Dossier

Wenn das Kind auf den Kopf fällt

Das Kind stürzt mit dem Fahrrad, fällt auf den Kopf. Häufig reichen ein Pflaster und ein wenig Trost, um die Welt wieder in Ordnung zu bringen. In gewissen Fällen aber kann schon ein leichtes Trauma die Sprache des Kindes beeinträchtigen. 

Fahrradunfälle, Sportunfälle, Autounfälle sowie zahlreiche andere Gründe können zu einem Schädel-Hirn–Trauma führen. Auch Kindesmisshandlungen („Shaken Baby Syndrom“) gehören dazu. Die häufigste Ursache bei Kindern unter vier Jahren sind Stürze. Sportunfälle sind die Hauptgründe bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren. Verletzungen, die angeboren oder degenerativ sind oder durch Geburtstraumata verursacht wurden gelten nicht als traumatische Hirnverletzungen. Es handelt sich vielmehr um erworbene Verletzungen des Gehirns mittels einer äusseren physikalischen Kraft. Die Kopfverletzungen können sowohl offen oder geschlossen sein und gehen mit einem verminderten oder veränderten Bewusstsein einher. Sie führen zu Veränderungen im kognitiven oder auch im körperlichen Bereich und können auch Verhaltensfunktionen beeinträchtigen. Die erlittenen Schäden können sowohl vorübergehend oder auch dauerhaft sein. 

Die Rolle der Logopädie

Schädel-Hirn-Traumata hat es schon immer gegeben. Aber erst in den letzten zehn bis zwanzig Jahren ist das Schädel-Hirn-Trauma zu einem grossen Spezialbereich unter Logopädinnen und Logopäden geworden. Die Forschung, die die Gehirnentwicklung von Kindern und die Folgen eines Schädel-Hirn-Traumas untersucht sowie den Bedarf an Therapie entwicklet, ist rasant angestiegen. Logopädinnen und Logopäden spielen eine Schlüsselrolle bei der Früherkennung, Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Schädel-Hirn-Trauma. Sie sind zuständig für die Diagnostik und Therapie von Hör-, Sprech-, und Sprachstörungen sowie von kognitiven Kommunikations- und Schluckstörungen. Es gibt Literatur, die aufzeigt, dass auch Kinder mit leichtem Schädel-Hirn-Trauma – der sogenannten Gehirnerschütterung – Unterschiede in der Sprachfunktion aufweisen verglichen mit Kindern mit normaler Entwicklung.

Hohe Dunkelziffer

Noch ist nicht genau bekannt, wie hoch in der Gruppe von Kindern mit einem Schädel-Hirn-Trauma jeweils der Anteil von Kindern mit einer zentralen Sprachstörung ist. Es gibt Forscherinnen und Forscher, die von einer häufigen Folgeerscheinung ausgehen, während andere die Sprachstörungen als ein seltenes Symptom erwähnen. Genaue Daten dazu fehlen. Selbst zum Schädel-Hirn-Trauma bei Kindern und Jugendlichen liegen im deutschsprachigen Raum keine umfassenden Daten zur Häufigkeit vor. Weltweit variieren die Angaben stark von Land zu Land, wobei die meisten eine Spanne zwischen 47 bis 280 Kindern pro 100‘000 angegeben –Jungen sind zweimal häufiger betroffen als Mädchen. Diese Zahlen sind ein bedeutsames Problem der Gesellschaft. Die Schädel-Hirn-Traumen gelten als “silent epidemic”, da viele Fälle – besonders Fälle mit leichten Schädel-Hirn-Traumen – nicht erkannt werden und daher von der offiziellen Statistik nicht erfasst sind, was wiederum auch nur Vermutungen für das Auftreten von den erworbenen Sprachstörungen im Kindesalter zulässt.

 

© Nadja Baltensweiler
Mögliche Folgen

Das Spektrum an logopädischen Störungsbildern nach Schädel-Hirn-Traumen ist, je nach Lokalisation und Schwere der Hirnschädigung, sehr breit und reicht von Sprech- und Sprachstörungen bis hin zu kognitiven Störungen und Schluckstörungen. Die sprachlichen Defizite ziehen häufig schulische Schwierigkeiten mit sich bzw. manifestieren sich erst bei den Anforderungen in der Schule, wie beim Lesen, Schreiben und Rechnen. Auch pragmatische Sprachstörungen, also der Gebrauch von Sprache, können auftreten. Gerade die pragmatischen Sprachfähigkeiten gelten als besonders anfällig beim Schädel-Hirn-Trauma. Diese sogenannten kognitiven Kommunikationsstörungen sind differentialdiagnostisch von den erworbenen Sprachstörungen zu unterscheiden, wobei es ein Wechselspiel zwischen der Sprachstruktur und deren Anwendung gibt.

Jünger ist nicht besser

Kinder mit schwerer Verletzung, jüngere Kinder, Kinder mit Störungen vor dem Schädel-Hirn-Trauma und Kinder mit benachteiligtem sozioökonomischem Hintergrund tragen das grösste Risiko für einen schlechtes (Langzeit-)Ergebnis. Es ist jedoch nach wie vor ungeklärt, ob das gesamte Ergebnis nach Schädel-Hirn-Traumen bei Kindern besser ausfällt als bei Erwachsenen entsprechend der Plastizitätshypothese oder, im Gegenteil, besser bei Erwachsenen als bei Kindern entsprechend der frühen Vulnerabilitäts-Hypothese. Je jünger ein Kind von einer Hirnverletzung betroffen ist, desto schwieriger kann das spätere Lernen für das Kind werden. Es ist ein Neuromythos, dass jüngere Kinder eine bessere Prognose haben.

Der Rehabilitation wird eine wichtige Rolle bei der Prognose zugeschrieben. Eine Studie der Abteilung Logopädie des Departements für Sonderpädagogik der Universität Freiburg beleuchtet die Therapie bei Kindern mit Sprachstörungen genauer. Zur logopädischen Behandlung von erworbenen zentralen Sprachstörungen bei Kindern gibt es keine speziellen Therapieansätze. Dies steht im Kontrast zu der Fülle an Behandlungsansätzen für Erwachsene mit zentralen Sprachstörungen oder auch zur logopädischen Versorgung von Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen. Mittels einer internationalen Erhebung wird erforscht, wie diese Kinder logopädisch in der Praxis behandelt werden. Die Studie wird gefördert von der ZNS-Hannelore-Kohl-Stiftung und erfolgt in Kooperation mit der Hochschule Hildesheim/Holzminden/Göttingen (HAWK).

Vorbeugen ist besser als heilen

Das Reduzieren von Schädel-Hirn-Traumata kann in erster Linie durch Prävention erzielt werden. So können auch Logopädinnen und Logopäden, die mit Eltern von Kleinkindern in Kontakt stehen, diese daran erinnern, ein sicheres Zuhause für Kleinkinder zu schaffen und beispielwiese beim Tragen von Kleinkindern auf die Umgebung zu achten und so Stürze zu vermeiden. Dies gilt auch für andere Therapeutinnen und Therapeuten sowie für pädagogisches Personal, wie Kindergärtnerinnen und Kindergärtner respektive Lehrerinnen und Lehrer.

Anschnallpflicht im Auto, spezielle Kindersitze, das Tragen von Helmen, Sportsicherheit, Gesetze zu Alkohol am Steuer und Automobildesign sowie die entsprechende Aufklärung der Bevölkerung sind solche Präventivmassnahmen. Trotzdem ist das Schädel-Hirn-Trauma die Hauptursache von Sterblichkeit bei Kindern.

 

Angelika Rother machte 1991 ihr Logopädieexamen an der Lehranstalt für Logopädie der Universität in Erlangen/Nürnberg. Im Anschluss studierte sie an der RWTH Aachen von 1991–1995 Lehr- und Forschungslogopädie mit Studienaufenthalt am Trinity College in Dublin. Sie ist seit 1999 in der Ausbildung von Logopädinnen tätig. Von 2006–2017 baute sie den Bachelorstudiengang „Logopädie“ an der FH Joanneum in Graz auf. Seit 2018 ist sie als Senior Lecturer von der FH Joanneum beurlaubt, um als Diplomassistentin/Doktorandin an der Abteilung Logopädie der Unifr ihre Doktorarbeit zum Thema «Aphasien bei Kindern» zu schreiben.

angelika.rother@unifr.ch