Dossier
Das Hirn im Bauch
Er grummelt und knurrt. Manchmal hart wie ein Brett, dann wieder rund wie ein Luftballon. Was will er uns sagen, der Darm? Gespräch mit Gregor Hasler, Professor für Molekulare Psychiatrie.
«Im Anfang war der Darm.» So steht es im ersten Satz Ihres Buches «Die Darm-Hirn-Connection». Eine gewagte Aussage.
Die weit verbreitete Vorstellung, dass unsere Psyche, unser Hirn, so primär ist und der Körper entsprechend sekundär, ist eine Übernahme aus dem christlichen Gedankengut. Die Seele steht an erster Stelle, der Körper ist Ausdruck dieses Seelischen. Schaut man es aber aus evolutionsbiologischer Sicht an, dann ist es genau umgekehrt. Dann steht der Darm nämlich zuerst. Nehmen wir einen Polypen: Dieses Lebewesen ist im Prinzip ein Darmstück. Und um diesen Darm hat sich das Nervensystem gebildet. Das erste Hirn hat sich sozusagen um die Lippen des Polypen gebildet. Aus der Informationssammlung zur Nahrungsaufnahme entwickelte sich ein primitives Hirn. Und dieses Hirn hat dann angefangen, den Darm zu steuern. Aber gleichzeitig war und ist der Darm ein wichtiges Sinnesorgan. Diese Polypen haben ja keine Augen. Also muss der Darm sagen, ob er etwas verdauen kann oder nicht. Allgemein wird der Darm als Sinnesorgan unterschätzt.
Wie funktioniert die Kommunikation zwischen Kopf und Darm?
Es gibt mehrere Kanäle. Die Hauptinformationsader ist der Vagusnerv. Der Austausch über diesen weitverzweigten Nerv läuft zu 80 Prozent von unten nach oben – also vom Darm zum Hirn. Auch das Immunsystem befindet sich grösstenteils um den Darm herum angesiedelt. Das Mikrobiom spricht ebenfalls zum Hirn. Und der Darm alleine produziert um die 30 Hormone, die übers Blut mit dem Hirn sprechen. Leptin etwa, das für das Hungergefühl zuständige Hormon. Oder Grelin, das anzeigt, wann die Sättigung eintritt. Aber es gibt auch Darmhormone, die eine Wirkung auf die Psyche haben, also etwa Angst auslösen können. Der Darm spricht nicht nur über Kalorien…
Der Vagus gehört zum parasympathischen Nervensystem – unserer entspannteren Seite. Sobald jedoch der vom Hirn aus agierende Sympathikus sich einmischt, ist fertig mit der Ruhe. Klare Hierarchien?
Wir haben ja zwei vegetative Nervensysteme. Und da gibt es tatsächlich eine Hierarchisierung. Die Evolution hat entschieden, dass bei Gefahr die Verdauung lahmgelegt wird. Die ganze Energie muss ins Hirn, nicht in die Muskeln. Auch selfish-brain-theory genannt. Das Hirn hat mit dem Stresssystem also ein Vetorecht. Es kann die Kommunikation sozusagen stoppen. Der Sympathikus, ein Stressnerv, geht vor allem von oben nach unten. Stresshormone kommunizieren ebenfalls vom Hirn nach unten zum Darm. Die Kommunikation von unten nach oben ist komplexer als jene von oben nach unten.
Mit wem hat der Vagusnerv die bessere Beziehung: Darm oder Hirn?
Er verbindet ja die beiden. Der Vagus ist ein Hirnnerv, der nicht übers Rückenmark weggeht, sondern direkt aus dem Hirn kommt. Und bereits im Hirn ist er sehr verzweigt. Er kann das Hirn auch beruhigen, deshalb wird der Parasympathikus beispielsweise bei Epilepsie stimuliert.
Und trotzdem: Sie können tagelang den Parasympathikus stimulieren – sobald der Sympathikus sich ins Spiel bringt, stehen wir wieder unter Strom.
Ja, klar. Aber wir wollen ja auch nicht dauernd in einem vegetativen Zustand sein. Wenn wir erholt sind und verdaut haben, sind wir wieder bereit für den Sympathikus. Aber Sie haben auch Recht: Unser Sympathikus hat sehr viel Macht. Und die heutige Zeit mit Internet, sozialen Medien, ständiger Berieselung und Anspornung zu Leistung spielt ihm in die Hände.
Der Darm aber mag lieber Ruhe.
Genau. Wenn wir ruhig sind, dann setzt die Verdauung ein, die Durchblutung des Darms nimmt zu. Die beiden Nervensysteme regulieren ja auch den Blutfluss. Sehr eindrücklich sieht man das bei Marathonläufern, die über eine lange Zeit dem Sympathikus ausgeliefert sind und entsprechend häufig unter Bauchschmerzen und -krämpfen leiden – weil der Bauch nicht mehr genügend durchblutet ist.
Bestimmte Lebenssituationen können zu psychischen Problemen führen, so etwa langanhaltender Stress oder Isolation. Inwiefern spielt da der Darm eine Rolle?
Die Forschung dazu ist noch recht neu. Klar ist beispielsweise, dass Personen mit Entzündungen im Darm auch häufiger Depressionen haben. Die Entzündungen setzen Zytokine frei und dies wiederum führt dazu, dass man sich schlecht fühlt. Neuer sind die Erkenntnisse zu den Darmbakterien im Zusammenhang mit der Psyche. Wenn man beispielsweise einer keimfreien Maus Darmbakterien einer depressiven Maus verabreicht, so wird die gesunde Maus auch depressiv. Warum weiss man nicht so genau. Eine andere Studie zeigt, dass dieser Effekt geringer ist, wenn man den Vagusnerv durchschneidet.
Was aber sicherlich auch andere, negative Konsequenzen hat, oder?
Ja, wahrscheinlich schon. Gleichzeitig ist vieles in unserem Körper sozusagen fünffach vernäht. Früher hat man den Vagus durchtrennt, um Probleme mit Magensäure in den Griff zu kriegen. Oder, soweit ich weiss, auch im Zusammenhang mit Parkinson. Aber dazu könnte ein Neurologe mehr sagen. Sowieso ist die Verbindung zwischen Darm und Hirn natürlich gerade für die Neurologie sehr interessant. Nehmen Sie etwa die Nerven: Die sehen im Hirn wie im Darm fast identisch aus! Es erscheint gewissermassen naheliegend, dass Prozesse im Darm respektive im Hirn beim jeweils anderen etwas auslösen. Etwa über Neurotransmitter wie Serotonin oder Dopamin.
Sie sprechen in Ihrem Buch vom «vegetativen» und vom «sozialen» Vagusnerv. Was ist damit gemeint?
Die Aussage geht auf die Polyvagal-Theorie zurück. Es ist allerdings keine wissenschaftlich erhärtete Theorie. Man weiss, dass der Vagus sehr primitive Reflexe hat. Aber dass dieser Vagusnerv eben auch Gesichtsnerven beeinflusst und gewissermassen soziale Ausdrucksformen erhalten hat. Man sieht auch, dass die Hirnareale, die mit dem Vagus verbunden sind, vielfach unser Sozialverhalten steuern. Bereits Freud sprach vom an der Mutterbrust saugenden Kind. Das Saugen als sehr vegetative Tätigkeit, die zugleich sozial von grosser Bedeutung ist.
Ein wichtiges Thema in der Darm-Hirn-Connection sind die Darmbakterien – unser Mikrobiom. Ein weites Feld.
Dort liegen die erstaunlichsten Befunde: Die Zusammensetzung der Darmbakterien scheint sehr wichtig zu sein in Bezug auf unser Sozialverhalten, die Stimmungsregulierung. Etwas ernüchternd dabei ist die Komplexität des Mikrobioms. Wir wissen, die Darmbakterien und -parasiten haben einen grossen Einfluss – aber wir können aktuell noch nicht wirklich von diesem Wissen profitieren. Dazu müsste man genau wissen, welches Bakterium welche Wirkung erzielt.
Wobei wahrscheinlich jeder Mensch wieder eine individuelle Rezeptur braucht, die ihm guttut.
Genau. Hinzu kommt, dass ein Bakterium sowohl positive wie auch negative Auswirkungen haben kann. Ein Bakterium kann sich verändern. Es kann auch aussterben und durch ein Enzym ersetzt werden. Von genauen Messungen des Darm-Mikrobioms sind wir noch weit entfernt. Obwohl die Leute natürlich am liebsten eine Liste hätten mit jenen Bakterien drauf, die für sie gut sind.
Dafür müssten sie aber erst mal wissen, welche Bakterien bereits in ihrem Darm hausen.
Wir machen im Moment an der Uni hier gerade eine Studie, in der wir Stuhlproben analysieren. Und gleichzeitig die Probanden befragen in Bezug auf deren psychische Verfassung. Die Studie ist auf grossen Anklang gestossen – jedenfalls hatten wir keine Probleme, genügend Teilnehmende zu finden. Das hat mich positiv überrascht.
Über Fäkaltransplantation wurden ängstliche Mäuse mit Stuhl von mutigen Mäusen auch zu mutigen Mäusen…
Absolut verblüffend. Aber natürlich kann man dies beim Menschen nicht gleich anwenden wie bei Mäusen. Die Versuche wurden mit keimfreien Mäusen gemacht, deren Darm wurde also zuerst klinisch rein gemacht. Beim Menschen wird die Fäkaltransplantation beispielsweise in der Infektiologie angewendet. Aber der Effekt daraus verpufft sehr schnell. Man muss sich das wie eine Natur mit Bienen aber ohne Pflanzen vorstellen. Die Bienen machen es nicht lange. Das mag Sinn machen bei schwerkranken Patient_innen, wenn man die Behandlung regelmässig machen kann. Als simple Darmgesundung ist es noch viel zu kompliziert. Da hat man bessere Chancen, eine Veränderung über die Ernährung zu erwirken.
Die gesunde Ernährung.
Natürlich. Wobei: Wer jahrelang nur Hamburger und Pommes gegessen hat, der kann nicht von heute auf morgen einen Haufen Gemüse verdrücken. Da streikt der Darm auch. Am besten wäre es natürlich, ein Leben lang gesund zu essen.
Ein Kampf zwischen Kopf und Hirn?
In der Tat. Unser Hirnbelohnungssystem steht auf Zucker. Und die Industrie hat dies auch gemerkt. Und schmuggelt überall, wo irgend möglich, noch etwas mehr Zucker rein.
Kann man sich die Sucht nach Zucker – nach dieser Belohnung – auch abgewöhnen?
Fakt ist: Essen war immer etwas Anstrengendes. Und die Industrie bietet nun Nahrung, die nicht anstrengend ist. Das finden vor allem Kinder super, aber auch Erwachsene greifen gerne zu unkompliziertem Essen. Daraus resultiert dann die Schlussfolgerung: Gutes Essen bedeutet, dass ich meine Verdauung nicht bemerke.
Wie isst man den richtig für Psyche und Darm.
Ausgewogen und regelmässig. Viele Leute pflegen ein sehr chaotisches Essverhalten. Nichts bis um 11 Uhr vormittags und dann vielleicht mal eine Packung Keckse. Da gibt es viel Potential. Das Problem ist, dass jene Personen, die sich damit befassen, häufig eh schon vernünftig essen.
Wie akzeptiert ist das Darmhirn unter Neurolog_innen und Hirnforschenden?
Die Neurolog_innen sind ja die Pionier_innen auf diesem Gebiet. Während meines Medizinstudiums wurde mir schon gesagt, dass Parkinson auch im Darm-Nervensystem auftritt. Unterdessen gibt es Studien, die darauf hinweisen, dass die Krankheit sogar zuerst im Darm auftritt und dann erst im Hirn.
In Ihren psychiatrischen Behandlungen haben Sie häufig auch die Ernährung mit einbezogen. Und damit den Darm.
Ich habe lange mit Esstörungen gearbeitet. Entsprechend schaue ich auch heute noch meist das Essverhalten mit an. Psychische Erkrankungen sind häufig gekoppelt an ein verändertes Essverhalten. Und eine Regulation beispielsweise der Mahlzeiten kann etwa bei einer Depression positive Auswirkungen zeigen. Unser Körper ist ja voller Uhren. Und gewisse dieser Uhren kann man mit dem Essen wieder richten.
Sie erforschten auch den Zusammenhang zwischen Zucker und Depressionen.
Es war eine kleinere Studie, aber ja, in der Tat lässt sich da ein Zusammenhang sehen. Das typische carbohydrate craving
ist häufig anzutreffen bei depressiven Patient_innen. Andersherum kann ein hoher Zuckerkonsum aber auch zu einer psychischen Verstimmung führen.
Über den Darm können wir gemäss Ihren Aussagen auch unsere Resilienz stärken.
Davon bin ich überzeugt. Regelmässiges und ausgewogenes
Essen macht uns stärker. Widerstandsfähiger in Situation, die uns mehr abverlangen.
Konkret?
Ich kann Ihnen jetzt kein Patentrezept liefern. Aber man hat gesehen, dass etwa Essiggurken eine positive Wirkung haben auf die Darmbakterien. Die Gurken sind ja fermentiert, also mit Bakterien angereichtert. Auch Sauerkraut oder fermentierte Getränke haben diese positive Wirkung.
Trotzdem greift der Mensch eher zu Schokolade als zur Essiggurke wenn es schwierig wird.
Zucker gibt ein Gefühl von Sicherheit. Offenbar war Zucker früher ein Zeichen dafür, dass etwas nicht giftig war.
Sind Hirn und Darm ein Team oder zwei gegnerische Mannschaften?
Es ist eher eine Art Chef-Mitarbeiter-Verhältnis. Das Hirn kann nicht ohne Darm. Spielt aber manchmal auch gerne seine Macht über den Darm aus.
Nebst dem Essen scheinen auch gewisse Tätigkeiten einen positiven Einfluss zu haben auf Darm UND Hirn. So etwa Yoga.
Viele Bereiche der heutigen Gesellschaft schliessen den Darm respektive den Parasympathikus aus. Die ganze Digitalisierung, das Streben nach Leistung, nach Schönheit, intensiver Sport… Und von Zeit zu Zeit macht der Darm dem Hirn klar, dass das so nicht geht. Dann besinnt man sich wieder und geht – beispielsweise – ins Yoga. Ich bin kein Experte dafür, aber ich denke der Wechsel zwischen Entspannung und Anspannung macht es aus. Gewissermassen die Rezeptur einer Yogastunde.
Unser Experte Gregor Hasler ist Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Abteilung für Medizin der Universität Freiburg sowie Chefarzt und Leiter der psychiatrischen Forschungsabteilung des Freiburger Netzwerks für Psychische Gesundheit. Der Neurowissenschaftler befasst sich insbesondere mit der Erforschung von Ursachen und Behandlung depressiver Erkrankungen und Angststörungen mit bildgebenden, psychotherapeutischen und pharmakologischen Methoden.