte Welt», sagt Rindlisbacher. Zur Illustration dieser verzerrten Sicht dient in der Ausstellung das Buch mit dem Titel «Hunsa. Das Volk, das keine Krankheit kennt». Ralph Bircher, einer der Söhne von Max Bircher-Benner, hat es zum Andenken an seinen 1939 verstorbenen Vater veröffentlicht. Daheim in der Schweiz führt Ralph Bircher die Bewohner eines abgelegenen pakistanischen Himalaya-Tals als lebenden Beweis für die Richtigkeit der Ernährungslehre seines Vaters auf – ohne je dort gewesen zu sein. Tatsächlich aber ist die Kindersterblichkeit in dieser Region sehr hoch und aufgrund des Jodmangels sind auch oft Personen mit einem Kropf anzutreffen.

Dieses Buch und die vielen weiteren Objekte, sowie Audio- und Videostationen werden im Bernischen Historischen Museum selbstverständlich auf rezyklierbaren Holzgestellen – also durchaus lebensreformgetreu – präsentiert. Mit der Ausstellung «Lebe besser!» ist es dem Team vom Departement für Zeitgeschichte gelungen, ambivalente Einblicke in die schillernde Bewegung zu geben, deren Ideen und Überzeugungen heute zusehends wieder an Bedeutung zu gewinnen scheinen, wenn Jugendliche an weltweiten Protestmärschen die Klimakrise ausrufen.

 

Lebe besser! Auf der Suche nach dem idealen Leben
Auf den Spuren der Reformerinnen und Reformer zeigt die Ausstellung Errungenschaften und Schattenseiten der Lebensreformbewegung von damals bis heute.

Vom 13. Februar bis zum 5. Juli 2020 im Bernischen Historischen Museum

Eine Zusammenarbeit des Bernischen Historischen Museums und der Universität Freiburg.
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