Forschung & Lehre
Leben heisst sterben lernen
Dass wir alt werden ist eine philosophische Selbstverständlichkeit – in der Biologie dagegen ist es ein Forschungsfeld voller offener Fragen und Paradoxe. Der Molekularbiologe Thomas Flatt hat gerade ein neues Studienobjekt gefunden, das helfen könnte, ein paar dieser Fragen zu klären: die Ameise.
Was heisst das eigentlich, ein langes Leben? Mal im grösseren biologischen Kontext betrachtet. Beim Grönlandhai dauert es um die 150 Jahre, bis er überhaupt geschlechtsreif ist, bis zum Tod dann noch ungefähr zwei weitere Jahrhunderte – so genau weiss man das nicht. Was man inzwischen allerdings ziemlich genau weiss: Die Evolution arbeitet nicht unbedingt auf ein möglichst langes Leben hin – einem unter Evolutionsbiologen geläufigen Sprichwort zufolge favorisiert sie eher die Maxime «live fast, die young». In jungen Jahren ein wildes Leben leben – und dabei hoffentlich für zahlreiche Nachkommenschaft sorgen: das ist evolutiv betrachtet häufig die richtige Strategie. Aber weil das ein energieraubender Lebensstil ist, gibt es Abstriche an der Langlebigkeit. «So remember, it’s better to burn out than fade away», schrieb Kurt Cobain. «Exactly», würde die Evolution sagen.
Thomas Flatt untersucht derlei Mechanismen des Alterns aus Sicht der Evolution schon seit Jahren, auf seinem Gebiet ist er einer der Pioniere. Ein Grundmechanismus, dem er nachspürt: Genvarianten, die von Vorteil sind beim Wachstum eines Organismus oder ihm einen Reproduktionsvorteil verschaffen, aber gleichzeitig eine Hypothek bedeuten, wenn der Organismus altert. Flatt hat seine Forschung zu den entsprechenden molekularen Grundlagen bislang vor allem mit Fruchtfliegen durchgeführt, einem der bekanntesten Modellorganismen überhaupt: «Bei Drosophila-Fliegen kennen wir solche Mutationen gut.» Flatt nennt es ein klassisches Ressourcenallokationsproblem: Der Organismus hat die Wahl, eher in Reproduktionserfolg oder in Gesundheit bis ins hohe Alter (oder vielleicht sogar einen ewigen Jungbrunnen?) zu investieren. Die Evolution entscheidet diese Verteilungsfrage ziemlich humorlos: Wir altern, weil der Körper seine Schuldigkeit getan hat. Die Gene sind weitergegeben, es bringt nichts mehr, die Hülle – die Biologen nennen es «Soma» – ewig am Leben zu erhalten. Eine biologische Unvermeidlichkeit, meint Flatt: «Salopp gesagt: Wir altern deshalb, weil wir so lange leben.»
Verrückterweise scheint es sogar so, dass man umso schneller altert, je mehr Erfolg man bei der Fortpflanzung hat. «Phänotypisch sieht man die Kosten der Reproduktion», so sagt es Flatt wissenschaftlich korrekt: Im Schnitt durch die Bevölkerung lässt sich der Zusammenhang nachweisen – älter werden korreliert mit weniger Nachwuchs. Kinder zehren also nicht nur im übertragenen Sinn an den Ressourcen. Aber man muss, wie immer wenn es um biologische «Gesetzmässigkeiten» geht, vorsichtig sein mit Kausalitäten: Man wird nicht automatisch länger leben, wenn man darauf verzichtet, Nachkommen zu zeugen. Die genetischen und molekularen Mechanismen, die hier spielen, sind noch alles andere als klar.
In letzter Zeit ist in dem Zusammenhang eine Art Forschungsoffensive zu beobachten – verschiedene Labors auf der ganzen Welt wollen versuchen, den Zusammenhang von Lebensdauer und Reproduktionserfolg aufzuklären. Von der Euphorie hat sich auch Flatt anstecken lassen, denn es gibt da ein biologisches Rätsel, das die Fachwelt durcheinanderbringt. Es geht um Insektenkolonien und das Live-fast-die-young-Paradigma. Soziale Insekten sind ohnehin spannend, was Alterungsphänomene angeht – allein das Altersspektrum zum Beispiel in einem Ameisenhaufen: Arbeiterinnen leben ein paar Monate, eine Königin aber bis zu 20 Jahre. Und das obwohl man es da eigentlich mit demselben Tier zu tun hat, genetisch gesehen. Das Paradox ist aber nicht das Alter der Königin, sondern ihr Lebensstil: Sie stellt die Live-fast-die-young-Maxime nämlich auf den Kopf: «Im Grunde sind das ja Ei-Legemaschinen, mit einem unglaublichen Output», sagt Flatt. Und trotzdem leben sie ausserordentlich lang. Wie das geht, möchte Flatt mit seiner Gruppe aufzuklären versuchen. Wie schafft es dieser kleine Organismus, die oben beschriebene Verteilungsfrage zu entkoppeln? Und liegt hier womöglich der Schlüssel zu einem Jungbrunnen, aus dem auch wir Menschen einen Schluck nehmen könnten?
Nicht so rasch. Vielleicht ist das Paradox eben gar keins und das Rätsel löst sich auf, wenn man die Perspektive ein wenig verschiebt. Was, wenn man Ameisen gewissermassen als Zellen in einem Superorganismus ansieht, die Kolonie als biologisches Individuum? Genetisch wäre das durchaus plausibel: Ameisenschwestern in einer Kolonie sind zu 75 Prozent miteinander verwandt, viel mehr als bei menschlichen Geschwistern. Also verhalten sie sich zueinander vielleicht – aus evolutionsbiologischer Sicht – eher wie Zellen denn wie individuelle Lebewesen? Betrachtet man es so, sind die krassen Unterschiede bei der Alterung gar nicht mehr so überraschend. Denn die «Unfairness» (wie es Flatt nennt, aus Sicht der Arbeiterin) im Ameisenhaufen hat ihre Entsprechung in unserem Körper: manche Zellen werden geradezu verbraten, damit andere – vor allem in der Keimbahn – potentiell unsterblich sein können. Offenbar hat man es da mit einem biologischen Grundprinzip zu tun: Wenn sich Zellen auszudifferenzieren beginnen, dann zieht es auf der einen Seite Richtung Bewegungsfähigkeit und Energiebeschaffung («Motilität») sowie Reparatur, also Aufrechterhaltung des Soma. Und andererseits Richtung Reproduktion – wieder obige Ressourcenallokation. Langes Leben wird aber nur in der Keimbahn zu finden sein, alle andere Zellen bekommen ein Ablaufdatum – man könnte es auch geplante Obsoleszenz nennen, biologisch. Flatt nennt es die «Evolution der Arbeitsteilung».
Untersuchungen bei Grünalgen machen das Phänomen fassbar. Diese oft einzelligen Organismen zeigen so etwas wie Proto-Mehrzelligkeit: Sie können sich je nach Umweltbedingungen und Art auch zu Zellverbänden zusammenschliessen. Sobald das passiert, zeigt sich, dass sich manche Zellen nur noch ums Reproduktive kümmern, während andere für den «Zellkörper» sorgen. Ob sie dabei ausbrennen (um es mit Cobain zu sagen) ist noch nicht eindeutig erforscht. Flatt nennt es ein ewiges Spannungsfeld, welches die einzelne Zelle «aushalten» müsse, aber offenbar ungern: wenn verschiedene miteinander kooperierende Zellen einen grösseren Organismus bilden wird diese Spannung «abgebaut» und «die Arbeit geteilt». Womit sich dann eben auch der Fluch des Alterns erklärt, das in dem Sinn ganz grundsätzlich zum (mehrzelligen) Leben gehört.
Auch wenn das nun unausweichlich klingt – dass die Alterungsforschung in den letzten Jahren einen solchen Aufschwung erlebt hat, liegt nicht zuletzt in der Hoffnung, vielleicht doch einen molekularen Jungbrunnen zu finden. Könnten wir also alle zu Ameisenköniginnen werden, wenn wir die zugrundeliegenden Mechanismen verstehen und entsprechend auf unsere eigene Biologie einzuwirken lernen? Flatt ist da skeptisch – und hält es für «eine naive Vorstellung, dass man einfach an den molekularen Rädchen drehen kann», um unsere Körper hin zur Langlebigkeit zu optimieren. Natürlich, man könne seinen Lifestyle anpassen, manches ist bekannt: «Genug schlafen, aktiv sein, die Ernährung anpassen.» Aber im Grunde findet es Flatt «auch tröstlich zu wissen, dass unsere Zeit begrenzt ist.» Woraus für ihn der Impetus folgt, diese begrenzte Zeit auch jeden Tag zu nutzen.
Unser Experte Thomas Flatt ist Professor für Evolutionsbiologie und Vizepräsident des Departements für Biologie an der Universität Freiburg. Daneben leitet er die Fribourg Graduate School of Life Sciences (FGLS) und das interuniversitäre Doktoratsprogramm für Ökologie und Evolution (CUSO). Seine Forschungsinteressen liegen vor allem bei den genomischen Grundlagen der Anpassung, der Evolution des Alterns und der Populationsgenetik.