Dossier
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Siegen beim Glücksspiel erfordert weder Arbeit noch Talent. Darf man das?
«Zum Beispiel Voltaire!», erzählt François-Joseph Favey fasziniert. «Er knackte die Lotterie und machte ein Vermögen! Gemeinsam mit einem Freund erkannte der Aufklärer, dass sich die Organisatoren der französischen Staatslotterie verrechnet hatten. Also kauften sie sämtliche Lose der Lotterie, die 500’000 Livres ausschüttete. Sie konnten die Aktion mehrfach wiederholen.»
Favey ist Doktorand am Departement für Geschichte der Universität Freiburg. Hier forscht er zur Geschichte der Lotterie. Diese hatte ihre Blüte ausgerechnet im 18. Jahrhundert. «Das ist paradox: Ausgerechnet im Zeitalter von Aufklärung und Rationalismus war ein Spiel populär, von dem vernünftige Leute eigentlich die Finger lassen sollten.»
Angefangen hat die Geschichte der Lotterie schon gegen Ende des 15. Jahrhunderts. Damals waren es vor allem Händler, die auf Märkten Lose verkauften, einen Gewinn einstrichen und überdies auch noch ihre überschüssige Ware loswerden konnten. «Anfangs glichen die Lotterien eher unseren heutigen Tombolas», präzisiert Favey, «wobei in Flandern und Norditalien schon im Spätmittelalter auch um Geld gespielt wurde. Allerdings mit einer begrenzten Anzahl an Losen. In der Schweiz wurden pure Geldspiele erst später eingeführt.»
Lotterien sind Glücksspiele in ihrer reinsten Form. Man kauft sich ein Los und im Normalfall verliert man sein Geld. Vielleicht macht man aber auch ein Vermögen (was die soziale Hierarchie durcheinanderwirbeln kann). «Vom moralischen Standpunkt war das natürlich problematisch», erklärt der 30-Jährige. «Heisst man nicht gerade Voltaire und knackt das System, braucht man zum Gewinn der Lotterie weder Arbeit noch Talent. Für viele Leute hatte das etwas Unanständiges. Moraltheologen durchsuchten die Bibel nach Hinweisen, was Gott von solcherlei Treiben hielt.» Gott und andere Kritiker verurteilten allerdings weniger die glücklichen Sieger, als die berechnenden Organisatoren von Lotterien. Denn diese gewannen immer, ihr Risiko lag nahe bei null. «Die Ziehung fand im Normalfall erst statt, wenn genügen Lose verkauft worden waren.» In einigen Fällen dauert dies Jahre, und ganz vereinzelt wurden Lotterien auch mal abgebrochen. Im Normalfall hingegen lief es reibungslos.
«Den Behörden war klar, dass sich Lotterien kaum verbieten liessen», sagt Favey. Es gab zwar einige Dekrete gegen sie, aber kaum Bemühungen, diese rigoros durchzusetzen. Die Obrigkeiten versuchten eher, die Spielsucht der Bevölkerung unter Kontrolle zu halten – und die Geldflüsse in Richtung ihrer eigenen Kassen zu lenken. Denn Lotterien war auch für Staaten schlicht und einfach zu verlockend. So verboten die führenden Köpfe der Französischen Revolution das Glücksspiel zwar 1793, weil es ihren Prinzipien widersprach – führten es aber 1797 wieder ein, als sie selbst in finanzielle Nöte kamen. Denn auch für die Behörden war eine Lotterie ein sicherer Weg, um an Geld zu kommen.
«In Frankreich oder den vielen deutschen Kleinstaaten war das ziemlich verbreitet. In der Schweiz hingegen waren solche Staatslotterien eher verpönt. ‹Darf ein Staat seinen Bürgern das Geld aus der Tasche ziehen?› ‹Darf er ihnen ein Spiel anbieten, bei dem sie im Normalfall verlieren?› Die Antwort auf solche Fragen lautete hierzulande tendenziell ‹Nein›.» Staatliche Lotterien waren in der Schweiz deshalb stets mit einem guten Zweck verknüpft. «Ein typisches Beispiel wäre, dass man mit einer Lotterie Geld für das städtische Spital gesammelt hat. In Freiburg wurde aber auch die grosse Hängebrücke (die Vorgängerin der heutigen Zähringerbrücke) teilweise mit einer Lotterie finanziert. Sogar zur Gründung unserer Universität gab’s eine Lotterie! Diese sollte insbesondere eine medizinische Fakultät ermöglichen, wurde zwar vom Staatsrat beschlossen und von Georges Python persönlich unterstützt, endete aber in einem Fiasko».
Glücksspiel also als Crowdfunding à l’ancienne. Für gute Zwecke wurden die Lose bisweilen in der ganzen Schweiz verkauft. Wer wessen Lotterie auf seinem Hoheitsgebiet zuliess, war dabei auch ein Zeichen interkantonaler Diplomatie. In besonderen Fällen wurde im ganzen Land «spielerisch» Geld gesammelt. Als 1805 ein Feuer das Freiburger Städtchen Bulle weitgehend zerstörte, wurden für den Wiederaufbau sogar über 15 verschiedene Lotterien ausgerichtet. Aus dem calvinistischen Genf kam die Zustimmung zum Losverkauf zwar «mit Widerstreben», aber auch hier heiligte der Zweck die Mittel.
«Schweizerinnen und Schweizer spielten aber auch im Ausland. Wir haben eine Vielzahl von Briefen, bei denen Freiburgerinnen und Freiburger ihre Bekannten bitten, ihnen Scheine der Lotterien von Utrecht, Frankfurt oder der Französischen Staatslotterie zu besorgen.» Die grossen Lotterien versprachen die grössten Gewinne. Auch in der Schweiz informierten Zeitungsinserate über Preise für Lose, darüber wie viele im Handel und wo sie erhältlich waren, wie gespielt wurde und welche Gewinne winkten. «Die Zeitungen waren einer der Gründe, warum gerade das 18. Jahrhundert zur Blütezeit der Lotterie wurde», erzählt Favey. «Immer mehr Leute konnten lesen und Zeitungen verbreiteten Informationen über Lotterieangebote und Ziehungen.»
Loto des cinq parties du monde, illustré par E. Serre, Saussine, Paris, 1900–1914
Assise sur une colonne grecque, un livre à la main, l’Europe instruit l’Amérique, l’Afrique, l’Asie et l’Australie/Océanie, qui ne profitent pas encore des bienfaits de la civilisation occidentale. Aux pieds des personnages, des produits caractéristiques de chacun: des objets d’art, techniques et scientifiques européens sont entourés par des «productions végétales et animales» des autres continents. A l’arrière-plan, on voit des paysages typiques de chaque partie du monde, peuplés d’animaux et aussi, pour l’Europe, de quelques bâtiments.
E. Serre, qui a dessiné ce jeu pour Saussine, le plus important éditeur de jeux de la Belle Epoque en France, illustre l’idée encore intacte d’une Europe porteuse de culture et progrès aux peuples du monde. A l’horizon, la Première Guerre Mondiale …
Ticket zum Glück
Am verbreitetsten war bereits im 18. Jahrhundert das angeblich aus Genua stammende «Loto Génois», bei dem aus 90 Nummern fünf gezogen wurden. Spieler konnten auf eine Zahl wetten, oder auch darauf, als wievielte diese gezogen wurde. Und es gab Preise für zwei, drei, vier oder fünf richtige. Die Zahl der Tickets war damals schon unbegrenzt.
Noch bessere Karten als die Teilnehmer der Lotterien hatten allerdings die Scharlatane, die Unwissenden bereits verfallene Lottoscheine verkauften oder halbseidene «Orinoskope» verkauften; Anleitungen voller angeblich streng geheimer Tricks, mit denen sich diese oder jene Lotterie garantiert gewinnen liess. Gerade weil man im Normalfall verliert, haben viele Intellektuelle die Lotterien als «Steuern auf die Dummheit» bezeichnet. Aber für François-Joseph Favey ist das zu einseitig. «Schon Leibnitz merkte an, dass sich gerade arme Leute mit einem Lotto-Los auch ein bisschen Hoffnung auf ein besseres Leben kaufen.»
Einer, der es aus der sozialen Ungewissheit zu Reichtum brachte, war Johann Rudolf Tschiffeli. Der Mitbegründer der Ökonomischen Gesellschaft Bern lebte lange in prekären Verhältnissen – bis er 1770 einen Lottotreffer machte. Die allermeisten Lotteriegewinner hingegen sind im Dunkel der Geschichte verschwunden – von den Verlierern ganz zu schweigen.
Gewinner wie Verlierer dürften oft in Städten gewohnt haben. Hier hatten die Leute etwas mehr Geld und kamen leichter an Lose und Informationen. Hotspots des Glücksspiels waren insbesondere Städte mit Banken. Hier gab es das entsprechende Know-how und das nötige Geld. «Es ist kein Zufall, dass sich Lotterien insbesondere an Bankenplätzen entwickelten. Die Leute hier waren es sich gewohnt, in Wahrscheinlichkeiten zu denken, wetten zu machen, auf Zahlen zu spekulieren. Mal spielte man in der Lotterie, ein anderes Mal an der Börse.» Aber auch die Staaten verbanden Investitionen mit Glücksspiel: Wer Staatsanleihen kaufte, nahm insbesondere in Kriegszeiten oft automatisch an einer Lotterie teil und gewann nebst Zinsen womöglich das grosse Los.
Für die gute Sache
Nach dem 18. Jahrhundert, in dem sich die Lotterien zu regelrechten «Massenspielen» entwickelt hatten, war das 19. Jahrhundert von weniger Innovation und Spielfreude geprägt. Ausnahme ist die Erfindung des Spielcasinos. «Roulette ist schliesslich eine Art Lotterie auf dem Tisch.» Doch das Phänomen der Lotterie war inzwischen tief in der Gesellschaft verwurzelt «und gerade die Idee des Glücksspiels im Dienst einer guten Sache erfreute sich grosser Beliebtheit», erklärt Favey. «So erleben wir dann 1937 die Gründung der Lotterie Romande.»
Unser Experte François-Joseph Favey ist Doktorand am Departement für Geschichte und arbeitet nebenbei im Staatsarchiv des Kantons Freiburg. In seiner Dissertation befasst er sich mit der Geschichte der Lotterie vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts.