Forschung & Lehre
Kurz vor dem Abheben
Flugsaurier waren die ersten Flieger nach den Insekten. Nur: Woher kamen sie? Dank neuen Funden und Analysen hat das Rätseln nun ein Ende: Die Lagerpetiden sind die neue Familie der Flugsaurier.
Sie gehören zur Dinosaurier-Ikonographie wie die Vulkane, Urwälder und der Tyrannosaurus Rex: Flugsaurier. Oder wie Sechsjährige völlig mühelos sagen würden: Pterosaurier. Nur: Woher kamen die fliegenden Echsen? Und wie kamen sie auf die Idee, sich in die Luft zu schwingen? Dieser Frage ist eine internationale Forschergruppe mit Freiburger Beteiligung einen wichtigen Schritt nähergekommen. Das Lösungswort heisst «Lagerpetiden».
«Auf den ersten Blick sind Lagerpetiden etwa 70 cm lange Echsen mit relativ langen Hinter- und etwas kürzeren Vorderbeinen», erklärt Serjoscha Evers vom Departement für Geowissenschaften. Anders gesagt: Für Laien deutet zunächst einmal nichts darauf hin, dass sich ausgerechnet aus ihnen die ersten Flugechsen entwickeln sollten. «Das ging auch den ersten Forschern nicht anders. Sie entdeckten nämlich vor allem versteinerte Beckenknochen und Hinterbeine und die erinnerten sie offenbar vor allem an Hasen. So nannten sie die Tiere Lagerpetiden nach λαγώς (lagṓs, Hase) und ἑρπετόν (herpetón, Reptil) – also ungefähr ‹Hasen-Reptilien›.»
In jüngster Zeit sind nun vermehrt Arme und Schädel der Echsen entdeckt worden und diese weisen darauf hin, dass es sich bei den Lagerpetiden um Vorfahren der Pterosaurier handeln muss. «Anders als die meisten anderen Echsen verfügen Flugsaurier über dreispitzige Zähne – genau wie die Lagerpetiden. Das Faszinierendste für mich persönlich ist aber ihr Innenohr.» Evers hat sich bereits in seiner Dissertation ausgiebig mit Innenohren befasst. Damals mit jenen von Schildkröten. «Innenohren», führt der Nachwuchsforscher aus, «verraten uns viel darüber, wie ein Tier lebt und wie es sich bewegt.»
Zeig mir dein Ohr
Grob gesagt gibt es im Innenohr drei Gänge, die in Richtung links-rechts, oben-unten und vor-zurück verlaufen. Sie sind mit Flüssigkeiten gefüllt, die bei Bewegungen des Kopfes ebenfalls hin- und herschwappen. Feine Härchen in den Kanälen registrieren dabei Flussrichtung und -tempo und vermitteln dem Gehirn so ein Bild darüber, was gerade passiert. «Bei Tieren, die sich bloss in zwei Dimensionen bewegen und das eher langsam, sind die Kanäle kürzer», erklärt Evers. «Das Innenohr eines Igels ist also weniger spezialisiert als das eines Totenkopfäffchens oder einer Schwalbe. Bei den Lagerpetiden sind die Innenohren ebenfalls ziemlich weit entwickelt. Das ist ein starkes Indiz dafür, dass sie sehr agile Tiere waren.»
Ein plausibles Szenario geht ungefähr wie folgt: Möglicherweise kletterten die Lagerpetiden auf Bäumen herum, ernährten sich von Früchten und Insekten – und sprangen von Ast zu Ast. «Hier kommt eine weitere Eigenschaft des Innenohrs ins Spiel», so Evers. «Es stabilisiert unsere Augen, wenn wir unseren Kopf oder gar den ganzen Körper bewegen.» Dem Innenohr haben wir es also zu verdanken, dass wir Texte auch dann lesen können, wenn wir ob des Geschriebenen unvermittelt Nicken oder den Kopf schütteln müssen. «Diese Fähigkeit ist besonders wichtig, wenn wir uns schnell in drei Dimensionen bewegen – oder ums einfacher zu sagen: wenn wir springen.»
Was das Bild der springenden Kletterer abrundet, sind die Handkrallen. Diese sind kräftiger und eignen sich besser zum Klettern, Greifen und Halten als bei anderen nahen Verwandten der Dinosaurier. Die Lagerpetiden könnten sich also sehr gut auf Bäumen bewegt haben und von Ast zu Ast gesprungen sein. Und besonders guten Springern gelang es womöglich im Lauf der Jahrmillionen zu gleiten – und besonders guten Gleitern, zu fliegen. So liesse sich die Entwicklung der Flugfähigkeit bei den Flugsauriern zumindest plausibel erklären.
«Ob die Geschichte mit den Bäumen so im Detail stimmt, ist noch unklar», wendet Evers ein. «Sicher ist aber, dass die Lagerpetiden die seit langem gesuchten Vorfahren der Pterosaurier sind.» Sicher ist ausserdem, dass Federn bei der Entwicklung des Fliegens keine Rolle spielten. «Pterosaurier hatten nie Federn; nur filamentartige Haare. Die hatten aber eher einen wärmenden, als einen aerodynamischen Nutzen.»
Interessant ist, was geschah, nachdem die Echsen das Fliegen erlernt hatten: Die Pterosaurier breiteten sich rasend schnell aus. «Sie erschlossen sich ganz unterschiedliche Nischen und differenzierten sich in hunderte verschiedene Arten aus.» Manche davon jagten in der Luft nach Insekten, andere tauchten wie einige heutige Vogelarten nach Fischen, dritte wurden gross wie Giraffen und verfügten über Flügelspannweiten von bis zu 12 Metern.
«Diese Explosion der Arten ist etwas, das wir immer wieder beobachten, wenn eine Spezies eine neue Fähigkeit erlernt. Bei den Vögeln, die systematisch betrachtet zu den Dinosauriern gehören und nach den Flugsauriern als nächste das Fliegen erlernten, geschah dasselbe. Und unter den Säugetieren ist sogar jede fünfte Spezies eine Fledermaus-Art».
Für die Pterosaurier-Forschung bedeutet die Entdeckung des letzten nicht-fliegenden Vorfahren einen Paradigmenwechsel. Dank den Erkenntnissen des internationalen Forscherteams wird sich die Evolution der Flugsaurier künftig deutlich besser verstehen lassen.
Unser Experte Serjoscha Evers hat an der Ludwig-Maximilians-Universität in München einen Bachelor und Master in Geowissenschaften mit Schwerpunkt Paläontologie erworben. Danach promovierte er in Paläontologie an der University of Oxford in England. Zur Zeit forscht Serjoscha Evers am geowissenschaftlichen Department der Uni Fribourg als Postdoktorand.
Alte Verwandte
Der Begriff «Dinosaurier» bedeutet gewaltige oder grässliche Echse. Alle Saurier sind Reptilien, aber sie sind nicht alle gleich eng verwandt. Aber von Anfang an: Wie auch wir Säugetiere gehören die Reptilien zur Gruppe der Landwirbeltiere. Bei den Reptilien sind die genauen Verwandtschaftsverhältnisse der grossen Gruppen noch Gegenstand aktueller Forschung. Die meisten DNA-Studien sind sich eins, dass die Gruppe der Schlangen und Eidechsen sich als erstes abgespalten, bzw. auf einen eigenen Evolutionspfad gemacht haben. Später machten es ihnen die im Wasser lebenden Saurier nach. Dann traten die Vorfahren der Schildkröten ihre eigene Entwicklungsreise an, anschliessend jene der Krokodile. Die Pterosaurier (dt. geflügelte Echsen) entwickelten sich vor rund 220 Millionen Jahren anders als die übrigen an Land lebenden Reptilien, die unter dem Begriff Dinosaurier zusammengefasst werden. Von diesen entwickelten eine als Archaeopteryx bekannte Art ebenfalls die Flugfähigkeit. Und aus dieser entstanden schliesslich die Vögel. Diese gehören biologisch noch immer zur Gruppe der Reptilien und sind die letzten Überlebenden Dinosaurier. Sie haben richtig gelesen: Vögel sind nach den Regeln der Kladistik Dinosaurier – und ihre nächsten noch lebenden Verwandten sind Krokodile.
Die Pterosaurier waren die ersten fliegenden Wirbeltiere. Das erste Fossil, der «Pterodactylos», wurde bereits 1784 entdeckt. Der Name verbindet pterón (Flügel) dáktylos (Finger), eine Referenz darauf, dass das äusserste Glied des Flügels aus einem stark gestreckten Finger besteht. Von diesem spannte sich als «Tragfläche» eine Hautmembran bis zu den Knöcheln. Bis heute wurden über 200 Pterodactlyos-Arten entdeckt; ihre Spannweite reicht von 25 cm bis 12 m. Dass ihre Knochen (wie bei Vögeln) hohl waren, erleichterte ihnen zwar das Fliegen, erschwert den Paläontologinnen und Paläontologen aber die
Arbeit, da die Überreste oft in einem schlechten Zustand sind. Flugsaurier starben wie auch die Dinosaurier – mit Ausnahme der Vögel – vor 66 Millionen Jahren infolge eines Meteoriteneinschlags aus.