Forschung & Lehre

Fressmaschine versus Superunkraut

Invasive Arten lassen sich ohne Gift bekämpfen. So vermag ein winziger Käfer mit einer Pflanze aufzuräumen, die europaweit jedes Jahr Schäden in der Höhe von 7,5 Milliarden Euro verursacht. Heinz Müller-Schärer, Professor für Evolution und Biologie, ist Initiator und Senior-Autor einer kürzlich erschienenen Studie zum Thema. 

Heinz Müller-Schärer, das Beifussblättrige Traubenkraut – auch Ambrosia genannt – beschäftigt Sie schon lange.

Dabei hatte ich mir einst geschworen, dass ich mich nie auf diese Pflanze einlassen werde.

Weshalb?

Je mehr man Ambrosia bekämpft, desto heftiger wächst sie. Ein unmögliches Kraut! Der Bundesrat hat sie deshalb zu Recht in die Liste der «besonders gefährlichen» Pflanzen aufgenommen. In der Schweiz werden Rekruten eingesetzt, um das Traubenkraut auszureissen, etwa auf der Allmend in Thun. Aber von hundert ausgerissenen Beständen wachsen im nächsten Jahr über fünfzig wieder nach, dreissig kommen neu hinzu. Man kann Ambrosia auch Mähen oder mit Herbiziden bekämpfen, aber das hindert sie oft nicht, erneut auszuschlagen und Samen zu bilden. Es ist eine Sisyphusarbeit. Doch sie muss getan werden; das Gesetz verpflichtet dazu.

Invasive Arten verdrängen einheimische Arten und verursachen Schäden in der Landwirtschaft. Aber sie können auch die Gesundheit beeinträchtigen. Bei Ambrosia ist das ganz besonders der Fall.

Die Pflanzen sind einhäusig, haben also männliche und weibliche Blüten. Die windbestäubten männlichen Blüten produzieren eine riesige Anzahl von hoch allergenem Pollen. In der Schweiz reagieren etwa 20 Prozent der Allergikerinnen und Allergiker positiv auf Ambrosia, in der Gegend um Mailand bereits über 50 Prozent und in Ungarn sogar mehr als 80, da dort die Ambrosia-Bestände besonders hoch sind.

Die Konsequenzen?

Ambrosia provoziert juckende Augen und lässt die Nase triefen. Zudem kann der Pollen Ekzeme und Asthma auslösen.

Ambrosia war ursprünglich bei uns nicht heimisch.

Dieses Superunkraut wurde im 19. Jahrhundert aus Nordamerika eingeführt, wohl mit verunreinigtem Saatgut. Seither verbreitet es sich in ganz Europa. In die Westschweiz fand es unter anderem durch Landmaschinen aus dem französischen Rhonetal. Ins Tessin gelangte es vorwiegend durch Sand- und Erdtransporte aus der Lombardei. In der Deutschschweiz war lange Vogelfutter aus Ungarn wichtigste Ursache; es enthielt Ambrosiasamen. Diese Quelle ist inzwischen versiegt, weshalb wir zumindest nördlich des Gotthards das Problem recht gut im Griff haben.

Heute zählt Ambrosia zu den Schwerpunkten Ihrer Tätigkeit. Weshalb widmen Sie sich der Pflanze nun doch?

2008 wurde ich nach Ungarn und Kroatien an internationale Konferenzen zum Thema Ambrosia eingeladen, weil die Pflanze in diesen Ländern ein riesiges Problem ist. Da wurde mir klar, welche Tragweite das Thema hat und dass wir uns darum kümmern müssen. Auch war mein persönliches Interesse geweckt. Ich hatte bereits meine Dissertation über die biologische Bekämpfung von Unkräutern geschrieben. Nun erkannte ich, dass auch bei Ambrosia die Möglichkeit besteht, die Pflanze ohne Gift zu bekämpfen.

Das heisst?

Ambrosia hat in ihrer Heimat Nordamerika viele natürliche Feinde, darunter verschiedene Insekten. Das interessierte mich. Also wählten wir sechs Arten, die sehr wirtsspezifisch sind, das heisst, die sich nur von Ambrosia ernähren.

Ihre Idee war es, diese natürlichen Feinde in die Schweiz zu holen.

Genau. Ich beantragte beim Bundesamt für Umwelt eine Bewilligung, um einige dieser Arten aus Nordamerika in unsere Quarantänestation importieren zu dürfen. Darunter befand sich ein vier Millimeter kleiner Käfer namens Ophraella slobodkini. Dieser Käfer – insbesondere seine Larven – sind eigentliche Fressmaschinen. Sie erzeugen bis zu fünf Generationen im Jahr und fügen der Pflanze so grosse Schäden zu, dass sie nur noch wenig oder gar keinen Pollen und folglich auch keine Samen mehr bilden kann. Das Bewilligungsprozedere für den Import bedeutete sehr, sehr viel Papierarbeit. Aber schliesslich erhielt ich das Okay.

Doch dann kam Ihnen der Zufall zu Hilfe.

Das war wirklich sehr speziell. Ich hatte die Reise in die USA bereits geplant, als eines Tages im Sommer 2013 das Telefon läutete. Eine Mitarbeiterin des Pflanzenschutzdienstes des Kantons Tessin hatte bemerkt, dass sich auf den dort vorkommenden Ambrosien viele kleine Käfer tummelten und sie vernichteten. Also fuhr ich hin. Zu meinem grossen Erstaunen sah ich, dass es sich um Ophraella communa handelte, einen Verwandten von Ophraella slobodkini! Ophraella communa, ursprünglich auch in Nordamerika zuhause, war jedoch nicht auf unserer Wunschliste. Der Käfer ist bekannt dafür, dass er sich – zumindest im Labor – auch auf Pflanzen entwickeln kann, die mit Ambrosia nah verwandt sind, etwa Sonnenblumen. In China allerdings, wohin der Käfer bereits anfangs des Jahrtausends über Japan, Korea und Taiwan gefunden hat, wird Ophraella communa inzwischen als ein äusserst effizienter Ambrosia-Zerstörer aktiv gezüchtet und freigesetzt.

Der Ambrosia-Blattkäfer war also ohne behördliche Bewilligung in die Schweiz eingewandert. Wie war ihm das gelungen?

Da wir am meisten Käfer in der Nähe des Flughafens Malpensa fanden, lag der Schluss nahe, dass die Tiere mit dem Flugzeug gekommen waren. Und zwar wahrscheinlich aus den USA, wie unsere genetischen Analysen zeigten. Ausgehend von Malpensa konnten wir eine Verbreitung in der Lombardei und – eben – bis in die Südschweiz nachweisen.

Eigentlich hatte Ihnen nun der Zufall geliefert, was Sie sich als mögliches Fernziel gesetzt hatten: die biologische Bekämpfung von Ambrosia. Waren Sie erfreut?

Ich war mir nicht sicher, ob die Entdeckung gut oder schlecht war. Wie gesagt, kann diese Käferart ihre Eier auch auf Sonnenblumen ablegen und sich darauf entwickeln. Das heisst: Sie kann Schäden anrichten.

Was bedeutete das für Sie?

Wir mussten einen Entscheid fällen, und zwar möglichst schnell. Ernährten sich die im Tessin gefundenen Käfer tatsächlich nicht nur von Ambrosia, dann mussten sie so schnell als möglich bekämpft werden. Wenn man früh einschreitet, kann das Problem unter Umständen noch gelöst werden. Dann halten sich auch die Kosten in Grenzen. Bleibt eine schnelle Reaktion aus, wird es teuer. Entsprechend informierten wir die Behörden und hofften auf Unterstützung. Aber da kam erstmals nichts.

Nichts?

Nein. Wir fragten das Bundesamt für Gesundheit an. Es sollte Interesse am Thema haben, da Ambrosia hoch allergen ist und Kosten für Arztkonsultationen und Medikamente hervorruft, doch es winkte ab. Das Bundesamt für Umwelt erklärte, man kümmere sich um die Themen Artenschutz und Biodiversität, nicht aber um die Gesundheit. Und das Bundesamt für Landwirtschaft kam zum Schluss, Ambrosia sei nur ein Thema, wenn sich Ernteeinbussen zeigen… Also handelten wir von uns aus und riefen eine «Task Force Ophraella» ins Leben. Die Fäden liefen bei Urs Schaffner zusammen, der in Delsberg beim schweizerischen Ableger des Centre for Agricultural Bioscience International, CABI, das Ökosystem-Management leitet. CABI ist auf das Thema biologische Bekämpfung spezialisiert. Die Task Force begann einerseits zu klären, ob der eingewanderte Käfer die Ambrosia tatsächlich zu bekämpfen vermag, andererseits, ob die Art wirklich auch andere Pflanzen schädigt, und falls ja, in welchem Ausmass. Für diese Untersuchungen erhielten wir schliesslich doch noch finanzielle Unterstützung vom Bund.

Was testeten Sie, um das Risiko abschätzen zu können?

Zuerst schauten wir in unserer Quarantänestation, auf welchen Pflanzen der Käfer Eier ablegt. Dann führten wir die Versuche auch im Feld durch, sowohl im Tessin wie auch in Norditalien. Dabei beobachteten wir nicht nur eine Generation der Käfer, sondern zehn. Jede Generation dauert ein Monat. Um wirklich aussagekräftige Resultate zu erhalten, bauten wir nicht nur Sonnenblumen an, sondern auch nah verwandte Zierpflanzen sowie seltene und gefährdete Arten, die von Ophraella communa geschädigt werden könnten.

 

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Und?

Wenn ein Weibchen sich verirrt, kann es tatsächlich sein, dass es seine Eier auf den Blättern einer Sonnenblume ablegt. Aber das ist selten. Und spätestens nach zehn Generationen Käfer sind alle Tiere tot – was bedeutet, dass Ophraella communa auf Sonnenblumen nicht über längere Zeit überleben kann. Zudem taucht der Käfer im Jahreszyklus nicht gleichzeitig auf wie die Sonnenblume; er kommt erst später, da die Sonnenblumen bereits Ende August geerntet werden. Und die Pflanze ist dann bereits viel zu gross, als dass die Larven ihr wirklich schaden könnten. Auch auf den bedrohten Pflanzenarten konnten wir nur sehr geringe Auswirkungen entdecken. Zusammengefasst: Die Schäden von Ophraella sind zwischen null und vernachlässigbar.

Sie können also entwarnen.

Grundsätzlich ja, und mit gutem Gewissen. Wir haben so intensiv und weitreichend getestet wie noch nie jemand. Als Folge unserer Ergebnisse hat Frankreich entschieden, dass man Ophraella nicht bekämpfen werde, sollte der Käfer eines Tages über die Grenze kommen.

Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen haben auch wissenschaftliches Neuland betreten. Sie haben erstmals sämtliche Gesundheitsschäden quantifiziert, die Ambrosia verursacht.

Das war nur möglich, weil wir ein multidisziplinäres Team aus den Bereichen Allergologie, Aerobiologie, Landwirtschafts- und Gesundheitsökonomie, Populationsbiologie, Ökologie sowie Entomologie im Rahmen eines europaweiten Forschungsprojektes zusammengestellt hatten. Wie bereits erwähnt, sind Ambrosiapollen hoch allergen. Entsprechend hoch sind die Kosten für Therapie und Medikamente, auch fallen die Arbeitsausfälle ins Gewicht. Wir haben in noch nie dagewesener Präzision diese Kosten berechnet. Dazu sammelten wir bei Messstationen die Pollenkonzentrationen von Ambrosia, recherchierten die Ausgaben für Arztbesuche und Antihistaminika wie auch die Länge des Arbeitsausfalls, den die Allergieschübe erzwingen. Das war eine enorme Aufgabe und gleichzeitig enorm aufschlussreich. Schliesslich kamen wir zum Schluss, dass in ganz Europa 12,5 Millionen Menschen allergisch auf Ambrosia reagieren und als Folge totale Gesundheitskosten in der Höhe von 7,5 Milliarden Euro provozieren – pro Jahr.

Das ist enorm.

In der Tat. Dabei haben wir konservativ gerechnet.

Der Blattkäfer hat das Potential, diese Kosten zu senken.

Ja, und das tut er bereits. Bei einer Messstation in der Nähe von Milano etwa ist die Belastung der Luft mit Ambrosiapollen seit dem erstmaligen Auftreten des Käfers im Jahr 2013 um 82 Prozent zurückgegangen. Entsprechend sind auch die Folgekosten gesunken. Unsere Berechnungen zeigen, dass bezogen auf das aktuell mögliche Verbreitungsgebiet des Käfers mehr als zwei Millionen Menschen von den Folgen des Ambrosiapollens befreit werden können, was zu Einsparungen in der Höhe von 1,1 Milliarden Euro pro Jahr führt.

 

Wie geht es nun weiter? Wird sich der Käfer eines Tages gezielt gegen Ambrosia einsetzen lassen? In der Schweiz, in ganz Europa?

Aktuell verbreitet sich der Käfer in Norditalien, in der Südschweiz, an einigen Stellen in Kroatien und Slowenien, wo ein ähnliches Klima herrscht. Den Gotthard hat Ophraella noch nicht überwunden.

Wird es soweit kommen?

Das wissen wir noch nicht. Aktuell gibt es direkt nördlich der Alpen keine Ambrosien, also auch kein Futter für Ophraella. Das kann sich aber ändern. Finanziert vom Nationalfonds, simulieren wir in Norditalien die zu erwartenden klimatischen Veränderungen und schauen, wie Ophraella und Ambrosia darauf reagieren. Aufgrund der prognostizierten höheren Temperaturen lässt sich voraussagen, dass sowohl Ambrosia wie auch der Blattkäfer sich weiter Richtung Norden ausbreiten werden. Findet der Käfer seinen Weg über die Alpen, können auch entsprechend mehr Menschen von ihren Allergien befreit werden.

Falls der Käfer den Gotthard nicht überwindet: Wollen Sie ihn dann aktiv freilassen?

Ganz klar – sofern wir die Bewilligung erhalten. Eine fremde Art gezielt auszusetzen, ist immer mit Gefahren verbunden. Deshalb bedarf eine Freisetzung einer europaweit koordinierten Risikoabschätzung, eines positiven Entscheids mehrerer Bundesämter und eidgenössischer Kommissionen sowie, vorausgehend, einer Vernehmlassung durch die Kantone. Im Fall von Ophraella ist das Risiko Ihrer Meinung nach tragbar. Soweit wir es zurzeit abschätzen können, ist es tragbar und folglich akzeptabel. Der Nutzen der Tiere ist viel grösser als ihr Schadenpotential. Erhalten wir die Bewilligung, wird erstmals in Mitteleuropa ein biologischer Kontrollorganismus aktiv freigelassen.

Insgesamt eine erfreuliche Geschichte?

Ja, sehr. Und auch beispielhaft. Weshalb sich nun einiges ändern könnte. Obwohl die Zahl invasiver Arten seit Jahrzehnten unvermindert zunimmt, wurden die Folgekosten für die menschliche Gesundheit bislang kaum untersucht, und wenn sie untersucht wurden, dann hat man sie unterschätzt. Eine genaue Berechnung ist aber unerlässlich, damit die entsprechenden Mittel für die Bekämpfung zur Verfügung gestellt werden. Ich hoffe, dass die biologische Bekämpfung invasiver Pflanzen aufgrund unserer Untersuchungen nun ein Thema wird. Denn in Europa ist das Verständnis dafür noch kaum vorhanden – weder in der Politik, der Wirtschaft noch in der Wissenschaft.

 

Heinz Müller-Schärer ist Professor für Ökologie & Evolution. Sein langjähriges Forschungs­interesse gilt den Interaktionen zwischen Pflanzen und Insekten sowie auch zwischen Pflanzen und Pathogenen. Insbesondere interessiert er sich für invasive Arten, deren Populationsgenetik und -dynamik, ihre biologische Kontrolle sowie die ökosystemischen und sozio-öko­no­mischen Auswirkungen. Heinz Müller-Schärer initiiert, leitet und beteiligt sich an nationalen, europäischen und internationalen Forschungsprogram­men im Bereich der Invasionswissen­­schaften. Im Jahr 2013 startete er ein europäisches Forschungsprogramm zur nachhaltigen Bekämpfung der Ambrosia in Europa (COST-SMARTER), an dem mehr als 250 Forschende aus 32 Ländern beteiligt sind.

heinz.mueller@unifr.ch